Die Titanic
Wie war es damals für Dich?
„Die Titanic ist nie untergegangen, verstehst Du?“
Nein, Du verstehst nicht. Wie solltest Du auch
Du bist jetzt seit letzter Woche 14 und ich bald 93.
Und ich bin immer noch Dein Tick-Tack Opa.
Was haben wir gelacht – ich glaube, Du warst noch nicht einmal 3 Jahre alt, als ihr bei uns den kleinen Urlaub machtet und Deine Eltern Dir in den ersten Tagen immer wieder sagten: „Das ist Dein Uropa- sag guten Tag zum Uropa“ – und als die Mutti am nächsten Morgen dann so typisch fragte: „Na, wer ist denn das?“ – da hast Du ganz kurz überlegt, mich angelacht, mit deinem kleinen Kopf genickt und bist dann fröhlich auf mich zugelaufen mit ganz lautem „Guten Morgen, Tick-Tack Opa“.
Aber ich schweife ab.
Ich hatte Dich gestern gefragt, ob Du nicht einmal etwas aus dem großen Schrank da hinten mit zu Dir nehmen möchtest. Du weißt, da, wo die vielen Fotos und Filme und Zettel und Hefte alle so durcheinander in den vielen Haufen in den Regalen liegen.
Deine Antwort war so einfach und ehrlich – Du sagtest einfach „später“.
Ich weiß nicht genau, wie ich Dir das sagen kann, was ich Dir schon so lange sagen möchte.
Wenn niemand fragt, wie es damals war, kann man nicht antworten.
Und einfach ungefragte Antworten zu geben ist schwer und macht oft traurig.
Ich werde es Dir trotzdem sagen. Also noch einmal von Anfang an:
Die Titanic ist nie untergegangen.
Die Eisberge, die Kälte, die Panik und die Lust am Untergang waren völlig unerheblich.
Vor einiger Zeit starb Laura Stanford – sie wurde 97 und war die letzte Überlebende des Dramas aus dem Jahre 1912.
Doch weder Herzversagen noch irgendeine andere Alterskrankheit hatten sie besiegt- es war der Gram vermischt mit Wut und Enttäuschung.
Ihr Leben war bedeutungslos, ihre Person Millionen Dollar wert.
Sie war der Auftakt und der Mittelpunkt des Untergangs dieses Riesenschiffes.
Als lebende Rückblende im teuersten Herz-Schmerz-Epos des Jahrhunderts zu fungieren, der Aufhänger von schönstem Kitsch zu sein und dann im Nachruf doch einzig als das fünfjährige Mädchen dargestellt zu werden, das einmal mit der Titanic reiste – sie hatte mehr verdient für 97 Jahre.
Du merkst, worauf ich so gerne hinaus will.
Rückblenden als Ausgangspunkte, Wendepunkte oder den Beginn einer völlig andersartigen Situation findest Du genug in den Sachen dort hinten im Zimmer. Sie sind genauso alt wie der Schrank selber, nur nicht so klobig.
Ob Urgroßmutter auf der Titanic, gereifter Pennäler in der Feuerzangenbowle oder rothaarige Lola im Dauerlauf – es sind Momente, in denen alles anders wird.
Solche Momente sind immer plötzlich, ganz direkt und ohne jeden Vergleich.
Also nicht meditieren, Sinn suchen oder langsam reinfühlen.
Einfach den Korken auf und Sekt raus – der Korken ist die Erinnerung, der Sekt der kurze Rausch, der Schmerz danach gehört dazu.
Als Du mir letzte Woche erzähltest, dass Du ein Mädchen in deinem Sportclub ganz cool findest und deine Schwester dies mit einem schnippischen „Ja, ja, – verliebt – verlobt – verheiratet“ kommentierte, wurdest Du wütend und ich ganz glücklich.
Endlich hatte ich den Anfang gefunden von all dem, was ich Dir sagen wollte.
„Verliebt verlobt verheiratet“ ist der Anfang, er zeigt nach vorne.
Du kannst eben im ersten Drittel Deines Lebens einfach nur nach vorne laufen, rennen, überholen, da gibt es keinen Platz für irgendeinen Rückzug.
Und ich spiele diesen Spruch jetzt einfach weiter – ohne Lügen, ohne Fragen, einfach so.
Verführt –
Als 12-jähriger wurde ich das erste Mal von einer rassigen Rumänin verführt. Sie war 35, Untermieterin in unserem großen Haus und ob sie aus Rache gegen meinen ziemlich lustlosen Vater mich mit Haut und Haaren auffraß, habe ich nie herausbekommen.
Versteckt –
Solange ich in der Schule noch einen Klassenkameraden fand, der mich gegen Bonbons oder Zigaretten abschreiben ließ, konnte ich in der Klasse mithalten.
Die Klassenarbeiten mit den Ergebnissen 5 und 6 klebte ich jahrelang an die Innenwände unseres Kachelofens.
Im strengen Winter 1959 flogen sie durch die Hitze herunter und ich von der Schule.
Verstorben –
Auf dem Weg zum Konfirmations-Unterricht hörte ich aus dem Radio einer Wohnung in unserer Straße, dass Kennedy erschossen worden war. Das ist bis heute die einzige Erinnerung, die mich mit der Kirche verbindet.
Vertauscht –
Drei Jahre meines Lebens wurden vertauscht. Nach Ende der Lehrzeit wurde ich von meinem Vater gefragt, ob ich den meiner Erinnerung nach damals knapp 3-jährigen Dienst in der Bundeswehr ableisten wolle oder in Südamerika, in den Baracken der Schlachthöfe, den Unterschied zwischen Rinderblut und Schweinepisse zu erlernen bereit war.
Ich entschied mich für das Animalische und als daraufhin unser Hausarzt mir zur Musterung die Röntgenbilder eines kurz zuvor an Lungenkrebs verstorbenen jungen Mannes mitgab, war der Weg in die Pampa frei.
Verliebt –
Über den Tag, an dem ich Nelly kennenlernte, würde ich doch nicht wahrheitsgemäß berichten, deswegen lassen wir das hier.
Verzogen –
Zwei unserer drei Kinder sind falsch erzogen worden. Für einen davon übernehme ich die volle Verantwortung, auch im Wissen, dass dies nie wieder gut zu machen ist.
Verstorben –
Tiefgreifende Trauererlebnisse blieben mir bis jetzt erspart. Sorgen macht mir meine eigene Todessehnsucht.
Verzichtet –
Am Flughafen von Beijing wurden mir vom Zoll bei einer Ausreise 200 Tausend Dollar in bar aus meinem Koffer gefischt, die ich entgegen den chinesischen Gesetzen bei der Einreise nicht deklariert hatte.
Ich konnte wählen zwischen einem längeren Gefängnisaufenthalt oder dem Verzicht auf eine Anzeige gegen die drei Beamten, die mir das Geld abgenommen hatten.
Ich flog zurück nach Hamburg und die drei Beamten leben seitdem mit ihren großen Familien in schönen Neubau-Eigentumswohnungen.
Verzockt –
Die letzten 10 Berufsjahre waren langweilig geworden.
Jedes Jahr für irgendwelche Leute irgendwelche Sachen zu produzieren, die niemand brauchte, hatte seinen Charme verloren.
Der allgemeine Beschiss griff immer weiter um sich, die Kleinen bescheißen die Versicherungen, die Unternehmer das Finanzamt und die Politiker den Staat.
Da ich mein Leben lang mit Geld zu tun hatte, blieb mir als natürliches Feindbild nur die Bank.
Eine Bank zu überfallen ist blöde, eine Bank zu gründen zu aufwendig, also blieb mir nur noch, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Die einzige Schwierigkeit, die ich dabei total unterschätzt hatte, nachdem ich auf meine Art und Weise die Bank um einige Millionen erleichtert hatte, war die Tatsache, diese Damen und Herren davon abzuhalten, mir noch einige weitere Millionen aufzuschwatzen.
Dank meiner leidlich gut vorhandenen Rhetorik ist es mir schließlich gelungen, weiteres Geld dankend zurückzuweisen.
Verschenkt –
Ich habe alles, was ich auf diese Art und Weise erworben hatte, kurz danach verschenkt.
Verloren –
Die Anzahl der Dinge, die ich in meinem Leben verloren habe, ist ungefähr so groß wie die Anzahl der Tage, an denen alles anders wurde.
Verdient –
Ich verdiene die Höchststrafe, was immer das sei.
Ach Quatsch, ich weiß es genau – es ist die Angst, dass Du alles dies vielleicht niemals lesen wirst.
Thewes