[lwptoc]
Der Tag, an dem alles anders wurde
1. Kapitel
High Noon
Albert Einstein war der schlechteste Autor seines Jahrhunderts.
Glücklicherweise war er intelligent genug, dies zu erkennen.
Deswegen schrieb er keinen einzigen Roman.
Seine Erkenntnisse über die Relativität von Raum und Zeit sind reines Gift für jeden gestandenen Erzähler. Wenn ohne festen Zeitbegriff geschrieben wird, wenn miteinander, ineinander, hier und dort und wann und wo zu einem einzigen Durcheinander wird, so ist dies höchstens noch ein Fall für „Zettels Traum“, aber von der letzten wackeren Fangemeinschaft eines Arno Schmidt kann heute kein Verleger mehr überleben.
Der gute Einstein blieb sein Leben lang ein treuer Leser guter Romane mit dem immer in etwa gleichen klassischem Plot: Nimm eine kleine Gruppe Menschen, führe sie zusammen an einen überschaubaren Ort und warte ab, was passiert.
Den Spannungsbogen dann langsam anziehen, den Pfeil reinlegen, Augen zusammenkneifen, und los geht es – wer zuerst getroffen wird, ist dabei völlig uninteressant.
Man beschäftigt sich ein bisschen mit den armen Opfern, lässt deren Anzahl von Kapitel zu Kapitel leicht ansteigen, und wenn es ein wirklich gut geschriebener Roman ist, lenkt man erfolgreich davon ab, dass der Mörder nur der letzte Überlebende sein kann.
Es braucht nicht immer das System der 10 kleinen Negerlein zu sein. Die gute Agathe Christie hat es sogar geschafft, einen wunderschönen Krimi zu schreiben, in dem die Mörderin als Erzähler in der Ich-Form von der ersten bis zur letzten Seite die Leser an der Nase herumführt.
Es kann sich im guten Plot um die klassische Gerichts-Szenerie handeln, wie die 12 Geschworenen langsam, aber immer mehr und intensiver, von ihrer vorgefassten Meinung abgebracht werden – zeitlich zusammengerafft und immer alles in einem einzigen Raum.
Es kann sich um das klassische Film-Thema „Gut gegen Böse„ handeln – um 12 Uhr mittags ist High Noon.
Hauptsache, man schreibt und noch wichtiger, man hat etwa zum Schreiben.
2. Kapitel
Zahlen
Was immer wir lesen, sehen oder hören – aufschlussreich und immer interessant ist hierbei die Anzahl der Akteure.
Es sind immer wieder dieselben Zahlen, die beim Schreiben aller Arten von Geschichten vorkommen und die dem Leser unbewusst schon so vertraut sind: Meist 10 oder 12, manchmal 7 und gelegentlich 3.
Es waren nicht 11 Jünger, sondern einer mehr, die auszogen, die Welt zu verändern.
Es wurden keine 9 kleinen Negerlein vom Diesseits ins Jenseits befördert und ein Gerichtsurteil von 13 Geschworenen unterzeichnet ist auch im heutigen Amerika noch Grund genug für eine Revision.
Schneewittchen wäre wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie nur 6 kleinen Zwergen täglich die Betten und das Essen machen müsste und der Bauer, der seinen Hof bestellt, hätte es wohl doch viel leichter, sein Hab und Gut an 2 statt immer wieder 3 so unterschiedlichen Kindern aufteilen zu müssen.
Bleiben wir noch ein bisschen bei den Zahlen: Auch wir hier in Stellhagen waren 12, die sich am Sonntag, den 9. Juli, abends gegen 6 Uhr in einem schönen, großen lichtdurchfluteten Raum zum ersten Mal zusammenfanden.
Kurz durchgezählt ergab sich: wir waren 10 Frauen und 2 Männer.
Hätte Jesus sich seine Jünger in dieser gleichen Proportion zusammengesucht – der Welt wäre sicherlich viel Leid erspart worden.
Die Quersumme des Datums dieses schönen Tages ergab: 9-7-2006 ist 24.
Mehr Stunden gibt es nicht pro Tag – also ran ans permanente Schaffen, mehr schaffen, die Zahlen lügen nicht.
3. Kapitel
Stellhagen
Wir kamen aus Hamburg.
Von Hamburg nach Stellhagen sind es knapp 90 Kilometer – eine Zeitreise braucht keine längere Entfernung.
Wie Hamburg aussieht, braucht nicht berichtet zu werden.
Wie Stellhagen aussieht, bedarf auch keiner weiteren poetischen Schilderung.
Nimm alle Klischees von Landluft, Abgeschiedenheit, endlosen Feldwegen und eingefallenen Dächern alter Bauernhäuser zusammen und du kannst Stellhagen in deinen aktiven Wortschatz aufnehmen.
Das Wetter war seit Wochen schön, die Fußball-Weltmeisterschaft hatte Deutschland und weite Teile der restliche Welt in den vergangenen 4 Wochen in Atem gehalten und heute Abend sollten noch 2 Dinge passieren: Das Finale der WM und der Beginn unserer Gruppe.
4. Kapitel
Die Gruppe
In einem schönen, hellen Raum der sehr weitläufigen Hotelanlage versammelten sich also 12 Menschen. Alle leicht aufgeregt, ein bisschen skeptisch, erwartungsfroh und fest entschlossen, die nächsten Tage viel zu lernen.
Der Leiter dieses Seminars war eher klein, hager, sportlich und sehr freundlich.
Er war der Profi.
Seine Gestik, seine Körperhaltung und die leise, oftmals durch die schlechte Akustik des großen Raumes sehr schwer zu verstehende Redeweise, strahlte die ruhige Autorität aus, welche für die gut 500 Lebensjahre, die sich in einem Kreis in der Mitte des Saales hinsetzten, auch gut und nötig war.
Man wurde aufgefordert, sich der Reihe nach vorzustellen und in Stichworten über Lebenslauf und Motivation zur Teilnahme an diesem Seminar zu berichten.
Die erste Überraschung war perfekt, als sich herausstellte, dass 5 Teilnehmer aus der Schweiz angereist waren, der Rest kam aus Holland, Chile, Bayern und Deutschland.
Sich selber am Anfang in so einer Situation vorzustellen ist recht schwierig, man will nicht gleich so aus der Deckung, also viel Reden und wenig sagen.
Umso angenehmer war das Zuhören in dieser Runde. Bis auf einige nervöse Momente kam klar rüber, was jeder hier wollte und erwartete.
4. Kapitel
Ich
Und damit kam ich selber in eine immer schwierigere Lage. Die Rolle des leicht burlesken Schreiberlings, in die ich dachte schlüpfen zu können, war ziemlich schnell zerplatzt.
Ich wollte bei diesem Seminar meinen Schreibstil verbessern und ansonsten mich als Beobachter betrachten.
Als alter Lateiner ist mir die Vokabel „inter esse“ so eine Art Leitmotiv – es heißt nichts anderes als „dabei sein“ und alles, was im Deutschen daraus dann wurde – von Interesse über interessant bis hin zur neudeutschen Interaktion, bedarf es immer eines gleichen Ablaufes: Situation, Spannung und Wendung.
Wenn es furchtbar stürmt auf hoher See, wenn das Flugzeug rückwärts fliegt oder sich die Schönen im Edelpuff schlussendlich geschlossen als Transvestiten outen – ohne Spannung und Gegensätze kann, außer Thomas Mann, kein Mensch die Leser fesseln.
Und hier hatte ich nun, um mich herum, eine Gruppe von Menschen, die ausnahmslos völlig unangreifbar waren – sie waren einfach nett.
Die somit noch übrig gebliebenen Schreibmuster für meine privaten Aufzeichnungen kamen nach kurzem Überlegen also alle nicht mehr in Frage.
Sich über den Lehrer zu mokieren ist Blödsinn, weil der Gute einfach gut ist.
Sicher, in seiner Eingangsrede verlor er sich zweimal kurzfristig in leicht esoterische Höhen, aber das reichte höchstens zum Zusatzprädikat eines „Mecklenburger Mystikers“ – eine schöne Wortschöpfung, über die ich selber etwa schmunzeln muss.
Meine liebe Frau herunterzuputzen hab ich 35 Jahre Zeit gehabt, da ist nichts neues mehr zu erwarten.
Und um sich selber einigermaßen gekonnt auf die Schippe zu nehmen, bedarf es einfach eines etwas vertrauteren Publikums.
Es blieb also nur die sehr vage Hoffnung, dass sich das Ganze hier in eine Richtung entwickeln würde, die dem beabsichtigen Chronisten noch zustatten kommen könnte, um vielleicht ein bisschen aus den Nähkästchen von Scherz, Satire und tieferer Bedeutung zu plaudern.
Aber nach dem allgemeinen Vorstellen gab es eben nicht den Befehl, sich alle an die Hände zu fassen und gemeinsam kräftig den Urschrei zu üben.
Es gab stattdessen ein bisschen Lebensweisheit, etwas unaufdringliche Musik, etwas ehrliche Freundlichkeit und für mich die Erkenntnis, dass an diesem Tag für mich alles anders wurde.
Ich hatte etwas nicht geschafft – ohne zu verlieren.
Hut ab, chapeau und Danke.
Thewes