Kuckuck

Prolog 

Berlin, Sommer 2023, an einem frühen Nachmittag in einem kleinen Restaurant.

Zu feiern gab es genug.
Vor vier Wochen den achtzehnten Geburtstag der bildhübschen Enkelin.
Vor zwei Wochen den Führerschein, an dem sie ein Jahr lang fleißig gearbeitet hatte.
Und jetzt also das kleine Elektromobil, das ein Jahr verträumt auf einem Berliner Hinterhof stand und darauf wartete, von der stolzen Führerscheinbesitzerin ein erstes Mal selber gefahren zu werden.

Und schließlich der Opa, der ebenso seit einem Jahr darauf wartete, von seiner geliebten Enkelin so durch den Berliner Verkehr gefahren zu werden, dass er noch in der Lage sein würde, mit der kleinen Familie mittags irgendwo in Ruhe zum Essen und zum Klönen zu kommen.

Der alte, weißhaarige und wie immer gepflegt übergewichtige ältere Herr bestellte das Essen so, dass er selber nur eine Kleinigkeit bekam.
Für den Rest der Familie bestellte er aber die Speisekarte ziemlich geschickt rauf und runter.

Der Plan ging auf.

Alle anderen hatten permanent mit irgendwelchen Tellern und Schüsseln zu kämpfen.
Sie waren höflich erzogen und wussten, dass es unschicklich sein würde, den älteren weißhaarigen Brillenträger mit vollem Mund zu unterbrechen.
Er fängt wie immer am, seine vorbereitete Geschichte von zwei Seiten aus zu erzählen.
Zu diesem etwas besonderen Geburtstag wollte er nicht seine Enkelin zum 24. oder 25. Mal nach Punta Cana in sein dortiges karibisches Überwinterungsdomizil einladen, um dort ihren Geburtstag wie fast jedes Jahr am Strand zu feiern.
Stattdessen wechselte er abrupt das Thema.
Was er dann anfing zu erzählen, war für alle Beteiligten etwas völlig Neues und ließ den Rest der Speisen auf den Tellern in aller Ruhe kalt werden.

Nie wieder

1949, im Mai in Hamburg.
Zerstörung, Armut, Hunger und Kälte.
Der Krieg war seit vier Jahren vorüber.
Die Kinder spielten zwischen den Ruinen der zerbombten Häuser.
Für sie war das Ganze normal.
Der vierjährige und damit älteste Sohn hatte seit vielen Tagen immer wieder Husten, eine leicht erhöhte Körpertemperatur und nächtliches Schwitzen.
Die Großmutter war besorgt und fürchtete dies als Anzeichen einer Krankheit, die sie Schwindsucht nannte.

Die Mutter ging mir dem kleinen Sohn zum Arzt – die Antwort war eindeutig.
Der Kleine hatte TBC – Tuberkulose. Die Röntgenbilder bestätigten dies.
Diese gefährliche Erkrankung ist stark ansteckend und den Eltern wurde geraten, den Sohn für längere Zeit in ein Krankenhaus oder Heim zu bringen.
Am besten in einer Gegend, wo die Luft sauberer und besser sein würde als im flachen, regnerischen, kalten und zerbombten Hamburg.

Hab meinen Wagen – vollgeladen

Einige Tage später wurde der kleine VW-Käfer voll geladen.
Der Sohn hinten mit seinem Spielzeug, um die nächsten zwei Tage dieses kleinen alten Auto so gut wie möglich zu überstehen.
Die Eltern wechselten sich abwechselnd beim Fahren ab, der Beifahrer hatte immer eine alte zerfledderte Landkarte auf den Knien.
Die Autobahnen waren zerbombt und man musste quer durch Deutschland von ganz oben im Norden bis ganz unten im Süden über hunderte von engen, oft kaputten und unübersichtlichen Landstraßen fahren.

Nach zwei Tagen kamen sie in Sankt Blasien im Hochschwarzwald an.
Der Aufenthalt und alles, was damit zusammenhängt, war vorher so gut es ging telefonisch mit diesem Jugendheim abgesprochen.
Der kleine Vierjährige wurde in einen großen Raum geführt, wo sehr viele Betten standen. Immer zwei übereinander, ein Bett unten und ein Bett darüber.

Endlich wieder ein richtiges Bett – der Kleine schlief sofort ein.

Wo bin ich 

Am nächsten Morgen waren seine Eltern nicht mehr da.
Die Heimleitung hatte gesagt, es sei das Beste, wenn das Kind sich sofort an das Heim gewöhnen würde, ohne lange Abschiedsszenen.

Nach dem Frühstück trafen sich alle Kinder vor dem Haus und stellten sich an den Händen fassend in zwei Reihen nebeneinander und hintereinander auf.

Und dann ging es los.
Der Kleine fragte seine Kameraden, was jetzt passieren würde, und sie antworten nur kurz „wandern“.

Er war noch nie irgendwo gewesen, wo auch nur ganz kleine Berge waren.
Hamburg, die Küste der Nordsee und der Ostsee, das war das Gebiet, das er in seinen ersten vier Jahren kennengelernt hatte.
Und Wandern war für ihn nichts weiter, als sich am Horizont die Bäume eines einsamen Bauernhofs zu merken, um dann dorthin zu marschieren.
Vielleicht würde man am Ende einen Lolli oder eine Lakritz-Schnecke als Belohnung bekommen.

Wandern 

Das Wandern in dieser neuen und völlig anderen Gegend zusammen mit den Kindern des Heims war zuerst aufregend.
Man lief immer höher, kam etwas außer Atem an, und wenn man sich umdrehte, sah man den kleinen Ort immer weiter weg da unten im Tal.

Als die Spitze dieses kleinen Berges erreicht war, ging es wieder nach unten.

Aber in dem nächsten Tal hatte er schon ein etwas anderes Gefühl.
Wohin er auch blickte, er war umgeben von großen Bergen, die sich in jeder Richtung ziemlich drohend vor ihm aufbauten.
Als sie in ein drittes Tal ankamen und sich im Grunde genommen nichts geändert hatte, wurde er erst traurig und dann mutlos.

Er hatte keine Worte, um das auszudrücken, was er empfand.
Es wurde täglich gewandert und täglich wuchs in ihm das Gefühl, dass er irgendwie gefangen sei.
Er fing an, diese kleinen Berge und diese Wanderungen zu hassen, soweit ein kleines Kind überhaupt hassen kann.

An einem Sonntag gab es etwas Besonderes.
Sie waren zu einem großen See gewandert, der so ähnlich aussah wie die großen Seen, in denen er im Sommer ab und zu baden konnte, wenn seine Eltern mit ihm und seinen jüngeren Geschwistern mal aus Hamburg herausfuhren.
Aber als er den Kopf etwas hob und nicht mehr nur auf den großen See schaute, da bemerkte er, dass auch dieser See rund herum von großen Bergen und Hügeln umgeben war.
Und eine Badeanstalt, wo Kinder ins Wasser gehen konnten, gab es zwar, aber nicht für die Heimkinder.

Die Frauen, die die Kinder begleiteten, sagten einfach zu den Kindern, dass dies zu gefährlich sei.
Nach vielen Wochen wurde er von seinen Eltern wieder abgeholt.
Die Eltern wussten noch nicht, ob sich der Gesundheitszustand des vierjährigen Kindes durch diesen langen Aufenthalt gebessert hatte.
Die Mutter fragte ihn deshalb vorsorglich und liebevoll, ob er eine schöne Zeit gehabt hatte. Und ob er eventuell auch Lust hat, hier noch einmal wieder herzukommen.

Der Kleine nahm alle Kraft zusammen.
Er traute sich nicht, seiner Mutter bei seiner Antwort in die Augen zu sehen, und blickte mit dem Kopf erst nach unten und danach zur Seite.
Dann sagte er mit der ganzen Kraft seiner 4 Jahre zwei Worte, an die er sich noch heute sehr genau erinnert.

„Nie wieder“

Viele Jahrzehnte später

Inzwischen ist viel Wasser zwischen Elbe und Titisee geflossen.
Der kleine Junge hatte Glück im Leben.
Er lernte die Welt kennen.
Zuerst zehn Jahre in Südamerika zwischen Feuerland und Amazonas.
Dann fünfundzwanzig Jahre in China zwischen Mongolei und Mandschurei und dazwischen noch alle anderen Kontinente.

Seit 20 Jahren lebt er die Hälfte des Jahres am warmen Strand der Karibik in Punta Cana und die andere Hälfte am kalten Strand der Elbe.
Wie jeder Großvater vergöttert er seine Enkelin.
Und als diese vor einigen Wochen achtzehn wurde und gleichzeitig auch ihre Führerscheinprüfung bestand, ließ der Großvater in Gedanken die vielen Stationen seines Lebens Revue passieren.

Und er fand schließlich etwas, was er seit Jahrzehnten verdrängt hatte und wo er dachte, dass es jetzt Zeit sei, diesen kleinen Punkt in seinem Leben noch einmal zu ändern und zu bereinigen.
Er hatte wohl um die hundertsiebzig Länder in seinem Leben kennengelernt – mit all den schönen und manchmal auch nicht ganz so schönen Erlebnissen, die man dabei gewinnt.

Aber er war nie wieder in den Schwarzwald gereist.

Das Gespräch

Er erzählte seiner Enkelin über das, was ihm als vierjährigem Jungen passiert war.
Der Opa und die Enkelin hatten im Laufe der letzten achtzehn Jahre eine sehr tiefe und persönliche Beziehung zueinander aufgebaut.
Wie jede Enkelin verstand sie es ziemlich perfekt, ihren Opa um den Finger zu wickeln, und wie jeder Opa ließ er dies sehr gerne mit sich geschehen.

Und als der Opa jetzt zum Ende seiner kleinen Erzählung eine kleine Pause machte, ahnte wohl nur die Inka-Prinzessin, mit der er inzwischen 52 Jahre verheiratet war, was nun kommen würde.

Auf ein neues

Nach einer leicht misslungenen Kunstpause blicke der freundliche Opa etwas verträumt in den Berliner Sommerhimmel und lud dann seine Enkelin ein, mit ihm und dem Rest der Familie – wer immer es wolle und Zeit hätte – nach über 70 Jahren eine kleine Schwarzwald-Memorial-Reise zu machen.

Und sei es auch nur um festzustellen, dass es die Berge seiner Kindheit noch gibt und dass sie sich aber inzwischen genauso entwickelt haben wie er selber und alle Menschen um ihn herum – alles ist eben etwas älter geworden.

Er würde dann einige Tage mit ihr dort verbringen.
Aber er wollte die lange Strecke von Norddeutschland ganz in den Süden des Landes nicht mit dem Auto fahren, sondern sich in Basel am Flughafen ein Auto mieten, um dann den Schwarzwald gemeinsam zu erkunden.
Die Enkelin hatte lange und intensiv dem Opa zugehört, als er von seinem ganz persönlichen Schwarzwald-Jugenderlebnis erzählte.
Der Großvater hatte sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte angewöhnt, lang, ausschweifend und trotzdem noch einigermaßen interessant mit seinen Gesprächspartnern zu reden.

Sie war das genaue Gegenteil.
Jugendlich, kurz, freundlich und klar.
Und als der Großvater seine Schwarzwaldgeschichte beendet und seine Reiseidee auf den Tisch gelegt hatte, sagte sie nur:

„Prima, so machen wir das. Ich hab dich lieb.“

Zwischenmahlzeit

Je älter der freundlich übergewichtige Großvater wurde, desto mehr ähnelte sein Leben einer guten Speisekarte.
Vorweg der kleine Gruß aus der Küche.
Zwei oder drei kleine und meist recht verführerische Ideen, die der Chefkoch auf einen kleinen Teller kunstvoll drapiert präsentiert.
Und dann zwischen dem kleinen Gruss aus der Küche und dem Hauptgericht der wohl angenehmste Moment.

Die Vorspeise – mit der die schöne Zeit in jedem gepflegten Restaurant eingeläutet wird.
Man ist zur Ruhe gekommen, man ist entspannt und erwartungsvoll.
Eine gute Vorspeise ist der perfekte Übergang von einer Idee hin zu einer Tat.
Man verbringt normalerweise nicht den Rest seines Lebens von morgens bis abends in einem guten Restaurant. Das ist nicht nötig, weil das Prinzip zwischen einer guten Idee und einer erfolgreichen Tat auch an vielen anderen Stellen durchgeführt werden kann.

Recherchen

In unserem Fall fing das kleine weißhaarige Männchen an, sich mit sämtlichen Internetseiten zu beschäftigen, die sich in irgendeiner Form mit dem Thema Schwarzwald beschäftigten.
Das Sammeln dieser Internetseiten funktionierte noch einigermaßen. Bei der Auswertung respektive dem Durchlesen der entsprechenden Texte überkam ihn aber regelmäßig die Vormittags- oder Nachmittags- oder Abendmüdigkeit.
Die Augen wurden schwerer, der Text flimmerte nur noch ein bisschen und der Rest des Schwarzwalds spielte sich ab in dem, was er gerade träumte.

Träume

Leider schmolzen nicht nur seine Tagträume, sondern in kurzer Zeit auch die Anzahl der Mannschaft, mit der er gemeinsam den Schwarzwald bereisen wollte.
Der eine musste arbeiten, der andere studieren, der nächste hatte leichte Panik vor der Hektik einer schnellen Entscheidung, und nach einigen Tagen war der Stamm der Mannschaft, mit der er gerechnet hatte, genauso so reduziert, wie man aus einer Tanne ein Streichholz machen kann.

Zwei

Es blieben zwei Personen übrig.
In jedem deutschen Betrieb wären diese beiden Überlebenden einer rigorosen Verkleinerung der Chef und der Betriebsratsvorsitzende.
Aber selbst das klappte hier nicht so richtig, denn er war als Chef einfach zu alt und die Betriebsratsvorsitzende noch etwas zu jung.
Nun hatte er in seinem recht abwechslungsreichen Leben schon des Öfteren mit ziemlich unvorhergesehenen Situationen zu kämpfen gehabt.
Also kämpfte er sich unverdrossen durch seine Schwarzwald-Computerberichte, aus denen er mit Leichtigkeit schon ein umfangreiches Buch über sämtliche Themen des Schwarzwaldes hätte herausfiltern können.

Geschafft

Endlich war alles geschafft.
Die Flüge vom hohen Norden Deutschlands in die Schweiz waren gebucht. Das Cabrio, das seine Enkelin so gerne fahren wollte, würde am Flughafen bereit stehen.
Eine Unterkunft wurde gefunden – mitten im Schwarzwald, um von dort aus alle Himmelsrichtungen dieses schönen Teil Deutschlands gemeinsam zu erkunden:

Nobody

Es fehlte im Prinzip an nichts – außer vielleicht an der Einsicht, dass der bekannte Spruch „Nobody is perfect“ von unserem etwas in die Jahre gekommenen Reiseleiter vergessen wurde.

Italien

Vor diesem kleinen Ausflug in den Schwarzwald hatte er zusammen mit seiner Pflegerin – die immer noch genauso aussah wie jene Inkaprinzessin, die er vor über fünfzig Jahren in Chile geheiratet hatte – mit dieser perfekten Begleitung eine Vorbereitungszeit gebucht:

Zehn Tage in einem der schönsten Gebiete Norditaliens.
Zehn Tage morgens, mittags, abends Bridge spielen.
Und dazwischen planschen in den berühmten heißen Thermalbädern ihres freundlichen Luxushotels.
So ein Programm kannten die beiden bereits aus früheren Reisen in dieses kleine italienische Paradies.
Wenn ihr leicht fanatischer Pflegefall jetzt nach zweiundfünfzig Jahren gemeinsamen Erlebens und Leidens sich von früh bis spät in der Obhut entweder des Bridgemeisters oder des Bademeisters oder des Restaurantmeisters befand, dann hatte sie endlich Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihr persönlich wichtig war.

Oder, mit anderen Worten, sie konnte sich von so manchem erholen, was ihr Betreuungsfall im Laufe der Zeit seine Spuren hinterließ.
Wenn unser kleiner Opa sich nun also von früh morgens bis spät abends in der Obhut entweder des Bridgemeisters oder des Bademeisters oder des Restaurantchefs befand, hatte sie die nötige Zeit für sich, und das war gut so.

Der Verzicht

Sie hatte nach reiflicher Überlegung auf eine Teilnahme an der Tour durch den Schwarzwald verzichtet, weil es terminlich zu stressig geworden wäre.
An einem späten Nachmittag aus Italien in Hamburg am Flughafen anzukommen und am nächsten Morgen in aller Frühe wieder in die Schweiz zu fliegen, um dann in den Schwarzwald zu reisen – diese ziemlich ungenießbare Terminsuppe hatte ihr lieber Ehemann gekocht.
Und natürlich – so es seit Jahrzehnten seine Art der Fürsorge war, ohne ihr vorher ein Sterbenswörtchen zu erzählen.
Und deswegen sollte er dann jetzt diese Suppe mit dem ganzen Termin „Tohuwabohu“ auch gefälligst selber auslöffeln.

Der Irrtum

Unser Opa war bekannt dafür, dass er sein Leben lang strategisch gedacht, gearbeitet und vorgesorgt hatte.
Er lernte schnell, dass man nur die wichtigsten Entscheidungen selber treffen muss.
Den Rest der ganzen Arbeit erledigten dann immer diejenigen, denen er ein Gefühl geben konnte, dass sie damit etwas Schönes und Verdienstvolles erschaffen.
Für wen war in diesem Fall sekundär.

Sprichwörter

Für jedes, was der Mensch so treibt, gibt es Sprichwörter.
Unser Opa hatte natürlich in seinen jungen Jahren von seinem eigenen Großvater des Öfteren die Belehrung erhalten, dass der Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er zerbricht.
Seinen eigenen Kindern und Enkeln war sowohl der Begriff Krug als auch Brunnen nur noch rudimentär bekannt.
Er wandelte den Spruch zeitgemäß dann dahingehend um, dass man mit seinem Handy nur so lange daddeln kann, bis die Batterie leer ist.

Die Nachricht

Aber jetzt war all seine Strategie, sein Vorrat an lebenserhaltenden Sprüchen und die Zuversicht in seine eigene Fähigkeit in ganz kurzer Zeit durch eine einzige kleine Nachricht vernichtet worden.
Seine Enkelin und angehende Betriebsratsvorsitzende in der Schwarzwald-Ausflugs-AG fragte mit einer kurzen Nachricht, ob er sich zufällig um einen Monat in seinen ganzen Planungen vertan hat.
Zwar sind in Berlin normalerweise die Herbstferien von Ende September bis Anfang Oktober, und damit genau in dem Zeitfenster, wo jetzt durch ihn sämtliche Daten und Buchungen getätigt, bestätigt und bezahlt waren.
Aber in diesem Jahr war es anders.

Und zwar um genau einen Monat.
Die Herbstferien in Berlin waren in diesem Jahr erst Ende Oktober bis Anfang November – also genau einen Monat nach der bereits perfekt organisierten Reise.

Die Wand

Die Wand des Arbeitszimmers, in dem unser Opa seine ganze Vorbereitung minutiös durchgeführt hatte, hat jetzt an der Stelle zwischen Tür und Schreibtisch einen großen Riss, verbunden mit einer ziemlich dicken Delle.
Niemand hat gezählt, wie oft unser Opa nach Erhalt und Prüfung dieser Nachricht aufgesprungen war und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand lief.
Dazu teils leise gezischte und laut gebrüllte Selbstbezichtigungen, die alle mit der Feststellung endeten, dass es so einen Idioten wie ihn nur einmal in der nördlichen Halbkugel gibt.

Auf seinem Schreibtisch war die Telefonnummer eines strengen Schweigeklosters notiert.
Er war sich nur noch nicht ganz sicher, wie viele Monate er in entsprechender Selbstkasteiung dort im nächsten Jahr verbringen würde.
Das Einzige, was man dem verhinderten Schwarzwald-Tour-Organisator in dieser Situation noch anrechnen konnte, war die Tatsache, dass er seiner geliebten Frau und Inkaprinzessin das Ganze ziemlich schnell mitteilte.
Vielleicht war es auch nur die Angst vor den Fragen, wieso er auf seiner Stirn so viele blutende Schrammen und Hautabschürfungen hatte.
Und wieso in seinem Arbeitszimmer zwischen Tür und Schreibtisch in Kopfhöhe ebenso viele Schrammen und Blutspuren zu sehen waren.

Dieser Situation wollte er zuvorkommen.

Zweites Buch

Die Inka – Prinzessin

Als die beiden sich vor über einem halben Jahrhundert in Chile kennen lernten und heirateten, war Chile, das Geburtsland seiner Frau, in einem blutigen Bürgerkrieg.
Der Präsident Allende war gerade in seinem Palast erschossen worden.
In der ganzen Republik war Unruhe, Aufstand und Verzweiflung.

Chile ist bekanntermaßen geographisch ein Extrem.
Über 3.000 km lang und meistens nur weniger als 100 km breit erstreckt sich dieses schöne Land vom tropischen Norden bis fast an die Antarktis.
Also machte man das Beste aus der Situation – und das war in diesem Fall eine kleine Hochzeitsreise in den extremen Süden, wo es nur eine größere Stadt gab.
Diese Stadt war nur mit dem Flugzeug zu erreichen und deswegen gab es dort auch keine bürgerkriegsähnlichen Handlungen.
Es war kalt, es war Winter und fast die ganze Gegend in diesem Südpolargebiet war unter einer hohen Schneedecke verschwunden.

Dass diese beiden auf ihrer recht seltsamen Hochzeitsreise trotzdem noch etwas von dem Land und den Leute ganz unten am südlichen Polarkreiszusehen bekamen, lag daran, das die Einheimischen ein System entwickelt hatten, wie sie ohne Telefon, Telegramme, Briefe und sonstige Kommunikation miteinander reden und leben konnten.

Hacemos camino

Als der weißhaarige Opa sein absolutes Missgeschick seiner Inkaprinzessin erzählte, dachte sie einen Augenblick nach.
Dann hatte sie ihren Entschluss gefasst.
Sie setzte sich, sammelte sich und sagte nur zwei Worte, die in dem äußersten Süden ihres Landes ein fester Begriff für jeden Einwohner waren.

„- Hacemos Camino -“

Tante Mathilde

Argentinien 1966 –

Dass jugendliche und ziemlich schwarze Schaf der Familie wurde auf einstimmigen Beschluss aller Familien-Akademiker gleich nach dem Rausschmiss aus dem Gymnasium auf den nächsten großen Dampfer der Reederei Hamburg-Süd verfrachtet.
Diese Schifffahrtsgesellschaft fuhr mit ihren schneeweißen Frachtern jeden Monat einmal von Hamburg in den Süden Südamerikas.

Ein kleiner Koffer und eine kleine uralte Schreibmaschine – um regelmäßig Lebenszeichen von sich geben zu können – das war die Grundausrüstung, mit der dieser hoffnungsvolle junge Mensch von der Elbe in die Pampa verabschiedet wurde.
Das Schlachthaus in Argentinien, in dem er irgendwas lernen sollte, hatte er nach seiner Ankunft in Buenos Aires nur kurze Zeit mit seiner Anwesenheit beehrt.
Die Niederlassung seiner Hamburger Firma in Buenos Aires wurde geleitet von Tante Mathilda.
Seriös, knochentrocken und mit dem untrüglichen Gespür für jede noch so kleine Schweinerei war Tante Mathilde der Fels in der Brandung – sowohl im ehrwürdigen Büro am Rio de la Plata als auch bei ihr zuhause in ihrem noblen Vorort in dieser Sehnsuchtsstadt aller Tangotänzer.

Tante Mathilde kannte den Jungen aus Hamburg bereits nach wenigen Wochen besser als die meisten Lehrer und sonstigen Erzieher, die sich bis dahin mit ihm rumgequält hatten.
Und so beschloss sie, ihn so schnell wie möglich – und dabei südamerikanisch elegant und unauffällig – aus ihrem schönen Haus in Buenos Aires zu entfernen.

Sie hatte inzwischen auch mitbekommen, dass das junge dunkelhäutige und fast immer lächelnde Hausmädchen, welches in ihrem Haus in der Küche, im Bad und den großen Kellergewölben arbeitete – dass dieses leicht exotische Hausmädchen den ungebetenen Besucher bereits am ersten Tag seiner Ankunft abends in ihrer sehr kleinen Bude unter dem Dach ganz genüsslich vernascht hatte.

Da Tante Mathilde sich in ihren inzwischen gut sechzig Lebensjahren eine sehr realistische Lebensweise angeeignet hatte, kam sie auch bald zu einem pragmatischen Entschluss.

Feuerland

Argentinien ist ein großes Land.
Besonders im riesigen Süden des Landes – in Patagonien – gab es Tausende von Kilometern, wo seinerzeit so gut wie niemand die Natur störte.
Ganz am Ende lag eine kleine Stadt, sie hieß Rio Gallegos.

Tante Mathilde kannte dort ein Farmer-Ehepaar, bei dem sie jedes Jahr große Mengen von Wolle, Felle, Leder und sonstige Farmer-Erzeugnisse kaufte.
Die wurden ein oder zweimal im Jahr nach Buenos Aires transportiert und von dort aus ging es mit dem nächsten Dampfer nach Hamburg.

Eine kleine Depesche – Telefon ins südliche Pampaland gab es noch nicht – und der junge Hamburger wurde zwei Tage später zum Hauptbahnhof gefahren.
Dort in ein Abteil zweiter Klasse, und dann sollte es irgendwie in den nächsten 30 Stunden Richtung Süden, Richtung Pampa und möglichst noch weiter südlich Richtung Feuerland gehen.
Tante Mathilde hatte aus den wenigen Erzählungen, die der junge Hamburger abends beim Essen von sich gab, gemerkt, dass er so gut wie keine Ahnung von Südamerika hatte.
Vor allem wusste er nicht, dass in der südlichen Halbkugel die Jahreszeiten genau umgekehrt als in Europa sind.
Jetzt war es in Buenos Aires Ende Juli.

Trotzdem noch einigermaßen angenehm warm – aber meteorologisch war es für Argentinien schon tiefster Winter.
Nachdem der Junge dann die nächsten 30 Stunden in den verschiedensten Abteilen der argentinischen Eisenbahngesellschaften verbracht hatte, wurde auch ihm klar, dass er sich wohl irgendwie im Winter befand.
Draußen wurde es immer dunkler.
Dann kam die Kälte.
Dann wurde es sehr kalt.

Schließlich fing es an zu schneien und in kurzer Zeit war die ganze Pampa weiß.
Es war nichts weiter zu sehen als ein paar dunkle Bäume, einige graue Rinderherden und der schwarze Rauch der alten Lokomotive.
Er kam in Rio Gallegos an und wurde abgeholt.

Die Pampa

Seine neuen Gastgeber hatten sich etwas Besonderes ausgedacht: Sie wollten den hohen Besuch aus Buenos Aires respektive aus Europa standesgemäß unterbringen.
Also nicht zu sich nach Hause auf den großen und etwas wilden Bauernhof – sondern in einem kleinen Pensionszimmer in dieser Kreisstadt am Rande der Welt respektive am Ende von Südamerika.
Da saß er nun schon einige Tage.
Etwas zu arbeiten gab es nicht.

Die Felder waren unter Schnee und Eis bedeckt, das Vieh war in den Ställen und Wolle, Leder und sonstige Sachen würden erst in 3-4 Monaten wieder gesammelt und dann wie gewohnt nach Buenos Aires geliefert werden.
Der Junge aus Hamburg ließ sich nicht anmerken, dass er sich in einer Situation befand, die man mit den wenigen spanischen Brocken, die er bisher gelernt hatte, mit Fug und Recht als hilflos bezeichnen kann.
Seine neuen Gastgeber hatten ebenso keine Ahnung, was sie mit diesem leicht problematischen jungen Menschen überhaupt anfangen sollten.

Aber auch am geografischen Ende der Welt sind die Menschen erfindungsreich.
Und so beschloss man, ihn einfach noch weiter durch Argentinien zu schicken.
Das südlichste und unwirklichste Teil von ganz Südamerika lag nur 200 km entfernt – die große, dunkle, kalte und unheimliche Insel Feuerland.

Sie schafften es, sich mit einem ihrer Vorlieferanten in einem kleinen Dorf in Feuerland in Verbindung zu setzen, um zu avisieren, dass dort demnächst hoher Besuch aus Deutschland eintreffen würde.
Und so wurde dem jungen Hamburger eröffnet, dass er demnächst sein kleines Pensionszimmerchen verlassen würde, um auf eine etwas ungewöhnliche und abenteuerliche Art und Weise sein nächstes Ziel zu erreichen.

Der Weihnachtsmann

Am nächsten Morgen wurde er in aller Herrgottsfrühe geweckt.
Nach dem üblichen Pampa-Frühstück, das aus Mate – dem südamerikanischen Tee – heißen Rindfleischstücken und eingelegten Schafshoden bestand, ging es nach draußen.

Auf der kleinen Hauptstraße vor der Pension war zu dieser frühen Stunde niemand zu sehen. Die Straße verschwand unter der hohen Schneedecke, die sich im Laufe der letzten drei Wochen dort gebildet hatte.
Elektrisches Licht gab es nicht, jedenfalls nicht zu dieser sehr frühen Stunde.
Der Pensionsbesitzer stand neben ihm und meinte nur, er solle einfach abwarten.

Und dann glaubte unser Hamburger Jüngling, dass er am Abend zuvor doch wohl etwas zu viel Rotwein zu sich genommen hatte.
Was er sah, erinnerte ihn an all die kitschigen Weihnachtsgeschichten, wo der Weihnachtsmann oder der Nikolaus auf einem großen Schlitten, gezogen von irgendwelchen starken Hirschen mit prachtvollen Geweihen, auf der Kinoleinwand erschien, um unter brüllenden „Joho, Joho“ die Besuchsreise von einem Tannenbaumzimmer zum nächsten zu absolvieren.
Und so ein Weihnachtsschlitten erschien jetzt am Ende der kleinen Hauptstraße.
Begleitet wurde dieser Schlittenweihnachtsmann von einigen zierlichen Tierchen, die oftmals aussahen wie ein Engel mit vier krummen Beinen.

Als der freundliche alte Pensionswirt ihm erklärte, dass es jetzt losgehen würde, wurde der junge Reisende aus Hamburg aus all seinen Kinoträumen abrupt geweckt.
Verstehen konnte er das Ganze aber immer noch nicht.
Um die Ecke gebogen war ein großer Stallwagen, auf dem normalerweise alles transportiert wurde, was auch am Ende der Welt von einem Ort zum anderen gebracht werden musste.

– Holz zum Bauen und für die Zäune.
– Stroh, Hafer und Sonstiges für all die verschiedenen Tiere im Stall.
– Und natürlich auch alle Arten von Tieren, die entweder zum Verkauf auf einen Markt oder ins Schlachthaus gebracht wurden.

Schließlich noch die menschlichen Gruppen, die zu Hochzeiten, Beerdigungen, Scheidungen oder sonstigen Ereignissen von öffentlichem Interesse von A nach B transportiert wurden – all das wurde mit diesen großen, klobigen Holzwagen transportiert.
Die vier großen Räder waren bei diesem Wagen abgeschraubt und lagen im Innenraum des hinten offenen Gefährts.
Statt der Räder hatte man dicke, klobige Schlittenkufen unter den Wagen geschraubt. So breit und lang, dass der Wagen nicht automatisch im Schnee versinken würde.

Gezogen wurde er von sechs Pferden, die in Doppelreihe hintereinander vor dem Wagen angespannt waren.
Zwischen sich nur eine extra lange und dicke Deichsel, mit der die Vorderräder nach links und rechts bewegt werden konnten.
Um diesen verkappten Weihnachtsschlitten in XXL-Format lief eine größere Zahl von Hunden, die sich so schnell bewegten, dass man sie kaum zählen konnte.
Auf dem Bock vorne saßen zwei alte Kutscher, eingehüllt in so vielen Jacken und Decken, wie man sie sonst wohl kaum an einem Menschen vermuten kann.

Auf geht’s

Unser junger Reisender wurde auf die offene hintere Ladefläche geschoben.
Sein kleines Köfferchen und die seit Wochen ungenutzte und total verrostete Schreibmaschine wurden links und rechts von ihm verstaut.

Dann gab es eine undefinierte Anzahl von groben Wolldecken, die über alles gestülpt wurde, was sich im Inneren des offenen Wagens bewegte – und damit war das Procedere abgeschlossen.
Der Weihnachtsschlitten bewegte sich aus der Kleinstadt heraus und fuhr mitten in die schneeweiße Pampa.

Hacer Camino

Die Spanischkenntnisse des jungen Hamburgers waren noch nicht so gut, dass er überhaupt ansatzweise hätte fragen können, was das Ganze bedeutet und wie es jetzt weitergehen würde.
Außerdem hatte er so viele Wolldecken über dem Kopf, dass er sich wohl nicht einmal mit seiner Schreibmaschine hätte verständigen können.

Man fuhr 10 Minuten, dann bremste der ganze Konvoi.
Die Hunde liefen in irgendeine Richtung, die Pferde trabten hinterher und in einer größeren Kurve, deren Berechtigung respektive Existenz niemand erkennen konnte, ging es weiter.

Nach kurzer Zeit wieder ein Stopp.

Die Tiere hielten eine Art Konferenz ab, um sich dann für eine Weiterfahrt in eine etwas andere Richtung zu entscheiden.
Nach einer knappen Stunde sah man einige Bäume und danach auch Hausdächer am Horizont.
Die Tiere änderten wiederum ihre Richtung und 10 Minuten später hatte man das nächste Dorf erreicht.

Das ganze Procedere wiederholte sich im Laufe der nächsten Stunden mehrmals.
Nach 3 Stunden wurden alle Pferde, Hunde und Kutscher ausgetauscht und eine neue Besatzung übernahm den alten Holzwagen.
So schlidderte man dann auf den großen hölzernen Ski-Unterlagen ihrer XXL-Schlitten weiter von Dorf zu Dorf.
Nur mit zeitlich immer größeren Abständen: Es gab immer weniger Dörfer an diesem Ende der Welt.

Gegen Mittag erreichte die Kolonne das letzte Dorf dieser Reise.
Dahinter war nur noch eine große Eisfläche zu sehen.
Das war der Beagle-Kanal, der das argentinische Festland von der großen Insel Feuerland trennte.
Hier wurde halt gemacht.

Das Ende der Welt

Es wurde gut gegessen und getrunken und ziemlich zum Schluss erschien eine andere große Kutsche, ebenfalls mit vielen Pferden und Hunden.
Die Menschen auf und in dieser anderen offenen Kutsche gesellten sich dazu. Und plötzlich hörte unser junger Hanseat hier am Ende der Welt einige deutsche Worte.

Ein Farmer, dessen Familie vor vielen Jahrzehnten nach Patagonien ausgewandert war, hatte gehört, dass heute kurz vor Feuerland ein deutscher Besucher mitten im Winter eintreffen würde.
Er wusste, wie er schnell und sicher dieses entlegene und letzte Dorf kurz vor Feuerland erreichen konnte. Und so wollte er sich die Gelegenheit nicht nehmen lassen, sein Deutsch nach einigen Jahrzehnten wieder etwas aufzufrischen.
Die Begrüßung dieser beiden Deutschen war genauso herzlich und überraschend wie wohl vor hundert Jahren inmitten von Afrika, als die englischen Suchtrupps nach Monaten im tropischen Regenwald den verlorenen Doktor Livingston aufgespürt hatten.

Am Ende des kleinen und fröhlichen Essens wusste der Hamburger dann, was das Ganze bedeutete.
Es wurde in der spanischen Unterhaltung immer wieder die beiden Worte „hacer Camino“ genannt.
Jedenfalls meinte er das herausgehört zu haben.
Auf Deutsch bedeuten die Worte nichts weiter als „den Weg machen“ – und damit war alles gesagt.

Die Tiere

Die Pferde und Hunde hatten seit ihrer Geburt die Strecken zu den umliegenden Dörfern immer wieder durchlaufen.
Sie kannten jeden Meter dieser Wege aus der Erinnerung – in sommerlicher Hitze, bei starken Herbststürmen und winterlich verschneit – alles hatten sie ihr Leben lang erlebt, alles war ihnen vertraut.

Hunde und Pferde haben hundertmal stärkere und ausgeprägte Sinne als Menschen.
Sie können sich Wege und Strecken merken, auch wenn sie so von Schnee bedeckt sind, dass sie mit keinem Auge mehr erkennbar sind.

Diese Eigenschaften der Tiere von Patagonien hatten sich die Farmer seit Generationen zu Nutze gemacht.
Sie brauchten nur einen Wagen vorbereiten, vier oder möglichst sechs Pferde davor spannen, die Hunde freilassen, und sie konnten sicher sein, dass sie so wohlbehalten den nächsten Ort erreichen würden.
Die beiden Worte „hacer Camino“ hat der junge Hamburger seitdem nie wieder vergessen.

Drittes Buch

Die Entscheidung

Aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen ist ein Sprichwort, das so alt ist wie die menschliche Geschichte.
Dass es trotzdem immer wieder zitiert wird, liegt an der Erkenntnis, dass die beiden Begriffe Alter und Fehler zusammengehören.
Nachdem die Inkaprinzessin die Wunden an der oberen Stirn ihres Mannes fachgerecht gesäubert und mit einigen dicken Pflastern überklebt hatte, fing sie an, ihrem Plan weiter zu erklären.
„Du hast dich also in dem Datum um einen Monat geirrt“, stellte sie ziemlich sachlich fest.
„Und vielleicht hast du dich auch in etwas anderem geirrt.“
Wir können das Datum und damit die Reservierungen und alles, was du vorbereitet hast, nicht ändern.
Wir können es natürlich verfallen lassen – aber so wie ich dich kenne, würde dich deine eigene Unaufmerksamkeit noch eine sehr lange Zeit beschäftigen.

Und das alles zu ertragen – dazu habe ich ehrlich gesagt keine große Lust.
Deswegen machen wir Folgendes –
Und jetzt erhob sie sich und ging ganz gegen ihre Gewohnheit beim Überlegen und Formulieren der nächsten Sätze im Zimmer auf und ab.

Die Rede

Die beste aller Inka-Prinzessinnen blieb für einen Augenblick stehen und sah ihren weishaarigen Pflegefall lächelnd an –
Unsere Enkelin ist noch jung und hat sich sehr auf den Schwarzwald gefreut.
Nicht nur, dass sie diese kleine Reise mit ihrem Lieblingsopa durchführen wollte, es ist mit Sicherheit auch ein weiterer Schritt hin zur Selbstständigkeit in ihrem jungen Leben.

– Und diese Selbstständigkeit ist wichtig und wir wollen sie hierin so gut unterstützen, wie wir es vermögen.
– Und wenn es nicht mit ihrem Opa ist, dann eben mit jemand anders, mit dem sie auch gerne reisen würde.

Wer das schlussendlich sein wird, das überlassen wir gefälligst ganz alleine ihr.

Nach einer kleinen Pause fuhr sie dann fort:

Ich persönlich bin bereit, in diesem falsch gelaufenen zeitlichen Missgeschick auf meine wohlverdiente Bequemlichkeit etwas zu verzichten.
Auch wenn wir in einigen Tagen am späten Nachmittag von Italien zurückkommend in Hamburg eintreffen und am nächsten Morgen früh schon wieder vom Flughafen Richtung Schweiz und Schwarzwald weiterreisen, dann mache ich es eben aus Liebe zu meiner Enkelin.

Und damit ist alles gut.

Wir beiden alten Leute werden dann das machen, was wir vor vielen Jahrzehnten in unserer eigenen Jugend erlebt haben – wir konnten erfahren, wie andere für uns einen uns unbekannten Weg einfach frei machten.
in der Art und Weise und mit den Mitteln, die sie zur Verfügung hatten.
Und es hat alles geklappt.

Sowohl im Süden Chiles als auch bei dir im südlichen Patagonien und Feuerland.
Wir haben durch die Fürsorge anderer Menschen seinerzeit für einige Tage einen Weg vorgefunden, den wir selber und alleine kaum gegangen wären.

Es ist alles gut gegangen.
Wir sind wohlbehalten zurückgekommen und denken beide noch mit Freude an die Hilfsbereitschaft und den persönlichen Einsatz jener, die uns seinerzeit den Weg geebnet hatten.
Also machen wir jetzt das Gleiche.

Wir fahren gemeinsam hin zum Schwarzwald und sehen uns die schönen und hoffentlich interessanten Routen und Wege an.
Wir besuchen die Plätze, die es lohnt, besucht zu werden.
Wir prüfen die Unterkunft, wo dann eben einen Monat später unsere Enkelin mit ihrer Begleitung sein wird, und können auf diese Art und Weise all das machen, was uns selber vor vielen Jahrzehnten geholfen hat.
Wir machen den Weg frei – so wie es früher gelernt und erlebt wurde.

„Hacer Camino – den Weg für andere freimachen und vormachen – das ist etwas, von dem ich überzeugt bin, dass es gut ist.“

Umbuchung

Nachdem sie ihre wohl längste zusammenhängende Rede der letzten 20 Jahre zu Ende gebracht hatte, setzte sie sich und sah ihren total verdutzen Ehemann so aus den Augenwinkeln an, dass er es kaum mitbekam.
Dann ging sie zurück an ihren Stammplatz in dem großen Wohnzimmer und ließ ihren Mann und gelegentlichen Pflegefall mit seinen Gedanken allein.

Er buchte am Abend bei der Fluggesellschaft den Namen seiner Begleitung um und verwandelte damit den Sitzplatz neben ihm von seiner Enkelin in den Namen seiner Inkaprinzessin
Jetzt konnten die beiden unbeschwert und mit einer gewissen Vorfreude erst einmal zu ihrer Bridge- und Badereise nach Italien fahren.

Und direkt nach ihrer Rückkehr dann in den Schwarzwald, um dort alles noch einmal in Ruhe und aus einer ganz anderen Perspektive zu erleben.

Sie würde einen Ehemann auf dieser kleinen Reise vorfinden, der seine Grenzen erlebt hat und dadurch zumindest eine gewisse Zeit wohl etwas ruhiger und zurückhaltender sein dürfte:
Und beide gemeinsam können das, was sie dann dort erleben, ihrer Enkelin mit auf den Weg geben.
Auch wenn es nur ein sehr kleiner und kurzer Weg in ein unbekanntes Gebiet am unteren Rand der deutschen Landkarte sein würde – sie würden den Weg für ihre Enkelin vorbereiten.
Sie waren mit sich zufrieden, getreu des alten Mottos „Der Weg ist das Ziel“.

Viertes Buch

Wilhelm Busch 

Der Mensch ist ein Gewohnheitsstier. Dieser Satz ist so banal wie richtig.
Sein alter Klassenlehrer hatte diesen Satz mit einem kleinen, aber treffenden Vergleich erklärt und dabei eine gewisse Anspielung auf die Erklärung der Dampfmaschine in einem der schönsten deutschen Filme – die Feuerzangenbowle – nicht verheimlicht.
Seine Theorie ging ungefähr wie folgt:
Stellen wir uns einfach mal ganz dumm und betrachten den Ehestand.

Was das mit dem Begriff des menschlichen Gewohnheitsstiers zu tun hat, ergibt sich aus dem netten Spruch: Der Ehestand – ein Lauf der Dinge durch den Kauf der Ringe.
Seine Mitmenschen aus ihrer Beharrlichkeit und Bequemlichkeit etwas herauszuführen – das hat kaum jemand besser geschafft als der Dichter und Spötter Wilhelm Busch.
Einen seiner bekanntesten Sprüche hierzu kann sogar heute noch ein Großteil der jungen Leute vollenden, wenn sie den ersten Teil hören.

Machen wir also hier kurz den Test – vervollständige das folgende Zitat und du wirst umgehend in den Club der Besserwisser aufgenommen:
Erstens kommt es anders – und …????

Und damit haben wir das Thema und die Fortsetzung dieser Geschichte erreicht.

Die Reise

– Gestern Nachmittag die angenehme Wärme Norditaliens.
– Gestern Abend die unangenehme Kühle des Hamburger Umlandes.
– Heute Morgen in aller Herrgottsfrühe der noch unangenehmere Nieselregen am Hamburger Flughafen.
– Die blauen Lüfte des Schweizer Rheintals am Mittag auf dem Flughafen in Basel.
Und jetzt in einem schönen großen und bequemen Cabrio auf der Fahrt durch die ersten kleinen Berge hin zum Hochschwarzwald.

Dieses Kontrastprogramm machte sogar seiner geliebten Inkaprinzessin Spaß.
Sie hatte sich nie mit dem Thema Schwarzwald beschäftigt und überhaupt keine Vorstellung, was da jetzt auf sie zukommen würde.
Immer dunklere Wälder, immer sanft höher gehende Straßen über kleine Bäche und durch ziemlich verschlafene Ortschaften – das war für die beiden richtig schönes Kino.

Das Alter 

Irgendwann waren sie in der Nähe der höchsten Erhebung des gesamten Schwarzwalds angekommen.
Dort hatten sie in einem kleinen Ort für die paar Tage eine Wohnung gemietet, und als sie ankamen, blickte eine freundliche Vermieterin ziemlich verdutzt auf die beiden, die da mit ihren kleinen Koffern standen und warteten, dass die Haustür geöffnet wird.

Sie guckte auf ihn und sah das angekündigte kleine weißhaarige Männchen.
Dann guckte sie auf seine Begleitung und fing an ihre Brille zu putzen.
Als ihre Sicht auch nach den zweiten oder dritten Brillenputzen nicht klarer und besser wurde, nahm sie sich ein Herz und sagte, dass sie Lehrerin für Mathematik, Chemie und Physik sei, vor kurzem pensioniert wurde und dass sie jetzt insgeheim angefangen hatte zu rechnen.

Ihr war ein älterer Herr mit seiner Enkelin avisiert worden.
Mit einem bewusst neutral gehaltenen Seitenblick sah sie auf die Begleitung unseres Großvaters und meinte nur, dass, wenn sie richtig rechnen würde, der Großvater dieser Enkelin ungefähr 150 Jahre alt sein müsste.
Jetzt gab es zwei Möglichkeiten – entweder man erzählte die gesamte Geschichte, dann wäre der Abend wohl gelaufen, oder man ließ sich schnell etwas anderes einfallen.

Er machte eine Entscheidung, blickte kurz auf, sah sie an, nickte beifällig mit dem Kopf und sagte nur „stimmt“.
Von da sprachen die beiden innerhalb der Wohnung und des Hauses nur noch Spanisch miteinander.
Dies war die einzige Möglichkeit, einer grundsätzlichen Diskussion mit der pensionierten Mathematiklehrerin über den Menschen, sein Alter und seine Erscheinung aus dem Weg zu gehen.

Touren

Er packte seinen kleinen Aktenkoffer aus. Schloss das Notebook ans Internet an und sortiert auf dem gesamten restlichen Tisch die Tagestouren, die er detailliert vorher zu Hause ausgerechnet, ausgedruckt und wohlgeordnet vorbereitet hatte.
Der morgige Tag sollte zuerst auf die Spitze des Feldbergs gehen. Von da aus dann zu zwei anderen kleinen Orten, wo es genügend Museen, skurrile Landschaften und sonstige Begebenheiten gab, die man jetzt nach 75 Jahren sich in Ruhe anschauen wollte.

Er hatte sich vorgenommen, alles in Ruhe und nichts überstürzt durchzuführen und sich für jeden Tag drei Highlights ausgesucht.
Doch erstens kommt es anders …

B500

In jedem Internetratgeber über die Highlights des Schwarzwalds steht an erster Stelle, dass man auf jeden Fall alles über die B500 erreichen kann.
Das ist die wirklich sehr berühmte Hochschwarzwaldstraße, von der er gelegentlich schon im Radio etwas gehört hatte, wenn der Wetterbericht von Regen auf Schnee wechselte und die ersten Gefahrenmeldungen über den Äther liefen.

Bei den Vorbereitungen seiner minutiös geplanten Touren war die B500 ebenfalls das Maß aller Dinge.
Sie durchquerte den gesamten Hochschwarzwald und man brauchte an sich nur einige Kilometer auf dieser Schnellstraße zu fahren, um dann irgendwo nach links oder rechts ab.
Dann wieder auf die B500 und nach 20 oder 30 km kamen die nächsten Sehenswürdigkeiten auf dieser wirklich sehr berühmten Strecke.

… Und zweitens, als man denkt.

Geduld

Am zweiten und dritten Tag schafften die beiden mit Mühe und Not zwei der jeweils vorgesehenen drei Tagesbesuchsziele.
Der Grund war genauso einfach wie banal.
Die berühmte B500 bestand aus einem Flickenteppich von roten und gelben Schildern.
Die Roten zeigten an, dass die Straße jetzt zu Ende ist.
Die Gelben machten aufmerksam, dass ab der nächsten Kurve eine Umleitung von 20–30 km zu fahren ist.
Und das letzte rote Schild deutete an, dass die nächste Umleitung kommen würde, wenn man die B500 nach der ersten Umleitung wieder erreicht hatte.

Man hat dann ziemlich genau 8 km Schwarzwaldhochstraße mit Aussicht – und dann kommt die nächste Umleitung – wegen der vielen Berge und tiefen Täler aber diesmal über 40 km.
Insgesamt waren auf dieser wunderschönen Strecke derzeit 9 Baustellen, die meisten davon bereits seit einigen Jahren.
Das war leicht aus dem Internet herauszulesen.

Er las sich abends am Computer die verschiedenen Meldungen über die diversen Störungen, Umleitungen und Straßensperren noch einmal genau durch.
Die ersten Meldungen hierzu waren vier Jahre alt, die meisten ein bis zwei Jahre.
Dann rief er die Internetseite über die längsten Bauverzögerungen der deutschen Nachkriegsgeschichte auf.
Er machte aus dem Führungstrio, bestehend aus dem Berliner Flughafen, der Hamburger Elbphiharmonie und dem Stuttgarter Hauptbahnhof, ein Quartett, indem er einfach noch die B500 in diese kleine Liste einfügte.
Dann ging er beruhigt und zufrieden ins Bett.

Die Großmutter

Am nächsten Morgen rieb er sich verwundert die Augen.
Seine wunderschöne Pflegerin hatte bereits einen genauso wunderschönen Frühstückstisch vorbereitet.
Mit südamerikanischen Früchten, Joghurt, Eiern, Schwarzbrot und allem, was dazu gehört.
Dass jetzt etwas wirklich Wichtiges kommen würde, sah er aus der Tatsache, dass sie sogar auf den großen Haufen Papierservietten verzichtete, der ansonsten bei jedem Frühstückstisch Anlass zu ewigen Diskussionen gab.
Für sie waren diese Papierservietten ein unabdingbarer Teil jeder Art von Dekoration und für ihn etwas, was er nicht ausstehen konnte.

Warum, das hatten die beiden inzwischen vergessen.
Aber zwei Papierservietten irgendwo in der Wohnung reichten aus, um die Stimmung bis mittags der Außentemperatur anzugleichen.

Er konnte sich bei so einem Überraschungsfrühstückstisch auch nicht dahin verkriechen, wo er sonst zuerst einen großen Teil des Vormittags verbrachte – hinter seinem Computer.
Es gab auch keine Zeitung auf oder neben dem Tisch.
Es war einfach nur etwas vorbereitet, von dem er überhaupt nicht wusste, was sich dort entwickeln würde.
Es würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen, wenn man alle Sätze seiner Frau jetzt in kompletter Länge aufschreiben wollte.
Deswegen – und weil man auch nichts auslassen darf von dem, was sie jetzt sagte – eine Kurzfassung, welche die schönste Kurzfassung aller Ansprachen sein soll, die er in den letzten zweiundfünfzig Jahren aufgeschrieben hatte.

Hindernisse

Seine chilenische Pflegerin sah erst ihn an und dann, um sich besser zu konzentrieren, zum Fenster mit Blick auf Wald und Bergen.

Alles, was wir in den letzten Tagen gesehen haben, war wunderschön.
Ich bin beeindruckt und überwältigt von den Bergen hier, von den Wäldern, den Seen und den vielen kleinen Flüssen, den tiefen Tälern und den kleinen Ortschaften, die sich mit ihren langen, gedrungenen Dächern in diese besondere Landschaft einfügen.
So etwas hatte ich nicht erwartet, und dafür ganz herzlichen Dank.
Dadurch, dass die Straße, von der aus man alles an sich gut und schnell erreichen kann – dadurch dass diese Hauptstraße so oft gesperrt ist, musstest du viele Kilometer durch die Landschaft fahren.

Durch kleine und sehr enge Kurven, von hohen Bergen runter bis zum Fluss der engen Täler, wo immer irgendein Bach fließt und wo die vielen alten Sägefabriken stehen.

Dann wieder hoch auf irgendwelche anderen kleinen Straßen, immer mit ganz vielen Kurven und immer mit neuen Ausblicken.
Wir haben das alles genossen, aber wir sind jetzt ja auch im September.
Das Wetter ist noch schön, wir haben bisher nicht einen einzigen Tropfen Regen gehabt und die Blätter sind alle noch an ihren Bäumen.

Du hast als Fahrer bei den extrem vielen Umleitungen auch immer die Möglichkeit gehabt, dich links und rechts umzusehen und die Landschaft und alles, was sich dort befindet, zu genießen.
Insofern war das Ganze jetzt wirklich optimal, und dafür noch mal herzlichen Dank.
Aber wir sollten etwas nicht vergessen.
Wir wollten hier das machen, was wir in Südamerika kennengelernt haben als „HACER CAMINO“ – also den Weg freimachen oder den Weg vorbereiten.
Und zwar für unsere geliebte Enkelin, die jetzt seit einigen Wochen den Führerschein hat und für die du dich so im Datum geirrt hast, dass jetzt beide hier sind.
Das alles ist nicht schlimm – aber was ich jetzt sage, sage ich aus der Besorgnis und mit der Verantwortung einer Großmutter, die ihre Enkelin über alles liebt.

In einem Monat sind in Berlin die Herbstferien.
Dann ist es Ende Oktober.
Wenn unsere Enkelin hierher kommt mit einer Freundin, muss sie mit Sicherheit alleine Auto fahren.
Und zwar die ganze Zeit.
Dann kann das Wetter hier in den Bergen schon ganz anders sein.
Regen, Herbststürme.
Viel Laub, was von den Bäumen fällt.
Die Straßen können nass und glitschig sein.
Als Fahrer muss man doppelt und dreifach aufpassen, besonders wenn man mehr oder weniger den ganzen Tag Umleitung fahren muss.
Ganz kleine Straßen, ganz enge Kurven, und vielleicht dann draußen ein Wetter, das absolute Konzentration für jeden Autofahrer bedeutet.
Niemand weiß, wie in vier Wochen das Wetter sein wird.
Aber jeder weiß, dass der Herbst kommt und dass es hier in einem Gebiet, das über 1000 m hoch liegt, das Wetter sehr schnell sehr schlecht werden kann.
Erinnere dich an Island, wo wir fast jeden Tag einen Wetterumschwung hatten innerhalb einer halben Stunde.
Erinnere dich an Südamerika, wo es im Süden von Chile und von Argentinien innerhalb von Minuten grau, schwarz und schrecklich wurde.

Zusammengefasst:
Ich habe wirklich Angst, wenn wir hier etwas vorbereiten, was von den Umständen her und auch von der Erfahrung her für unsere Enkelin einfach zu viel sein könnte und – da bin ich fast sicher – auch zu viel sein wird.
Ich bitte dich deswegen ganz herzlich zu überlegen, ob es wirklich eine gute Idee ist, jetzt zwei junge Menschen aus Berlin, die noch nie im Gebirge waren und wo erst eine seit kurzem Auto fährt, dieser ganzen Situation auszusetzen.
Ich selber habe die halbe Nacht hin und her überlegt.
Ich weiß, dass du kein Freund bist von Ratschlägen, die nicht von dir selber kommen.
Aber vielleicht machst du jetzt eine Ausnahme aus Liebe zu deiner Enkelin.

Rührei

Dann ging sie in die Küche und schmiss noch einmal drei Eier in die Pfanne, obwohl sie vorher schon Rührei und Spiegelei in beträchtlichen Mengen auf den Frühstückstisch gestellt hatte.
Sie wollte einfach versuchen, dem, was sie soeben gesagt hatte, so viel Gewicht wie möglich zu geben.
Und das ging am besten, wenn sie ihren kleinen weißhaarigen Pflegefall sich selber überließ.

Ja

Nach über fünfzig Jahren ohne größere Scheidungen oder sonstige Konflikte war unser Großvater in der Lage, die Ernsthaftigkeit der Gedanken seiner Frau zu erkennen.
Als sie mit dem neuen Teller und dem Gemisch aus Rühr- und Spiegelei aus der Küche kam und diesen Teller vor ihn platzierte, blickte er nur kurz auf.
Er sah sie an, nickte mit dem Kopf und tat das, was ihm am allerwenigsten lag.

Er begann und beendete eine Antwort mit einem einzigen Wort – „Ja“.

Fünftes Buch

Zurück

Die schönen Tage im Schwarzwald waren vorbei.
Zurück in Hamburg erwartete sie das typische Herbstwetter mit Regen, Sonnenschein, Matsch und Gedränge in den Supermärkten.

Er hatte zwei Tage überlegt, in welcher Form und wann und wie er seiner Enkelin die neue Situation erklären wollte.
– erst die avisierte Schwarzwald-Tour mit der Enkelin.
– Dann die ins Wasser gefallene Tour wegen seiner eigenen Dummheit beim Verwechseln von Kalenderdaten
– dann die Vorbereitungstour seiner Frau.

Er benutze hier die Worte „hacer camino“, seine Enkelin hatte eine 1 in Spanisch.
– und schließlich die Entscheidung, die Bedenken seiner Inkaprinzessin höher zu stellen als ein Ausflug zweier junger Damen aus Berlin in den Hochschwarzwald.

Plan B

Er beschloss, einem seiner Lieblingsschriftsteller das Wort zu überlassen.
Die Gruppe jener Menschen, deren Bücher er immer wieder gerne las, war im Prinzip klein. Aber das, was sie hinterlassen hatten, war gewaltig.

Sie bestand aus Menschen ganz verschiedener Gegenden und Erzählweisen und umfasste an sich nur 6 Namen – Theodor Storm, Kurt Tucholsky, Goethe, Theodor Fontane, Stefan Zweig und Wilhelm Busch.
Und mit dem Zitat von Wilhelm Busch, was in diesem Bericht schon mehrfach erwähnt wurde, baute er seine Erklärung für seine Enkelin zusammen.

Vorher fragte er aber noch nach Namen, Geburtsdatum und Adresse der Freundin, mit welcher seine Enkelin in den Schwarzwald fahren wollte.
Dann setzte sich abends an seinen Computer und fing an zu arbeiten.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass alle Fluggesellschaften ihre Preise immer dann und dort erhöhen, wo gerade Ferienzeiten sind.

Und so war es natürlich auch mit den jetzt in Kürze herannahenden Herbstferien in Berlin und Brandenburg.
Die Fluggesellschaften sind Profis.

Unser Opa aber auch, wenn es ums Buchen von irgendwelchen Weltreisen geht.
2 Stunden später hatte er alles zusammen und ließ sich die Reisebestätigungen und Bordkarten ausdrucken.
Dann stellte er das Ganze als E-Mail zusammen und übersandte den Plan B nach Berlin.
Zweimal Berlin – Punta Cana und zurück.
Jeweils am ersten und letzten Tag der Berliner Herbstferien.
Nicht umsonst nannte man ihn schon während seiner aktiven Zeit den Meister des Plan B.

Die Antwort

Am nächsten Morgen erhielt er die Antwort seiner Enkelin.
Sie war im Prinzip genau so, wie er es erwartet hatte.
Ehrlicherweise muss man hier aber auch sagen, wie er es erhofft hatte.
Der Text aus Berlin war fast so kurz wie seine Antwort, mit der er seiner Frau beim Frühstück im Schwarzwald Recht gegeben hatte.

Die Enkelin schrieb kurz, freundlich und lakonisch
„Ich hab dich lieb.“

Sechstes Buch

Drei

Seine Hose vibrierte.
Er hatte sich in den letzten Jahren mit aller Macht und immer wieder dagegen gestemmt, dass es in seiner Hose an zu vibrieren fing.

Aber es hat nichts genutzt.
Seine zunehmende Schwerhörigkeit und seine Faulheit, sich mit den Einstellungen seines Handys vertraut zu machen, hatten dazu geführt, dass er entweder ein Anruf überhaupt nicht mitbekam, weil er die Lautstärke statt auf Maximum auf Minimum gestellt hatte, oder er hatte das gemacht, was er in solchen Situationen am liebsten machte – er hatte sein Handy einfach zu Hause auf seinem Schreibtisch gelassen.
Das kann man vielleicht in Deutschland eine gewisse Zeit lang durchhalten, in der Karibik geht es nicht. Hier wird alles und jedes mit dem Handy erledigt.

Da seine allgemeinen Kenntnisse über das, was man mit „alles“ im Funktionsbereich eines Handys bezeichnet, genauso so gering waren wie der Sprachschatz eines normalen Dominikaners, wenn er seinen Gegenüber erklärt, dass er im Moment gerade etwas pleite ist und seinen Gegenüber bitte, diesen Zustand zu ändern – aus diesen und vielen anderen Gründen war er wohl in der gesamten schönen dominikanischen Republik als der größte „Handy Vergesser“ bekannt geworden war.
Auf der anderen Seite war er für Einkaufen und das Besorgen von irgendwelchen Sachen für die Wohnung verantwortlich und deswegen tagsüber meistens irgendwo unterwegs.

Die Kontrollmeldungen seiner Inkaprinzessin, er möge bitte nicht vergessen, Milch, Waschpulver, Zahnpasta und Klopapier zu besorgen – diese aufmunternden Mitteilungen kamen sehr oft nicht bei ihm an – sondern auf seinem Handy, das verträumt neben seinem Computer im Wohnzimmer lag.

Dieser ganze Zustand wurde irgendwann allgemein als absolut unbefriedigend deklariert und er wurde von allen Beteiligten und Mitleidenden dazu verurteilt, in Zukunft sein Handy immer in der Hose zu haben.
Und zwar in der Funktion, dass
So wie jetzt.

Er griff in die Tasche, holte das schon recht alte und zerkratzte Mobiltelefon heraus und bevor er auf das Display blickte, schaute er sich erst noch einmal gründlich um.

Er stand genau dort, wo er immer stand, wenn er irgendwelche Menschen am Flughafen abholte.
Am äußersten Ende der Eingangshalle, ziemlich direkt hinter dem Zoll und in einer Position, wo er gut überblicken konnte, wer gerade durch die Zollkontrolle gewunken wurde, um dann einige Augenblicke später an ihm vorbei zu gehen.
Mit dem wie immer fragenden Blick aller Touristen, die zum ersten Mal in Punta Cana ankamen.
Sie mussten sich dann als Erstes mit den ungefähr vierzig unterschiedlichen Hotelabfertigungsschaltern auseinandersetzen, um irgendeinen Bus zu erreichen, der sie in das gebuchte Bett bringen würde.

Diejenigen, die ihren Schalter nicht erkannten oder mit müden Augen daran vorbeiliefen, mussten dann diese und vielleicht noch die nächste Nacht auf dem Flughafen verbringen.

Nachdem es in seiner Hose vibriert hatte und er sich vergewissert hatte, dass seine gesamte Umgebung hier so war wie immer, sah er auf das Display.
„Sind schon am Band – warten auf Koffer.“
Es war die kurze und erlösende Nachricht seiner Enkelin, die zusammen mit ihrer Freundin vor Kurzem hier auf dem Flughafen gelandet war.

Da er nicht mehr wusste, wie man das Vibrieren ausschaltet, steckte er diese blöde Vibrationsmaschine einfach wieder in seine Hosentasche.

Aus den Erfahrungen der vielen Ankünfte seiner Enkelin in den letzten Jahren wusste er, dass die nächste Nachricht irgendwann jetzt kommen würde in der Art „Wir sind beim Zoll“ oder ähnlich.

Als eine weitere halbe Stunde vergangen war ohne eine solche Nachricht, wurde er etwas unruhig und gleichzeitig melancholisch.
Unruhig, weil er wusste, dass er nicht zu seiner Enkelin und ihrer Freundin durchgelassen werden würde, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes eintreten sollte.

Und melancholisch, weil es dann das dritte Mal hintereinander sein würde, dass seine Besucher müde, geknickt und ratlos und ohne ihr Gepäck vor ihm stehen würden.
Das war vor einem dreiviertel Jahr der Fall.
Das war vor einem halben Jahr der Fall.

Und die Chancen, dass es diesmal wieder der Fall sein würde, waren nach einer halben Stunde Wartezeit auf die nächste erlösende Nachricht recht hoch.

Erinnerungen

Das menschliche Gedächtnis ist so gewaltig, dass es sich oftmals automatisch auf das reduziert, was sich gerade abspielt.
In der Küche denkt man ans Essen.
Im Schlafzimmer denkt man an was anderes.
Und im Kinderzimmer versucht man sich daran zu erinnern, wie es einmal vor vielen Jahren in aufgeräumtem Zustand ausgesehen hatte.

Jetzt hier auf dem Flughafen waren die Erinnerungen des kleinen weißhaarigen Männchens plötzlich auf einigen ganz entlegenen Flughäfen dieser Welt, die nichts miteinander zu tun hatten, außer dass sie gemeinsam im Gedächtnis des Großvaters herumschwirrten.

Hongkong

Er hatte als junger Mensch einmal drei Nächte im alten Flughafen von Hongkong verbracht. Es war kurz vor der größten chinesischen Messe in Kanton. Kanton ist nur 80 km von Hongkong entfernt, aber damals war es nur mit kleinen Flugzeugen zu erreichen.

Eine Buchung für diesen letzten Teil einer Chinareise war in Deutschland nicht möglich, und so teilte er sein Schicksal mit sehr vielen anderen Menschen, die aus der ganzen Welt gekommen waren, um im Kanton auf der Messe Präsenz zu zeigen.
Die wenigen freien Tickets wurden morgens zwischen 3:00 und 4:00 Uhr von cleveren Jugendlichen aus Hongkong aufgekauft, die sie dann zum zehnfachen Preis unter jenen Wartenden verkauften, die frühmorgens rechtzeitig im Flughafen auf ihrer Bank aufgewacht waren

Die Anden

Von einem kleinen Flughafen in Argentinien und ganz in der Nähe der Anden wollte er über dieses hohe Gebirge auf die andere Seite nach Chile fliegen.

Das kleine zweimotorige Propellerflugzeug brauchte sehr lange, bis es die nötige Höhe erreicht hatte.
Hinter den beiden Piloten saßen zwei andere ältere Herren, die sorgenvoll nach vorne auf die Instrumententafeln blickten.
Es waren die Fluglehrer, die den ersten Andenflug ihrer Flugschüler beurteilen sollten.
Wenn sie es schaffen würden, auf der anderen Seite irgendwie runterzukommen, hatten sie ihre Lizenz für die nächsten zwölf Monate in der Tasche.

Das Flugzeug selber hatte aber nur die Lizenz, bis zur Höhe der Baumgrenze der Anden zu fliegen – also ungefähr nur bis 3.000 Meter und nicht über die teils 6.000 Meter hohen Anden-Gipfel.

Alles, was über 3.000 Meter lag, lag gleichzeitig auch in den Händen der Flugschüler, der Begleiter und des Gottes der Anden.
Das war früher der Condor, aber seit die kleinen und großen Flugzeuge hier an dieser Stelle über die Anden hin und her flogen, hatten sich diese majestätischen Vögel woanders hin verzogen.
Und ohne den lieben Gott ging es manchmal eben nicht.

Bei einem Absturz einige Jahre davor hatten sich die Besatzung und die wenigen Passagiere gemeinsam aufgefressen.
Das alles ging dem weißhaarigen Männchen durch den Kopf, als er sich an diese Situation erinnerte.

Wechselkurs

In Brasilien gab es in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zehn Jahre lang diverse Militärputsche.
Eine Nebenwirkung war, dass nach jedem Putsch die Währung weiter verfiel, weil alle, die an einem Putsch beteiligt waren, zuerst selber die Millionen an sich rafften.

Im Schnitt war der Kurs zwischen der offiziell ausgerufenen Währung und dem tatsächlichen Kurs – was man zu jener Zeit für einen US-Dollar bezahlen musste – extrem.

Meist war der Schwarzmarkt- und damit der reale Kurs – doppelt so hoch wie der offizielle Kurs.
Die brasilianischen Fluggesellschaften flogen in die anliegenden Länder, zum Beispiel Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien.

Dort mussten sie neu aufgetankt werden, und dann ging es zurück nach Rio oder Sao Paulo.
Ein funktionierendes Finanzsystem für den Kauf von Kerosin gab es nicht.
Oftmals hatten die Flugkapitäne dicke Umschläge dabei, mit denen sie vor Ort am ausländischen Flughafen ihr Flugbenzin bezahlen mussten.
Irgendwann ist dann bei einem Flug, der unser weißhaariges Männchen von Montevideo nach Rio bringen sollte, etwas schief gegangen.

Man hatte bei der Befüllung des entsprechenden Geldumschlags irgendwie die Kurse durcheinander bekommen.
Die Konsequenz war, dass der Kapitän statt einer normalen Tankfüllung nur einen sehr geringen Teil in seine Tankflügel gepumpt bekam.

Ob er das vorher gemerkt hatte oder nicht, ist nie herausgekommen.
Auf jeden Fall war 10 Minuten vor Rio der Sprit fast zu Ende.
Der Flug ging mit einer Turbine weiter.
5 Minuten vor dem Flughafen von Rio fiel diese Turbine mangels Sprit aus. Und so erlebte unser kleiner, weiß heiliger Passagier den wohl einzigen Segelflug seines Lebens.

Die letzten drei oder vier Minuten segelte das Flugzeug in Richtung Flughafen und die dabei entstandene Stille im und außerhalb des Flugzeugs war beeindruckend.

Die Landung klappte irgendwie. Die Südamerikaner sind Meister der Improvisation und die ganze Geschichte blieb dann nur noch im Langzeitgedächtnis unseres hier am Flughafen wartenden Großvaters.

Ingenieur

Zwischen der südlichsten Stadt der Welt – Punta Arenas im Süden Chiles und der Insel Feuerland – liegt der Beagle-Kanal.
Das Wetter dort am Ende der Welt ist meist so schlecht, dass die Fähre, die einmal am Tag hin- und her tuckerte, nicht ablegen konnte.

Dann wird über diese Meeresenge geflogen – es sind meist sowieso nur eine Hand voll Menschen, die von Punta Arenas auf das kleine Dorf mit dem Namen Porvenir auf der anderen Seite des Kanals reisen wollen oder müssen.
Unser Männchen war oft in Punta Arenas und fast ebenso oft in Porvenir, weil es auf Feuerland mehrere Farmen gab, wo er sehr gute Lammfelle und viel Wolle kaufen konnte.

Das Wetter war wieder mal zu schlecht für den Dampfer.
Die sechs Leute, die auf die andere Seite nach Feuerland wollten, versammelten sich um das kleine einmotorige Propellerflugzeug, das auf der Graspiste stand, um über den Kanal zu fliegen.
Auch hier waren vorne zwei Plätze für Pilot und Copilot.

Der Pilot sah auf seine Passagierliste.
Er sah, dass ein Deutscher darunter war und tippte auf den weißhaarigen älteren Herrn.
Dann bat er ihn nach vorne, um auf dem Copilotensitz Platz zu nehmen.

Das Männchen war angenehm gerührt von dieser freundlichen Geste.
Aber das änderte sich schnell, als der Pilot ihn kurz und freundlich anwies, jetzt bitte schnell zu starten.
Das Männchen hatte noch nie in seinem Leben auf einem Pilotensitz in irgendeinem Flugzeug gesessen.
Er versuchte dies dem Piloten klarzumachen – aber der lächelte nur, denn er wusste es besser.

Seine lakonischen Fragen waren: Du bist doch Deutscher, oder?

Antwort – ja.

Also bist du Ingenieur.

Antwort: Manchmal.

Letzte Frage: Wenn du also Deutsch bist und Ingenieur, dann kannst auch fliegen.
Alle Deutschen sind Ingenieure und alle Deutschen können fliegen.
Also stell dich nicht so an, sondern starte die Maschine.
Ich bin für den Notfall ja auch noch da.

Das Männchen sah hinter sich auf die vier oder fünf dort sitzenden Passagiere.
Dahinter war ein Netz gespannt, und hinter diesem Netz waren die wenigen Koffer und Taschen der Passagiere verzurrt, damit sie beim Flug nicht hin und her fliegen.

Das Männchen stand auf, grüßte den Piloten freundlich und ging nach hinten.

Er holte sein kleines Köfferchen hinter dem Netz heraus und sagte noch, dass er seit einiger Zeit Kopfschmerzen hätte. Das sei wohl altersbedingt.

Damit verbunden ist wohl auch eine leichte Gedächtnislücke – und er hätte sich eben mit dem Blick auf seine Armbanduhr überzeugt, dass er nicht heute, sondern erst morgen reisen würde.

Dann stieg er die kleine Treppe aus dem Flugzeug runter und stampfte so schnell wie möglich zu dem einzigen Taxi, das dort stand.

Nebenfluss

Der Sohn des Bürgermeisters in diesem kleinen entlegenen Dorf an einem der Hunderte von Nebenflüssen des Amazonas war klug und ehrgeizig.

Nach Abschluss der Dorfschule fuhr er mit seinem Boot in die Hauptstadt der Provinz, nach Manaus.
Dort ging er weiter zur Schule.
Dann studierte er in Sao Paulo alles, was mit Ingenieuren zu tun hatte.
Seine Sehnsucht war das Fliegen.

In Sao Paulo hatte er Glück und schaffte es, an einem der vielen kleinen Nebenflugplätze seine erste Amateurlizenz für einmotorige kleine Flugzeuge zu machen.
Nach zwei Jahren hatte er das, was ihn am meisten interessierte, eine Art Buschfliegerlizenz. Damit durfte er offiziell innerhalb der vielen kleinen Graspisten in seiner Heimatprovinz mit ein- oder zweimotorischen kleinen Propellermaschinen hin und her fliegen.
Unser kleiner weißhaariger Großvater war zu jener Zeit – es war Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts – am oberen Amazonas sehr aktiv.

Er sammelte das, was seine Kundschaft in Europa gerne haben wollte.
Brachte es irgendwie außer Lande und verdiente damit für seine Firma und für sich selber viel Geld.
Auf eine Art, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist, lernten sich die beiden irgendwo im Amazonasdschungel kennen.
Für unseren Großvater ein Glücksfall, für den jungen Piloten eine Bewährungsprobe.
Er hatte inzwischen in einer Provinzstadt in einem uralten und ziemlich verkommenen Hangar eine alte DC-3 gefunden, die er kaufen wollte, so bald er genügend Geld zusammen hatte.

Die DC-3 ist wohl mit das älteste, aber auch sicherste kleine zweimotorige Propellerflugzeug, das jemals gebaut wurde.
Ein unverwüstlicher Lastesel, um alles irgendwohin zu bringen.

Bevor der junge Pilot sich näher mit den Geschäftsgebaren und den Produkten unseres Großvaters beschäftigte, wurde ein Probeflug verabredet.

Es sollte ca. 300 km von einer kleinen Urwaldstadt hin zu einem größeren Dorf an einem andern Nebenfluss des Amazonas durchgeführt werden.

Der Pilot machte dabei eine Anmerkung, die unser weißhaariges Männchen lange Zeit nicht verstand. Er dachte, sein Portugiesisch sei vielleicht nicht gut genug, um alle Wörter zu verstehen. Der Pilot benutzte hierfür Worte wie Glocke, Huhn, Sicherheit und andere Begriffe, die für unser kleines Männchen nicht viel Sinn ergaben.
Irgendwann ging es dann los.

Es waren insgesamt sechs oder sieben Passagiere in diesem kleinen uralten Propellerflugzeug, und der Pilot sagte gleich am Anfang, dass man ungefähr auf der Hälfte der Strecke eine kleine Zwischenlandung einlegen würde.
Ergab keine Begründung an und niemand fragte weitere Einzelheiten.
Die erste Hälfte des Fluges verlief problemlos, man flog immer unter den großen dunklen Wolken mit Sicht auf den Urwald und den Fluss unter ihnen.

Im Prinzip gab es nichts zu sehen.
Nur sehr viel Grün, unterbrochen von etwas Braunem oder Schwarzem. Das war dann einer der hunderten von Nebenflüssen, die zum Amazonas hin flossen.

Dann kurz vor der Zwischenlandung fragte der Pilot aus dem Cockpit, wer alles Hungers hätte.
Alle freuten sich, dass es vielleicht doch noch irgendwann irgendetwas zu essen geben würde, denn eine Flugbegleitung gab es auf diesem Flug natürlich nicht.

Sieben Arme gingen in die Luft und der Pilot verkündete stolz, dass er der Köchin gesagt hatte: Sie solle jetzt siebenmal das brasilianische Nationalgericht Feijoada vorbereiten.

Dann war am Horizont ein kleiner, heller Streifen zu erkennen, wohl die Graspiste für den Zwischenstopp.
Der Pilot landete problemlos. Die Insassen wurden nach der Landung durchgeschüttelt, wie selten zuvor in ihrem Leben, aber alle kannten diese Art von Landung und jeder blieb ruhig.
Statt irgendwo jetzt stehenzubleiben und den Motor abzustellen, rollte der Pilot jetzt mit seiner kleinen uralten Maschine immer weiter.

Bis ganz zum Ende dieser kleinen Piste und dann noch rechts in ein Urwaldgebiet, was auch gerodet war.
Ganz am Ende des Rechtecks war irgendetwas zu sehen, aber noch nicht genau zu erkennen.
Der Pilot steuerte genau auf diese schwarzen Schatten hin.

Als er fast am Rande des abgeholzten Feldes war, drehte er die Maschine einmal fast um sich selber und rollte dann noch einige Meter in eine andere Richtung.
Da Flugzeuge nicht rückwärts rollen können, musste er alles natürlich von vornherein irgendwie berechnet haben.
Endlich stand die uralte Maschine, und zwar genau neben der Gruppe, die man inzwischen als eine kleine Ansammlung von Menschen erkennen konnte.

Die Passagiere und der Pilot stiegen aus und jetzt sah unser kleiner Mann genau, was da passiert war.
Er sah zwei alte wackelige Holztische, um die jeweils vier oder fünf noch ältere und noch wackeligere Holzstühle gestellt waren.
In jeder Armensiedlung in Rio oder Sao Paulo wäre dies alles schon bereits auf dem Sperrmüll gelandet.

Hier war es eine erfreuliche Begrüßung mitten im Urwald.
Zwei oder drei Frauen standen herum mit Töpfen und kleinen Blechkisten, und jetzt sah unser Protagonist auch, warum der Pilot immer von Huhn und Glocke gesprochen hatte.
In der brütenden Hitze des Amazonas waren Sie mit diesem kleinen Tisch und den wenigen Stühlen genau in einem herrlichen Schatten.

Der Pilot hatte seine Maschine so gesteuert, dass der eine große Flügel komplett den Tisch und die Stühle überdeckte.
Es war der ideale Schatten, etwas, was man nur dankbar erleben kann, wenn man es selbst einmal im tropischen Amazonas-Urwald erlebt hat.
Auf den Einwand unseres kleinen Professors, dass man ja auch den Tisch und die Stühle dorthin bringen könnte, wo das Flugzeug steht und dann unter den Flügeln alles aufbaut – das wischte der Pilot mit einer großzügigen Geste aus der Welt.
Ich bin der Pilot, ich kann fliegen, ich kann rollen und ich kann mit meinem schönen Flugzeug alle meine Passagiere und meine Freunde so transportieren, dass sie von dem Schatten im Flugzeug direkt in den Schatten außerhalb des Flugzeugs gelangen können.

Dann fingen die Frauen an, ihre Blechtöpfe zu öffnen, und das typische brasilianische Nationalgericht, bestehend aus schwarzen Bohnen, Reis und irgendwelchen Fleischstücken, wurde verteilt.
Mitten beim Essen tauchten plötzlich drei oder vier junge Männer auf.
Sie riefen etwas und fingen an, zwei große Blechtonnen in Richtung Flugzeug zu rollen.
Der Pilot hob den Arm, sein Daumen ging in die Luft als Zeichen, dass er damit einverstanden sei und dass sie jetzt anfangen können.

Jetzt zeigte der Pilot, dass er nicht nur Portugiesisch konnte, sondern in Sao Paulo auch etwas Englisch gelernt hatte.

Er begann in dieser fremden Sprache eine kurze Erklärung, damit die andern es nicht verstehen würden.
Der Inhalt war ungefähr wie folgt:
Ich habe hier mein kleines Tanklager.
Wenn ich das bei mir zu Hause hätte oder in der anderen Stadt, wo wir jetzt hinfliegen wollen, besteht die Gefahr, dass schnell alles irgendwie geklaut wird und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Hier aber, in der Mitte von gar nichts, habe ich immer meinen Treibstoff zur Verfügung.
Ich kann zur nächsten Stadt und zurückfliegen, dann hier wieder auftanken und das Gleiche in die andere Richtung fortsetzen.
Hier ist mir noch nie ein Tropfen weggekommen.
Alles halbe Jahr kommt das kleine Frachtschiff aus der Hauptstadt und bringt mir so viele Benzintonnen, wie ich bestellt habe.
Das Ganze wird dann hier im Urwald neben dem Feld gelagert und versteckt und ich kann in aller Ruhe fliegen.
Unser kleines weißhaariges Männchen bedankte sich für die Erklärungen und war sich sicher, dass er mit diesem jungen Piloten noch viel zu tun haben würde.

So kam es dann auch.
Einige Monate später wurden die ersten Transportflüge von Brasilien nach Bolivien mit Endziel Paraguay durchgeführt.
Ab und zu ging es auch zunächst nach Norden in den nördlichen Amazonas und danach nach Surinam über.
Der Inhalt der ganzen Säcke und Ballen, die dann im Auftrage unseres Großvaters hin zu den großen Flughäfen in Paraguay und Suriname geflogen wurden – dieser Inhalt blieb geheim und hat mit dieser Geschichte hier auch nichts zu tun.

Erschöpft

Damit war dann auch der Vorrat von Flughafen- und Flugzeugerinnerungen bei unserem immer noch stoisch wartenden älteren Herrn erschöpft.
Er sah auf die Uhr, es waren jetzt schon weit über anderthalb Stunden vergangen und er war sicher, dass auch bei dieser Ankunft wieder irgendetwas schief gelaufen war.

Siebtes Buch

Paradox

Bevor wir jetzt zum wohlverdienten Ende dieser Geschichte kommen, muss noch ein kleiner Schlenker gemacht werden.
Hierzu kann man entweder sehr komplizierte Vorgänge der Physik heranziehen oder sich mit einem philosophischen Nebenthema beschäftigen.
Da diese beiden Vorgänge im Prinzip überhaupt nichts miteinander zu tun haben, lassen wir die Physik mal draußen und nähern uns unserem Schlussthema auf etwas verständlichere Art.

Es geht kurz gesagt um Folgendes:
Wie kann es sein, dass ich mich ganz normal von A nach B bewege? Wie kann es sein, dass ein Teil von mir in B ankommt, bevor ich selber in B angekommen bin?
Man würde dies zunächst als paradox beschreiben.
Und um eine paradoxe Situation zu verstehen, braucht man nur in alte Philosophenschriften zu blättern.

Kreta

Eines des berühmtesten Paradoxe ist das der Kreter.
Ein kretischer König veranstaltete ein Fest.
Ein Philosoph wurde gebeten, auf diesem Fest ein paar unpassende Worte zu sagen, und unser Philosoph macht es – philosophisch kurz

Ich bin ein Kreter.
Ich kenne meine Landsleute mein Leben lang.
Sie sind freundlich, haben aber eine Eigenschaft, die für ein Volk einzigartig ist.
Das Interesse des Königs und der ganzen Gesellschaft, die an den Tischen saßen, war sofort geweckt.
Diese Einzigartigkeit, fuhr der Philosoph fort, besteht darin, dass bekanntermaßen alle Kreter lügen.
Die Zuhörer sahen sich alle verdutzt an, der König zeigte erste Anzeichen von Unmut.
Wenn wir aber – fuhren der Philosoph fort – davon ausgehen, dass alle Kreter lügen, und ich selber dies als Kreter sage, so lüge ich ja.

Das beifällige Nicken aller Anwesenden bestätigte, dass noch keiner begriffen hatte, worauf der Philosoph hinaus wollte.
Wenn ich also als Kreter sage, dass alle Kreter lügen – und ich bin selber ein Kreter, so ist das, was ich gesagt habe, eine Lüge – und mit dieser Aussage, dass alle Kreter lügen, habe ich also gelogen.
Wenn ich aber gelogen habe, so ist die Wahrheit verständlicherweise genau das Gegenteil:

Er machte noch eine kleine Kunstpause und sah, dass alle irgendwo in die Luft schauten, nur um zu zeigen, dass sie der Ausführung überhaupt nicht mehr folgen konnten.
Wenn ich also sage, wir lügen und dies selber ist eine Lüge, dann muss ich logischerweise ja die Wahrheit gesagt haben.
Und jetzt fängt er mit seinen letzten Satz an – und wenn ich die Wahrheit gesagt habe, mit meinem Satz alle Kreter lügen, dann lügen sie eben alle.

Der König war aufgestanden, um sich mit seinen Ministern zu beraten, was er in dieser Situation machen sollte.
Man beschloss, den Philosophen nicht den Löwen zum Fraß vorzuwerfen und gab ihm ein kleines Goldstück als Anerkennung für seine freundlichen Worte.
Nur der junge Mann, der oftmals in der Begleitung des Philosophen durch die Stadt zog, war bei diesem ganzen Wirrwarr ruhig geblieben.

Er hatte auf seiner schwarzen Tafel mitgeschrieben, was sein Herr und Meister vor der versammelten Gesellschaft gesagt hatte und zuhause fing er an, die Sätze des Kreter in Schönschrift aufzuschreiben.
Durch einen Zufall ist seine Schriftrolle vor einigen Jahrzehnten wieder gefunden worden.
Seitdem ist der Paradoxe der Kreter ein Diskussionspunkt in jedem Erstsemester aller Philosophiestudenten.

Der Großvater

Eine andere aber nicht minder seltsame Theorie entstand im achtzehnten Jahrhundert und ist bekannt unter der Bezeichnung des Großvaterparadoxons.

Angenommen, eine Person reist in die Vergangenheit und trifft einen Großvater.
Sie streiten sich und durch einen unglücklichen Umstand wird der Großvater dabei getötet, noch bevor dieser das entsprechende Elternteil gezeugt hat – was dann in der nächsten Generation wiederum zu dem Menschen wurde, mit dem er sich gerade gestritten hatte.

Wenn man aber seinen eigenen Großvater tötet, dann gibt es keinen Vater und man hat somit keine Chance, selber jemals geboren zu werden.

Und wenn man nicht geboren wird, kann man später auch nicht sein Großvater töten.

Dieses Großvaterparadoxon beschäftigte die Intellektuellen der europäischen Gesellschaft viele Jahrzehnte. Eine Lösung gibt es bis heute nicht.

Und jetzt komme zum dritten und letzten Paradoxon, das dann wiederum zum Abschluss unserer Geschichte führen wird.

Der Alpen-Tunnel

Zwei Wanderer wollen von München über die Alpen nach Venedig wandern. Der eine nimmt den normalen Weg hoch über alle Berge.

Der andere wandert durch einen großen Tunnel, der gerade fertig gestellt wurde.
Es handelt sich aber nicht um einen normalen Tunnel, sondern um den berühmten Zeittunnel.
Man geht rein und in der Mitte des Tunnels kann man sich entscheiden, ob man nach vorne in die Zukunft geht oder zurück in die Vergangenheit.

Sein Wanderkollege, der oben über die Spitzen der Berge stampft, weiß nichts von diesen Problemen, die sein Kamerad unten in dem Zeittunnel hat.
Der Wanderer, in der Mitte des Tunnels angekommen, entschließt sich, nach vorne zu wandern, und wird in diesem Zeittunnel zum italienischen Ausgang geschleudert.

Als er dort angekommen ist, befindet er sich in der Zukunft.
Er muss sieben Tage warten, bis sein Kollege endlich bei ihm ist.
Ist der jetzt sieben Tage älter oder jünger als sein Bergsteiger, Herr Kollege?

Der Schutzengel

Mit dieser Frage verlassen wir die Einleitung zu diesem letzten Buch unserer kleinen Geschichte und wenden uns wieder dem immer noch wartenden Großvater zu, der inzwischen zwei Stunden auf seine Enkelin und ihre Freundin an dieser Stelle im Empfangsgebäude des Flughafens von Punta Cana ausgeharrt hat.

Die Kommunikation per WhatsApp war ebenso spärlich wie erfolglos.
Er durfte nicht zu seiner Enkelin und sie durfte nicht zu ihm.
Aber wie meistens in guten Geschichten haben junge hübsche Damen einen Schutzengel.

Und nach fast 2 Stunden erschienen die beiden Hübschen am Ausgang, dort, wo er gewartet hatte.
Aber sie kamen zusammen mit einem jungen und freundlichen Dominikaner.
Dieser stellte sich zwar nicht als Schutzengel vor, aber er meinte, in seiner Lage den beiden hübschen jungen Frauen helfen zu können.

Umwege

Der Flug der beiden jungen Damen ging von Berlin nach Zürich und dann weiter von Zürich nach Frankfurt.
Er startete verspätet in Berlin und kam entsprechend verspätet in Zürich an.
Die Umsteigezeit war viel zu kurz, um das Gepäck auf das Flugzeug von Zürich nach Frankfurt zu verladen.
Es blieb also in Zürich liegen.

In jedem andern Flughafen der Welt würde das Gepäck dann auch noch so lange liegen, bis etliche E-Mails oder Computernachrichten mit vielen kryptischen Nummern hin und her geschickt worden sind – und nach ein paar Tagen kommt dann vielleicht das Gepäck irgendwie und irgendwann in Punta Cana an.
Aber hier war man in Zürich, und hier war man in der Schweiz.

Die Schweiz

Irgendein Schweizer Mitarbeiter der Luftfahrtgesellschaft sah in Zürich im Computer, dass mehrere Gepäckstücke, die in Berlin über Zürich und Frankfurt nach Punta Cana aufgegeben waren, jetzt in Zürich liegen geblieben waren.
Sie schauten auf den Züricher Flugplan dieses Tages und fanden schnell heraus, dass bereits am Mittag eine Maschine direkt von Zürich nach Punta Cana abfliegen würde.

Kurz entschlossen ordneten sie an, dass das gesamte liegen gebliebene Gepäck der Berlin-Reisenden auf diese Maschine verbracht wird.

Die Schweizer Luftfahrtgesellschaft flog mittags ab nach Punta Cana, voll mit Tristen und mit einigen Gepäckstücken, die keinem der Mitreisenden gehörten.

Der Flieger war dann mit der Zeitverschiebung bereits am gleichen Nachmittag in Punta Cana und es wurden dort eine Anzahl von herrenlosen Gepäckstücken aus der Maschine genommen und irgendwo in den Gepäcksräumen des großen Flughafens verstaut.
Aber es wurde im Zentral-Computer eine Nachricht hinterlegt, wo und wann und wie viel Gepäckstücke dort in diesem entlegenen Gepäckraum eingelagert waren.

Geschafft

– Und der Schutzengel dieser beiden Damen hatte es tatsächlich geschafft, diese Information in seinem Computer zu finden.
Er beruhigte die beiden hoffnungslos übermüdeten und verzweifelten Damen und versprach sein Bestes.
Man ging ohne Gepäck durch den Zoll. Traf kurz darauf den Großvater.
Der Schutzengel sagte nur: Wir machen jetzt einen langen Spaziergang.
Es gibt in Punta Cana zwei Abflughallen, die ziemlich weit voneinander entfernt sind.
In der einen Halle waren vor 2 Stunden die Passagiere aus Frankfurt gelandet, darunter auch unsere beiden hoffnungsvollen Damen.

In dem andern Terminal, ca. 3 km entfernt, war am Nachmittag die Maschine aus der Schweiz gelandet.
Und in diesem weit entfernten Terminal war dort auch irgendwo ein kleiner Raum, wo das Gepäck verstaut wurde, was ohne Besitzer mit geflogen war.

Sie marschierten schweigend die ganze Strecke nebeneinander her.
Der Schutzengel war sich nicht sicher, ob er jetzt zu so später Stunde überhaupt noch jemanden in dem anderen Terminal finden würde, der ihm die Gepäckstücke dann ausliefern konnte.

Deswegen sagte er erst mal lieber gar nichts.
Angekommen in dem anderen Terminal bat er seine Begleitung einfach zu warten.
Er würde irgendwann wiederkommen, und bevor er nicht wiedergekommen ist, sollten Sie sich nicht von der Stelle bewegen.

Nach gut 20 Minuten hörten die wenigen Menschen, die noch zu dieser Zeit in der Halle waren, einen irren Aufschrei.
Unsere beiden Damen und vier andere Passagiere aus Berlin, die das gleiche Schicksal mit ihrem Gepäck hatten, schrien gleichzeitig auf, als sie den Schutzengel mit einer großen Karre um die Ecke kommen sahen.
Fein säuberlich aufgestapelt lagen auf seiner großen Karre sieben oder acht Koffer und Taschen. alles sorgfältig mit irgendwelchen Banderolen beklebt, die diesen Koffer als herrenlose Transitkoffer auswiesen.

Das neue Paradoxem

Das Ganze wird wohl in der Geschichte des Flughafens als Paradoxon der Koffer eingehen.
Man fliegt gemeinsam los und ein Teil von dem, der da am Anfang losgeflogen ist, kommt Stunden vorher an, bevor der Rest des Passagiers überhaupt den Boden des Bestimmungslandes erreicht hat.
Die beiden Damen kamen irgendwann in der Nacht im Apartment des alten weißhaarigen Herrn an. Sie schmissen sich aus Bett und schlief sofort ein.

Aber jeder der beiden hatte ihren ungeöffneten Koffer neben sich ans Bett gestellt und die linke respektive die rechte Hand der beiden waren fest um den Griff ihres eigenen Koffers gekrallt.
Die nächsten zwei Wochen verliefen angenehm, ruhig und ohne Schwarzwald, Kalender, Weg vorbereiten, Koffer suchen warten und sonstige Zwischenfälle.

Es war einfach nur ein schöner, ruhiger und sonniger Urlaub, den die beiden sich redlich verdient hatten.

Epilog

Die E-Mail

Irgendwann während dieser schönen zwei schönen Wochen am karibischen Strand kam man auch auf die Vorbereitungen des Großvaters zu der etwas verunglückten Schwarzwaldreise zu sprechen.
Dabei kramte das kleine weißhaarige Männchen aus seinem vielen Akten einen E-Mail-Ausdruck hervor und meinte nur er, hätte selten beim Lesen einer E-Mail so gelacht.

Das erweckte die Neugier der beiden hübschen und schon schnell braun gewordenen jungen Damen.
Der Großvater erklärte, dass er zur Vorbereitung seiner Schwarzwalderkundigungen sich mit zwei oder drei Tourismusbüros im Schwarzwald in Verbindung gesetzt hatte.

Er wollte Informationen haben, und zwar möglichst detailliert, so wie es seine Art ist.
Und eine der Damen hatte ihm dann auch einige Tage später viel Material zusammengestellt und per E-Mail geschickt.
Den Text ihrer E-Mail begann sie mit einer Anrede, die unseren Großvater so erheiterte, dass er im ersten Anblick vor Lachen nicht weiter lesen konnte.

Es war ganz einfach
Die Tourismusmitarbeiterin hatte sich mit folgendem Satz direkt an den Großvater gewandt:
Kuckuck, lieber Schwarzwaldinteressent.
Natürlich ist die Kuckucksuhr auch eine typisch Schwarzwälder Spezialität, aber eine Anrede mit „Kuckuck“ zu Beginn, das war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert.
Als die beiden Damen dies lasen, fing sie ebenfalls an zu lachen und seitdem begrüßte man in den letzten Tagen ihres Strandurlaubs jeden, der vorbeikam und irgendwie bekannt war oder bekannt werden wollte, mit einem fröhlichen „Kuckuck“.

Verspätung

Der Rückflug von Punta Cana nach Frankfurt hatte aus irgendwelchen Gründen eine extrem lange Verspätung.
Er sollte abends um 20:00 losfliegen und dann am nächsten Morgen in Frankfurt eintreffen.

Das Flugzeug blieb aber bereits 9 Stunden in Frankfurt aus irgendwelchen technischen Gründen stehen.
Der Großvater bekam eine E-Mail, worin stand, dass sich der Abflug von ursprünglich 20:00 Uhr jetzt auf 5:30 am nächsten Morgen verzögern würde, und man bat um Entschuldigung und Verständnis.

Von den 240 Reisenden dieses Fluges waren bestimmt 138 rechtzeitig aus ihren Hotels mit den Bussen zum Flughafen gekarrt worden, meist irgendwann am frühen Nachmittag des Abflugtages

Dann wurden sie über die extreme Verspätung informiert und suchten sich irgendwo in der Abflughalle ein Stück Fußboden, wo sie die Nacht über schlafen wollten.

Unsere beiden Weltreisenden hatten das Glück, dass die Meldung der Verspätung rechtzeitig kam.
Sie ging also abends ganz normal in ihr schönes warmes Bett direkt am Strand und stellte den Wecker auf 3:00 Uhr morgens.

Check-in

Als sie die beiden Hübschen zusammen mit dem Großvater morgens um 4:00 Uhr in der Abfertigungshalle ankamen, lagen dort die Reste aller anderen Mitreisenden irgendwo am Boden verstreut.

Aber hinter dem Check-in-Schalter waren auch zu dieser Zeit noch zwei Mitarbeiter, die die letzten beiden Reisenden für diesen extrem verspäteten Flug abfertigen mussten.

Und plötzlich stieß die Enkelin den Großvater an und sagte: „Sieh mal, unser Schutzengel.“
Und tatsächlich saß vor ihnen auf der andern Seite des Check-in-Schalters der Schutzengel der Ankunft.
Total übermüdet. Er hatte bereits fünfzehn oder mehr Stunden an diesem Schalter gesessen, weil wegen der extremen Verspätung für diesen Flug ein totales Durcheinander entstanden war.

Jetzt fehlten auf dem Computer vor ihm nur noch zwei Gäste für diesen Flug.
Und als die um 4:00 Uhr dann mit ihrem Koffer auftauchten, erkannte er sofort die beiden Damen und dann die beiden Koffer.
Ein freudiges Lächeln breitete sich auf seinem total übermüdeten Gesicht aus.
Die Damen, frisch ausgeschlafen und in bester Stimmung, grüßten ebenfalls und waren wirklich angenehm überrascht, ihren Schutzengel noch einmal kurz vor dem Abflug zu sehen.

Als das gesammte Check-in-Procedere fertig war, wandten sie sich lächelnd an den Schutzengel hinter dem Schalter und zählten insgeheim bis drei.

Dann zwitscherten sie gemeinsam ein ganz lautes und fröhliches „Kuckuck“ zu ihrem Schutzengel rüber.

Der Gute war zuerst erschrocken, merkte dann aber, dass dies irgendetwas Gutes war und lächelte.
Er fragte, was das bedeutet, aber die beiden wiederholten einfach nur ihr fröhliches und lautes „Kuckuck“.
Dann ging sie quer durch die Abflughalle, um auf der anderen Seite Passkontrolle und Ausweiskontrolle vorzunehmen.
Auf dem Weg dahin gab es noch zweimal ein lautes und fröhliches weiteres „Kuckuck“ und beim zweiten Mal antwortete der Schutzengel hinter seinem Schalter ebenfalls laut und deutlich mit einem recht dominikanisch klingenden „CUC-CUC“.

Das Zauberwort

Seitdem begrüßt der Schutzengel jeden fröhlichen Reisenden mit einem neuen Wort, das er gelernt hatte, und das eine Zauberwort zu sein schien, um müde und mürrische Menschen etwas fröhlicher zu machen.

Wenn er jemand eingecheckt hatte und alles war in Ordnung, dann überreichte er die Bordkarten und Ausweise wie immer mit einem freundlichen Lächeln und seinem neuen Zauberwort, dem herzlichen „Kuckuck“.

Zurück zur Übersicht