Das Weihnachtsgedicht

 

„Mama, Mama“ –

Der kleine Richanix stürmte die Treppe hoch, riss die Haustür auf, die wie immer nicht abgeschlossen war, stürmte über den Hausflur und rief dabei so laut er konnte und völlig außer Atem nach seiner Mutter. Er schüttelte seinen Schulrucksack auf den Boden, atmete einmal zwischendurch kurz durch und wusste dann sofort, wo er seine Mutter finden würde.

Der herrliche Duft von frisch gebackenem Kuchen kam aus der Küche. Dort sah er, wie seine Mutter zwischen ganz vielen Schüsseln, Töpfen, Gläsern und allerlei anderen Küchengeräten hin und her lief.

Es war kurz nach 12 Uhr Mittag und der kleine Richanix versuchte mit 3 Sachen gleichzeitig fertig zu werden. Es war heute sein letzter Schultag gewesen, jetzt begannen die schönsten Ferien des Jahres, die Weihnachtsferien. Er musste versuchen, so schnell wie möglich das Mittagessen zu verdrücken, damit er noch ein großes Stück von dem köstlichen Weihnachtskuchen als Nachtisch von seiner Mutter bekam. Und er durfte auf keinen Fall vergessen zu erzählen, was er heute am letzten Schultag erlebt und gelernt hatte.

Seine Mutter sah, wie ihr kleiner Richanix immer noch nach Atem rang und sie war gespannt, was er erzählen würde. Sie wusste auch, dass ihr Sohn eine Eigenschaft hatte, die man normalerweise nur bei recht alten Leuten antraf. Er konnte sich, wenn er aufgeregt war, nur an das erinnern, was gerade passiert war und an das, was schon ganz lange zurücklag. Alles dazwischen war in so einer Situation meistens ein ziemlich großes Durcheinander. Und sie wusste auch, wie man bei diesem Kind das gedankliche Durcheinander wieder in einigermaßen normale und nachvollziehbare Sätze zurechtrücken konnte.

Mit einem etwas größeren Stück warmen Kuchen, frisch aus dem Ofen. Der Teller mit den Kartoffeln, dem Gemüse und den beiden kleinen Stückchen Hühnerfleisch konnte warten.

Die Mutter beschloss eine kleine Pause in ihren Vorbereitungen zum Weihnachtsessen einzulegen. Sie nahm die Schürze ab und setzte sich zu ihrem Regisseur an den Küchentisch. Dann schwieg sie und beobachtete ihren kleinen Sohn, wie er kurz hintereinander drei Stücke Kuchen in seinen Mund schob. Der Mund war jetzt so voll mit warmem Teig, dass er nur noch durch die Nase atmen konnte.

Aber irgendwann normalisierte sich alles.

Richanix schaute satt und dankbar zu seiner Mutter hoch und war jetzt in der Lage, all das zu erzählen, was er heute in der Schule erlebt hatte.

„Weißt du, unsere Lehrerin Frau Severin hat doch diese komische Grippe oder so, von der alle im Moment überall reden. Sie war auch heute wieder nicht in der Schule. Wir durften in den ersten beiden Stunden in der Sporthalle und dort mit den Kindern, die gerade Sportunterricht hatten, zusammen spielen und alles mitmachen, was der Sportlehrer unterrichtete. Ich habe sogar einmal beim Klettern gewonnen. Und in der dritten und letzten Stunde, wo wir normalerweise Deutsch haben, kam dann der Direktor der Schule zu uns in die Klasse.

Er heißt Herr Doktor Wolf und er unterrichtet nur ganz wenig und ganz selten. Ich glaube, er macht meistens irgendwelche anderen Arbeiten. Natürlich kannte der Direktor nicht unsere Namen. Aber das machte nichts, er hat einfach angefangen mit dem Unterricht.

Zuerst hat er mit uns gesprochen. Dann hat er sehr viel an die Tafel geschrieben und wir sollten alles abschreiben. Dann hat er wieder mit uns gesprochen. Und dann war die Stunde schon zu Ende. Ich weiß nicht mehr all die Worte und Sätze, die unser Direktor zu uns gesagt hat. Aber er hat uns ungefähr folgendes erklärt:

„Wir wissen ja alle, dass jetzt in drei Tagen Weihnachten ist.

Für einige Menschen hat das was mit Gott zu tun, aber darüber wollen wir jetzt nicht weiter reden. Für viele Menschen ist Weihnachten die einzige Gelegenheit im Jahr, wo noch einmal die ganze Familie zusammenkommt.“

Dann hat Herr Doktor Wolf gesagt, dass es bei so einem Familientreffen oft zu irgendwelchen Problemen oder Streitereien kommt, weil die ganz Jungen, die Jungen, die nicht mehr ganz so Jungen, die Älteren und die schon ziemlich Alten – weil alle diese verschiedenen Menschen verschiedene Sachen erlebt haben oder noch erleben werden. Und dass es deswegen manchmal ein ziemliches Kuddelmuddel gibt, weil jeder über das reden möchte, was ihn gerade interessiert.

„Früher“, erzählte uns Doktor Wolf, „habe man deswegen beschlossen, dass man bis zum Essen das Wort den Kindern gibt. Sie mussten ein Gedicht nach dem anderen aufsagen. Alle hörten einigermaßen zu, die Älteren und die schon ziemlich Alten schlossen dabei die Augen und machten ein kleines Nickerchen.

Die Kinder waren meistens so nervös, dass sie nach jeder Strophe zur Toilette liefen, um Pipi zu machen und dabei versuchten sie sich zu erinnern, wie noch einmal der Text der nächsten blöden Strophe war.

Das alles oder so ähnlich hat der Direktor am Anfang der Stunde zu uns gesagt. Und dann hat er gesagt, dass diese Situation auch heute noch bei vielen Familien am Heiligabend genauso ist. Und dann hat er gesagt, dass wir als Kinder von heute viel intelligenter sind als die allermeisten Erwachsenen zusammen.

Wir haben nämlich ein Supergedächtnis. Und wir können 2 Strophen und einige Sätze dazu problemlos auswendig lernen. Und wenn wir das, was wir dann auswendig gelernt haben, am Heiligabend der Familie als kleines Gedicht oder ganz kleine Geschichte erzählen, dann können wir dafür sorgen, dass es ein ganz prima Weihnachten wird.

Wir sollen also das, was er an die Tafel geschrieben hatte, auswendig lernen.
Kein Problem.

Und dann sollen wir, nachdem wir das Gedicht aufgesagt haben, darum bitten, dass jeder dazu etwas kurz erzählt.

Alle, die an diesem Weihnachtsabend zusammensitzen, gehören in irgendeine von den vier Gruppen, um die es hier geht. Und dann hat der Direktor uns erzählt, dass eine Familie so ähnlich ist wie ein ganzes Jahr.

Das Jahr hat vier Jahreszeiten – Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Und jeder, der an diesem Abend dabei ist, gehört zu einer von diesen vier Jahreszeiten. Und jeder soll dann ganz einfach einige kleine Sätze über sich, seine Jahreszeit und das erzählen, was ihm spontan dazu einfällt.

Wenn die ersten beiden Familienmitglieder dies gemacht haben, ist der Abend gerettet. Jeder hört jetzt mit Sicherheit gespannt zu und jeder überlegt ebenso sicher, was er auf die Schnelle hier erzählen könnte.

Dann haben wir alles das, was der Direktor an die Tafel geschrieben hatte, in unsere Hefte abgeschrieben. Und zum Schluss hat der Direktor gesagt, wir haben jetzt noch 2 Tage Zeit, diese wenigen Sätze auswendig zu lernen.

Und dann werden wir alle ein tolles Fest erleben.

Dann rutschte der kleine Richanix von seinem Stuhl und lief auf den Flur, wo er seinen Schulrucksack neben die Garderobe geschmissen hatte. Er öffnete ihn und zog vorsichtig sein Schreibheft heraus. Er öffnete die letzte beschriebene Seite und schob das Heft zu seiner Mutter rüber.

Du kannst es dir ja mal durchlesen, meinte er. Aber dann musst du es mir auch gleich wiedergeben, denn ich will alles noch heute fertig lernen.

Dann begann seine Mutter zu lesen.

Richanix blickte dabei auf die Hand seiner Mutter.
Ihr Zeigefinger folgte jeder Zeile, als sie den Text halblaut mitsprach.

„Lebensabschnitte

Die meisten Menschen möchten gerne 100 Jahre alt werden.

Jedes Jahr hat 4 Abschnitte – Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

In den ersten 25 Jahren lernt man.
In den zweiten 25 Jahren liebt man.
In den dritten 25 Jahren lebt man.
In den vierten 25 Jahren liest man.

Der Mensch ist ein Sammler.

Im Frühling sammelt man Erfahrung.
Im Sommer sammelt man Mitmenschen.
Im Herbst sammelt man Wein und Käse.
Im Winter sammelt man Fotos, Videos und Erinnerungen.

Genießt eure Lebensabschnitte.
Sammelt und bewahrt das, was ihr erlebt habt.

Fröhliche Weihnacht“

Und weil der kleine Richanix so konzentriert auf den bewegten Zeigefinger seiner Mutter schaute, bemerkte er nicht, wie sich ihre Augen etwas veränderten.
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