Das Exil
Irgendwie muss man einen Bericht anfangen.
Und da ich nicht die Absicht habe, für meine Familie, meine Freunde, meine Bridge-Partner sowie meine Ärzte und Bankberater jeweils separate Informationen zu schreiben, mache ich es jetzt in Form einer Zusammenfassung, die ich dann per Mail oder WhatsApp verschicken werde.
Meine Frau und ich leben seit über 20 Jahren sowohl in Deutschland als auch in der Dominikanischen Republik.
In der Dom Rep haben wir inzwischen sämtliche dominikanischen Papiere und Dokumente, wir sind dort für die Dominikaner sogenannte „Residenten“.
Das bedeutet auch, dass in ungewöhnlichen und außerordentlichen Fällen die dominikanische Botschaft respektive deren Hamburger Konsulat für uns verantwortlich sind.
Als vor zwei Wochen Präsident Trump von heute auf morgen die Einreise fast aller Europäer in den USA verboten hatte, schloss sich die Regierung der Dom Rep als treuer Vasall der USA dieser Entscheidung sofort an- und damit waren von heute auf morgen mehr als 10.000 europäische Touristen hier in der Dom Rep ohne Rückreisemöglichkeiten.
Jeder hat inzwischen etwas über das Schicksal dieser Touristen gelesen oder gehört.
Zum Beispiel, dass diese inzwischen durch Sonderflüge zurück geholt werden, alles bezahlt von der deutschen Regierung.
Die deutsche Regierung machte einen Vertrag mit der Lufthansa, die gerade dabei war, sich in eine hocheffiziente Parkhaus-Gruppe umzuwandeln.
Lufthansa wiederum machte Unterverträge mit dem Condor, da die Condor aufgrund ihrer derzeitigen immer noch ziemlich ungewissen Situation wesentlich günstiger ist als die Lufthansa mit eigenen Flügen.
Ich hatte mich kurz nach Bekanntwerden der Flugverbote an die dominikanische Botschaft in Deutschland gewandt und gefragt, ob und wenn ja, wie wir als Residenten zurückkommen können in die Dom Rep.
Daraufhin erhielt ich lediglich ein nichtssagendes Formular per E-Mail, wo kurz und bündig zu lesen war, dass zur Zeit keine Flüge in die Dom Rep möglich sind.
Meine Frau und ich hatten nach unserem mehrmonatigen Überwintern in Punta Cana an sich vor, etwa den deutschen Matsch-Winter zu genießen, dann eine Südamerika-Reise per Schiff auf dem Amazonas und zum Ende einen Familien-Besuch in Chile zu machen.
Der Dom Rep war erst wieder in der zweiten Jahreshälfte geplant, in unserem Alter macht man statt eines Fünfjahresplans besser einen Plan für die jeweils nächsten fünf Monate.
Da die Südamerikareise im Laufe der Entwicklung der Corona-Krise zuerst in Teilen und schließlich ganz abgesagt wurde, wollten wir erst einmal für einige Monate in Hamburg bleiben.
Heute vor drei Tagen, am Donnerstag um 11:00 Uhr, erhielt ich einen Anruf des dominikanischen Konsuls.
Er sagte mir, dass meine Frau und ich auf der Liste derjenigen sind, die unter dem Schutz und der Fürsorge der dominikanischen Botschaft zurück in den Dom Rep reisen können.
Und zwar schon morgen.
Es würde irgendwann morgen Vormittag einen Sonderflug der Condor geben, ab Frankfurt nach Santo Domingo, der Hauptstadt der Dom Rep. Er konnte weder Uhrzeit noch die Nummer sagen noch irgendwelche weiteren Informationen geben bezüglich einer eventuellen Quarantäne in Santo Domingo.
Das einzige, was er wusste, war, dass der Flug 750 € pro Person kosten würde und dass wir besser schon heute Nachmittag losfahren sollten, denn wenn der Flug morgen sehr früh ab Frankfurt gehen würde, brauchte man ja noch immer die berühmten 2 Stunden Check-In am Frankfurter Flughafen. Und ein Einchecken in Hamburg, mit Gepäck durchgecheckt in die Dom Rep, ginge nicht, weil er die Flugnummer des Anschlussfluges nicht wusste.
Er sagte aber auch ganz klar, dass dieser Flug morgen der letzte sei, der von Europa in die Dom Rep fliegen würde, um die restlichen dortigen Urlauber zurückzuholen und dass danach der Flughafen mit Sicherheit für ein bis zwei Monate geschlossen wird.
Wir mussten uns also innerhalb von 3 Stunden entscheiden, ob wir jetzt alles in Deutschland stehen und liegen lassen sollten, um praktisch sofort nach Frankfurt mit der Bahn zu fahren (Die Flüge nach Frankfurt waren ebenfalls gestrichen worden).
Dort am Flughafen würden wir dann mit etwas Glück irgendwann im Laufe des Vormittags einen Condor-Flug nach Santo Domingo finden.
Auch meine Frage, ob wir eventuell eine Quarantäne in Santo Domingo oder in unserem Heimatort Punta Cana haben würden, konnte er nicht beantworten.
Unser Wohnort Punta Cana liegt über 200 km entfernt von Santo Domingo.
Er meinte nur, da sämtliche Flüge von und nach Europa und Amerika für die nächsten 30 Tage gestrichen sind und niemand weiß, wie lange dieses Verbot danach noch gelten würde. Deshalb sollten wir lieber davon ausgehen, dass dieser Aufenthalt dann wohl etwas länger sein würde.
Aufgrund dieser ganzen Sachlage und auch unter Berücksichtigung dessen, dass abzusehen war, dass sich die Situation in Deutschland bezüglich Freizügigkeit und auch Ansteckungsmöglichkeit eher schlechter als besser entwickeln würde, entschieden wir dann folgendes:
Meine Frau wollte in Deutschland bleiben. Der ganze Stress jetzt, Familie, ärztliche Versorgung und die Beziehung zu ihrem kirchlichen Umfeld waren Gründe für diese Entscheidung.
Ich selber sollte das Angebot der dominikanischen Botschaft annehmen und mich sofort nach Frankfurt auf den Weg machen.
Alles, was wir uns inzwischen im Laufe der Jahre in der Dom Rep aufgebaut haben, ist inzwischen ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens und in der jetzigen Situation könnte es von Vorteil sein, wenn zumindest einer von uns dort vor Ort ist.
Ich packte also meine Sachen zusammen, fuhr mit dem nächsten Zug nach Frankfurt und erschien dort früh am nächsten Morgen in dem total verlassenen Frankfurter Flughafen.
Der Flug war insofern außergewöhnlich, als er aus zwölf Besatzungsmitgliedern und 24 Passagieren bestand. Ich bin zwar in meinem Leben einige hundert Mal um die Welt geflogen, aber so einen Geisterflug hatte auch ich noch nicht erlebt.
In Santo Domingo dann eine unheimlich aufwendige Prozedur mit Gesundheitskontrollen aller Art.
Fiebermessen, Dokumente prüfen, wieder Fieber messen, noch ein paar mal wieder alle Dokumente prüfen – es war ein einziger Alptraum, der sich für uns 24 Leute über 4 Stunden hinzog.
Die Mitreisenden Dominikaner befürchteten schon, dass wir alle in irgendwelche Vorstadt-Absteigehotels geschickt werden würden, um dort die nächsten 14 Tage in Quarantäne zu verbringen.
Der Protest der Dominikaner, die natürlich alle nach Hause in ihre Wohnung und zu ihrer Familie wollten, war extrem heftig und das gesamte Palaver so intensiv, dass selbst ich noch einige mir bis dahin ungekannte sehr grobe Schimpfworte in meinem aktiven Sprachschatz abspeichern konnte.
Nach 3 Stunden wurde dann entschieden, dass jeder, der eine Wohnung hat, dorthin gehen könne, um dort seine 14 Tage Quarantäne abzusitzen.
Während dieser 3 Stunden wurden alle unsere Papiere zigmal auf irgendwelchen Formularen kopiert und als neue Krankenakte angefertigt.
Pro Person mehr als 20 Minuten.
Bei einem vollbesetzten Flug mit 300 Passagieren hätte es so wahrscheinlich 2-3 Tage gebraucht, um überhaupt vom Flughafen weiter nach Hause gehen zu können.
Als das Ganze schließlich zu Ende war, kamen wir in die Gepäcksabteilung, wo die paar Koffer unserer kleinen Reisegruppe verträumt neben einem Gepäcksband standen.
Alle Koffer außer meinem.
Mein Koffer war nicht dabei.
Entweder hatten die Jungs am Flughafen beim Durchleuchten festgestellt, dass ich in der Hast des Kofferpackens in Deutschland einen Großteil meiner Computerausrüstung in diesen Koffer reingeschmissen hatte – da ich auch nicht wusste, wie lange ich jetzt in der Dom Rep bleiben würde.
So eine Situation erweckt bei den dominikanischen Zöllnern und Sicherheitsbeamten grundsätzlich eine gewisse Begierde, und in diesem Fall war es sicherlich noch einfacher, den Koffer entweder zu erleichtern oder ganz verschwinden zu lassen.
Das ist mir in der Vergangenheit bereits am Flughafen von Punta Cana mehrmals passiert.
Die Gesetze der Physik sind an dominikanischen Flughäfen aufgehoben, aus 20 Kilo Gepäck werden innerhalb weniger Minuten 10 Kilo oder die 20 Kilo lösen sich direkt in angenehme karibische Luft auf.
Während der letzten Stunden bei der Gesundheitspolizei am Flughafen muss sich bei dem permanenten Durchwühlen aller Papiere auch irgendwann der Gepäcksabschnitt meines aufgegebenen Koffers von der Bordkarte gelöst haben – ich hatte jetzt nicht nur keinen Koffer, sondern auch keinen Gepäcknummern-Abschnitt.
Und das beim letzten Flug von Europa für die nächsten Wochen oder Monate.
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Ich musste also jetzt dem letzten verbliebenen Angestellten des Lost-and-Found-Schalters alles ein bisschen ausführlicher erklären.
Ich habe selten einem Menschen gegenüber gestanden, der weniger am Problem seines Gegenübers interessiert war als hier in diesem Moment.
Jeden Versuch, ihm die sich anbahnende Notlage etwas näher zu erläutern, unterbrach er hinter seiner Mundschutz-Maske mit der Aufforderung statt 2 Meter bitte 3 oder 4 Meter Abstand zu halten, am liebsten natürlich den ganz großen Abstand, also ab um die Ecke, nur irgendwo hin, damit er nach Hause gehen könnte.
Nur zur Ergänzung der Situation sei noch bemerkt, dass es nach einer pünktlichen Ankunft um 18 Uhr inzwischen weit nach 22 Uhr geworden war, als ich mit sehr kleinem Handgepäck den unwirklichen Flughafen verlassen konnte.
Mein dominikanischer Freund und Bekannter, der mit unserem Auto von Punta Cana nach Santo Domingo gekommen war, um mich abzuholen oder in eine Quarantäne-Station zu begleiten, was immer auch passieren würde, hatte jetzt über 4 Stunden vor dem Flughafen gewartet.
Als ich aus dem Flughafen trat, war es draußen vor dem Flughafen richtig dunkel.
Und auch das Gesicht meines Begleiters – ein junger schokoladenfarbiger Dominikaner – verdunkelte sich von Minute zu Minute.
Es gab – was ich nicht wusste – inzwischen eine totale Ausgangssperre in der ganzen Dom Rep ab 20 Uhr Abends bis 6 Uhr morgens.
Und die wurde rigoros überwacht.
Wir aber hatten jetzt gegen 23 Uhr noch über 200 km Fahrt vor uns.
Mein Freund war sehr besorgt.
Falls wir jetzt irgendwo in Polizeikontrollen kommen würden – dann wären der Ärger und die Probleme wahrscheinlich unkontrollierbar.
Jeder in der Dom Rep kennt die Geschichten, dass solche eingehaltenen Autos erst mal für Tage oder Wochen auf Polizeiparkplätzen landen und nur gegen sehr hohe direkte Gebühren an irgendwelche Offiziere wieder ausgeliefert werden. Wenn überhaupt.
Aber nach all dem Stress hatten wir jetzt ein kleines Erfolgserlebnis.
Offensichtlich nutzten auch sämtliche Polizeikontrollen den angebrochenen Abend zu anderen Sachen aus.
Selbst die drei Mautstationen, die es auf der Autobahn zwischen der Hauptstadt und Punta Cana gab, waren ab 20:00 Uhr geschlossen und verlassen, genauso wie die Tankstellen an der Autobahn.
Die letzten Kilometer dieser langen dunklen Reise fuhr mein Bekannter im Schritttempo, um in dem Moment, wo ein Polizeilicht aufleuchten würde, den Motor auszuschalten und sich schlafend zu stellen.
Sich schlafend stellen war dann auch das Stichwort für mich.
Nach dieser 30-stündigen Odyssee von Hamburg in die Dom Rep brauchte ich mich nicht mehr zum Schlafen zu stellen, ich schlief bereits im Stehen.
Doch auch diese Nacht war kurz, denn die vier großen Supermärkte in unserem Ort waren zwar zu den normalen täglichen Öffnungszeiten geöffnet, aber für ältere Personen ab 65 gab es einen speziellen Erlass.
Sie sollten alle morgens zwischen sieben und acht Uhr ihre Einkäufe tätigen.
Ich war also kurz nach sieben der erste und einzige Kunde in dem größten Supermarkt des Ortes – eine riesige Mail, vergleichbar mit Metro + Aldi + Lidl + Real.
Dort kaufte ich dann für einen horrenden Betrag die Textilabteilung des Supermarkts leer- in der Hoffnung, dass irgendetwas in europäischen Größen darunter zu finden sein würde.
Und dann noch nebenbei die Verpflegung für die nächsten Wochen, egal ob es sich um 1 oder 10 Wochen handeln würde.
Denn wie lange dieses Senioren-Einkaufssystem noch funktionieren würde, war niemandem bekannt.
Als ich meine diversen Einkaufswagen schließlich im Auto verstaut hatte und gerade losfahren wollte, klopfte ein freundlicher Dominikaner an die Scheibe und meinte nur, dass ein oder zwei Hinterräder keine Luft mehr hätten.
Ein Hinterrad war komplett ohne Luft und auf den Felgen konnte ich die 15 km vom Supermarkt nach Hause unmöglich schaffen.
Hier bewährte sich endlich einmal meine Vorsicht, die ich im Laufe der Jahre für verschiedene Situationen in der Dom Rep entwickelt hatte.
Seit einigen Jahren haben wir einen kleinen Zweitwagen, im Prinzip nur als Notfall.
So ein Notfall ist bisher recht selten eingetreten, meist nur wenn wir Besuch hatten und dieser irgendwohin bewegt werden musste.
Wobei wir unseren Besuch an sich nur in Ausnahmefällen als Notfall definieren.
Aber jetzt war es soweit. Ich rief meinen Bekannten wieder an und bat ihn, mit dem Reservewagen zum Supermarkt zu kommen.
Er kam, lud den halben von mir gerade gekauften Supermarkt wieder aus dem Wagen aus, fand ganz unten irgendwo ein Reserverad, wechselte alles und lud dann den Teil des Supermarktes, den ich kurz vorher käuflich erworben hatte, wieder ein.
Dann fuhr er mit dem kaputten Reifen weg und kam nach einiger Zeit mit einem neuen Reifen zu mir in die Wohnung.
Das ganze war heute Morgen um kurz nach sieben passiert.
Ich hatte mir an diesem Tag vorgenommen, mich mit meiner neuen Situation zu beschäftigen und die neue Lage draußen vor der Terrasse zu bewundern.
Die gesamte Landschaft, die ich von unserer Strandterrasse aus sehen konnte, hatte sich verändert.
Alles war innerhalb weniger Tage schöner, ruhiger und natürlicher geworden.
Ich erinnerte mich an einen Bericht, den ich kurz vor der Abreise gelesen hatte- in Venedig war das Wasser in allen Kanälen plötzlich klar und sauber und man konnte auf den Fotos sehen, wie die Fische sich am Grund der Kanäle tummelten.
Wir haben normalerweise 20-30.000 Touristen hier an unserem Traumstand links und rechts von unserem Haus- und jetzt waren sie alle weg.
Es sah aus wie vor 25 Jahren, als wir das erste Mal dieses kleine Paradies gesehen hatten.
Keine Touristen, viele große Vögel, Pelikane, Reiher und Silbermöwen, die wir lange nicht mehr gesehen hatten.
Keine Touristen mit Speed-Booten, an Fallschirmen baumelnd und auf Banana-Schlauchbooten rumschreiend- nur schneeweißer Strand und dahinter türkisblaues Meer.
Alles, was ich heute Morgen hier am Strand sah, erschien mir wie ein ganz alter Film.
Dann versuchte ich 10-15 Stunden Schlaf nachzuholen und mich gleichzeitig mit einigen speziellen Situationen zu beschäftigen, die sich aus meiner jetzigen Lage ergaben.
Das war im Prinzip nur Jammern auf hohem Niveau, denn ich hatte eine wunderschöne, gerade komplett renovierte Wohnung als Quarantäne.
Keine Nachbarn, die waren alle irgendwo in der Welt in ihren Heimatländern.
Keine Strand-Touristen, die immer wieder dieselben Fragen stellten.
Nur Ruhe, den ganzen Tag die Sonne, eine angenehme 28 Grad Brise vom Meer her, Internet und ein voller Kühlschrank – so eine Quarantäne ist Jammern auf höchstem Niveau.
Die kleinen und mittleren Probleme, die es jetzt noch zu lösen gilt, werden sich bald als angenehme Abwechslung im Leben eines freiwilligen Einsiedlers entwickeln.
Der sich hiermit dann auch endlich verabschiedet.