Der Häuptling


Kapitel 1

Prolog

Als Thomas Deckel von seiner Familie nach Südamerika geschickt wurde, war er Anfang zwanzig. Er lernte im Schlachthof-Viertel von Buenos Aires zwangsläufig schnell die Sprache, die Gewohnheiten, die Vor- und Nachteile eines großen Schlachthofes und nach einem Jahr fing er an in Argentinien selber herum zu reisen und die Produkte aufzukaufen, an denen seine Familie respektive die Firma seiner Familie in Hamburg interessiert war. Als dies alles mehr oder weniger funktionierte, bekam er den nächsten Auftrag- – er sollte sich schnellstmöglich mit dem Pelzgeschäft beschäftigen.

Pelzfelle

Pelze waren zu dieser Zeit – wir reden hier von den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts – ein ganz normaler Handelsartikel, der sich in Europa großer Nachfrage erfreute.

Thomas reiste von Feuerland über das Hochland von Bolivien und Peru bis hin zu den kleinen Staaten in Mittelamerika, um erste Erfahrungen zu sammeln. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass es für diese Art von Geschäften nur ein Land gab, das alles hatte, was Thomas suchte:

Brasilien

Er lernte portugiesisch und baute sich ein kleines Netz von Handelsstationen am Mittleren und oberen Amazonas auf, die er mehrmals im Jahr besuchte. Mit dem kleinen Boot fing er an, die weiteren größeren und kleineren Nebenflüsse des riesigen Amazonasgebietes zu erforschen. Begleitet von 2 oder 3 jungen Brasilianern, die etwas von Navigation und lokalen Dialekten verstanden.

Die Kunden

Das ganze entwickelte sich langsam aber stetig und zur Zufriedenheit seiner europäischen Kunden.

Dass bei diesen Transaktionen von Waren aus Brasilien nach Zentraleuropa eine nicht unerhebliche Anzahl von Vorschriften, Gesetzen sowie lokalen und internationalen Bestimmungen übergangen werden musste, war für jeden Buchhalter der Firmen in Deutschland und der Schweiz, die als Käufer seiner exotischen Produkte fungierten, ein immer wiederkehrendes Gräuel – für Thomas war es lediglich eine weitere Herausforderung.

Sein größter Kunde in der Schweiz war die Firma Mueller und Cie. Eine große, erzkonservative und solide Firma. Man arbeitete strikt nach dem Gesetz aller Schweizer Banken, welches immer dann angewendet wurde, wenn sich ein neuer Kunde mit einem etwas größeren Koffer voller Geld in den verschwiegenen Besprechungszimmern der Schweizer Privatbanken vorstellte – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Dieser Spruch von Kufuzius war Grundsatz eines äußerst erfolgreichen Geschäftsmodells sowohl bei den Banken als auch bei den größeren Handelsfirmen in dieser schönen Alpenrepublik.

Zufrieden

Nachdem Thomas eine Zeit lang zur Zufriedenheit seiner Schweizer Kunden das abgeliefert hatte, was man von ihm erwartete, lud ihn beim nächsten Besuch der Seniorchef in sein Privatkontor.

„Thomas“, begann er, „Sie haben bewiesen, dass Sie uns erfolgreich das besorgen können, was wir Ihnen als Auftrag gegeben haben. Ich möchte Sie deswegen bitten sich einmal etwas anzusehen, was sie mit Sicherheit noch nie gesehen haben“.

Thomas Interesse war geweckt.

Der Keller

Man ging in die Kellergewölbe und trat in einen wohltemperierten kleinen Raum ein. Dort gab es lediglich einen großen Tisch, ein längeres Regal an einer Wand und von der Decke her leuchteten eine sehr große Anzahl von Strahlen und Lampen auf den Tisch in der Mitte des Raumes. In dem Regal lagen verschiedene Haufen von rohen Pelzfellen.

Der Seniorchef ging an das Regal und nahm einige Felle von einem Stapel. Es handelte sich – wie Thomas sofort sah – um Ozelot-Felle. Ozelot ist eine mittelgroße Wildkatze, welche in ganz Amazonien zu Hause ist.

Aber die Farbe und die Musterung des Fells waren ganz anders als alles, was er vorher in Brasilien im mittleren und oberen Amazonas vorgefunden hatte.

Thomas blickte seinen Gesprächspartner fragend an und der erklärte ihm in seiner sachlichen und freundlichen Art folgendes:

Die Umgebung

Tiere richten sich immer nach ihrer Umgebung. Nach einigen Generationen assimilieren sie sich, wenn die Umgebung anders ist als die, in der ihre Vorfahren lebten. So auch diese Ozelot-Katzen.

95 Prozent oder wahrscheinlich sogar noch mehr leben in den dichten Urwäldern des Amazonas. Dort schützen Sie sich am besten, indem ihre Fell-Farben schwarz, dunkelrot, etwas braun und ein klein bisschen weiß sind. Das sind die Tarnfarben, welche diese Ozelots brauchen, wenn sie auf die Bäume oder am Boden auf Nahrungssuche gehen.

Es gibt aber in Brasilien ein sehr großes Gebiet im Nordosten, wo es überhaupt keinen Dschungel gibt und wo aber trotzdem eine Gruppe von diesen Ozelots gelebt hat. Dieses Gebiet ist heiß und trocken und besteht fast ausschließlich aus Gras- und Steppenland.

In den letzten 100 Jahren ist das gesamte Gebiet im Nordosten von Brasilien von der ärmsten brasilianischen Bevölkerungsschicht erobert und besetzt worden. Heute gibt es dort praktisch keine Wildtiere mehr. Nur karge Ziegen, ausgemergelte Hunde und eine Bevölkerung, die mehr schlecht als recht ums Überleben kämpft.

Der blaue Ozelot

Aber die Ozelots, die bis vor einigen Generationen dort noch lebten, hatten sich in ihrer Fellstruktur und ihrer Farbe dieser Umgebung perfekt angepasst. Ihre Fellfarbe war grau mit leichten schwarzen Zwischenfarben und es war praktisch kein Rot in ihrem Feld zu sehen, weil es keine Urwälder dort gibt. Im Handel nannten wir früher diese Ozelots die „Blauen Ozelots“. Nach meinem Wissen – fuhr der alte Senior-Chef fort – gibt es sie in Nord-Brasilien nicht mehr.

Einige wenige dieser Felle kommen noch aus Mexiko, wo es große Dürre-Landschaften gibt. Aber ich würde es nie wagen, Sie dorthin zu schicken, weil die Umstände in Mexiko viel zu gefährlich sind.

Falls Sie aber irgendwo auf ihren Reisen ein Gebiet finden sollten, wo es wenig Menschen, dafür aber größere Gras- oder Steppenlandschaften gibt, dann versuchen Sie doch bitte herauszufinden, ob es dort noch solche blauen Ozelots geben könnte. Der Wert dieser blauen Ozelot-Felle ist mindestens 50-mal so hoch wie der eines normalen Ozelots, wahrscheinlich heute noch viel mehr.

Thomas war beeindruckt von dem, was er sah und hörte, bedankte sich und vergaß von da ab nie mehr diese Unterhaltung im Keller des großen Züricher Bürohauses.

Kapitel 2


Fragen

Zurück in Brasilien fragte Thomas seine beiden Begleiter, ob ihnen der Begriff eines blauen Ozelots etwas sagte.

Die Gesichter seiner beiden treuen Begleiter sprachen Bände, einer von ihnen blickte etwas verlegen auf den kleinen Kasten in der engen Kombüse ihres Dampfers. Da war ein rotes Kreuz drauf gemalt und offensichtlich wollte er von dort irgendetwas wie Aspirin oder Rizinus oder sonst was rausholen, weil er um die aktuelle Gesundheit seines jungen Chefs offensichtlich in größerer Sorge war.

Thomas reduzierte die Frage dann darauf, ob die beiden ein Gebiet kannten, wo der Urwald aufhört und sich in eine offene Gras- oder Savannenlandschaft verändert.

Nach einer regen Diskussion der beiden, welche in solchen Situationen immer in dem heimatlichen Dialekt der beiden geführt wurde, von dem Thomas kaum ein Wort verstand, erklärten sie dann:

Sie selber kennen so ein Gebiet nicht. Sie waren in ihrem Leben zwar schon ein oder zweimal im Süden in den großen Städten Sao Paulo und Rio gewesen, aber da wollte Thomas ja mit Sicherheit nicht hin. Sie hätten aber von anderen gehört, dass es im Norden von Amazonien eine Gegend geben soll, auf welche die Beschreibung in etwa zutreffen könnte.

Rio Negro

Wenn man den Rio Negro, der kurz hinter Manaus als gewaltiger Fluss in den Amazonas fließt, einige Tage hochfährt in Richtung Venezuela und sich dabei von den am Ufer liegenden Einwohnern über die Strecke und die Gefahren rechtzeitig informiert, dann könnte es möglich sein, dass man nach vielleicht 2 oder 3 Tagen in so eine Landschaft kommen könnte.

Nach einer alten Karte, die Thomas in Manaus vor langer Zeit gekauft hatte, würde es sich hierbei um das Hochland von Venezuela oder Guyana handeln.

Auch Thomas war noch nie in dieser Gegend gewesen. Thomas beschloss daraufhin so schnell wie möglich eine Reise in diese Gegend zu organisieren. Möglichst noch vor der Regenzeit, weil der Rio Negro nach Aussagen vieler Fischer und Holzfäller danach sehr gefährlich anschwellen kann.

Die Reise

Sie hatten Glück, die Reise den Rio Negro hoch in Richtung Venezuela verlief ohne größere Probleme.

Am 4. Tag änderte sich auf der nördlichen Seite des immer noch sehr großen Flusses die Landschaft. Man konnte am Horizont einige höhere Berge sehen. Auf der südlichen Seite des Flusses war nach wie vor ein kaum durchdringender Urwald. Aber es war offensichtlich, dass hier der eigentliche Urwald des Amazonas zu Ende sein würde.

Das freie Ufer auf der nördlichen Seite war menschenleer. Man sah weder Dörfer oder Hütten noch irgendwelche Tiere, die dort auf diesem flachen Busch- und Grasland weideten oder sich aufhielten.

Es gab auch keinen Rauch am Himmel, der auf eine Feuerstelle eines Dorfes oder einer Gruppe von Menschen hindeuten könnte. Trotzdem war es beeindruckend, diese beiden sehr unterschiedlichen Landschaften an den beiden Flussufern zu beobachten.

Das Dorf

Nach 2 oder 3 weiteren Stunden kam sie an eine Stelle, wo offensichtlich ein oder zwei Nebenflüsse aus dem Norden in den Rio Negro mündeten. An dieser Stelle war jetzt auch eine kleine Siedlung zu sehen.

Einige längliche Häuser, einige kleine Holzboote, die auf dem Sand der Flüsse hochgezogen waren und die offensichtlich zum Fischen benutzt wurden und das Wichtigste in jedem Dorf war auch vorhanden – spielende Kinder, die sich im Wasser eines dort mündeten Nebenflusses aufhielten, sich dabei laut und fröhlich unterhielten und sich gleichzeitig gegenseitig mit Wasser bespritzten.

Das Dorf war in einer Art Halbkreis vor dem Wasser gebaut und in der Mitte befand sich ein größeres längliches Gebäude, so wie er es schon oft in anderen Stellen des Amazonas gesehen hatte. Dort wurde gemeinsam gegessen, gefeiert, die Vorräte gesammelt und es war wie überall der Mittelpunkt der kleinen menschlichen Dorfgemeinschaft.

Der Häuptling

Sie navigierten ihren kleinen Dampfer in einen der beiden Nebenflüsse, wo die Strömung nicht so stark war und ankerten.

Die Kinder hatten natürlich sofort die Ankunft eines kleinen Schiffes gemeldet und eine Handvoll Erwachsene strömten aus verschiedenen Richtungen zum Strand, um das zu sehen, was hier wohl extrem selten war: Die Ankunft von fremden Menschen

Sie wurden begrüßt und Thomas stellte zu seiner Überraschung fest, dass man untereinander spanisch sprach – sie waren wohl schon in Venezuela angekommen.

Sie wurden aufgefordert ins Dorf zu kommen. Vor dem großen Haus in der Mitte setzen Sie sich an einen Tisch und bekamen Saft und Früchte zur Begrüßung. Thomas war beruhigt, denn er war jetzt sicher, dass ihr Aufeinandertreffen keine feindliche Reaktion hervorgerufen hatte.
Die Freundlichkeit der Bewohner war echt, und da er selber spanisch sprach, gewann er schnell an Ansehen und Vertrauen.

Dann kann der Häuptling.

Ein relativ älterer Mann, sein Gesicht zerfurcht, von der Körpergröße her war er etwas kleiner als die meisten seiner Mitbewohner. Aber sein Auftreten war von so souveräner Autorität, dass es völlig klar war: Sein Wort galt.

Das Ritual, das jetzt folgte, war Thomas bekannt und stellte keine Probleme dar. Er holte zusammen mit seinen beiden Begleitern aus dem Rumpf ihres Bootes verschiedene kleine Sachen, die sie als Gastgeschenk dem Häuptling auf den Tisch legten. Kleine Schaufeln für Arbeiten im Sand, dazu einige einfache andere Hausgeräte, die überall von Nutzen waren. Einen Beutel mit Tauwerk, was auch immer gebraucht wurde und schließlich noch die obligaten kleinen Bonbontüten für die Kinder.

Thomas hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass man bei solchen Gelegenheiten den Frauen nichts schenken sollte. Das hatte am Anfang zu Eifersüchteleien und schwierigeren Situationen geführt und deswegen hatte er schon lange keine Gastgeschenke für weibliche Dorfbewohner mehr mitgenommen.

Das Fragezeichen

Während des jetzt folgenden Gespräches merkte Thomas, dass der Häuptling sich nicht so ganz wohl fühlte. Etwas schien ihn zu bedrücken.
Schließlich sagt der Häuptling ziemlich klar, was sein Problem war:

Er meinte zu Thomas, dass sie leider in einem schlechten Moment hier angekommen seien, weil seine Konkurrenten gerade vor einigen Tagen bei ihm waren und er ihnen all das verkauft hatte, was sie in der Zwischenzeit gefunden und gesammelt hatten.

Jetzt war Thomas verwirrt.

Niemand konnte wissen, dass er den blauen Ozelot suchte. Und dass gleichzeitig andere Menschen auf der Suche nach diesem extrem seltenen Artikel waren, schloss er auch aus.

Der Häuptling erhob sich und sagte etwas zu einem Mann in einer Sprache, die Thomas nicht verstand. Der Mann drehte sich um, ging weg und kam ein Augenblick später zurück. In der Hand hielt er ein kleines Holzkästchen, was er vorsichtig vor den Häuptling auf den Tisch legte.

Der alte Mann sagte dann zu Thomas, dass das, was sie in der Zwischenzeit gefunden und gesammelt haben, er bekommen könne. Alles sei wie immer in diesem kleinen Kästchen aufbewahrt.

Thomas war ein klein wenig erleichtert. In dem Kästchen konnten unmöglich dreckige, stinkige Ozelot-Felle in einer besonderen Farbe und Qualität sein.

Der alte Mann öffnete das Kästchen und Thomas sah den Inhalt – 4 oder 5 bunte Steinchen, dreckig, verklebt und von überwältigender Unscheinbarkeit.

Thomas sah den alten Häuptling an und wusste nicht genau, welche Miene er jetzt aufsetzen sollte. Der Häuptling wiederum blickte direkt in das Gesicht von Thomas. Die beiden hatten im Moment etwas gemeinsam – in beiden Gesichtern war ein einziges großes Fragezeichen zu erkennen.

Steine

Dem Häuptling fiel natürlich auf, dass Thomas beim Anblick der kleinen unscheinbaren Steinchen in den Kästchen keinerlei Regung zeigte. Er erhob sich und ging an die Seite des Raumes, wo eine kleine Kommode stand. Er öffnete eine Schublade und holte ein altes Stück Zeitungspapier raus. Es war dies ein Teil einer großen Tageszeitung aus Sao Paulo mit einem größeren Bild am unteren Teil der Seite. Thomas erkannte sofort, um was es sich handelte. Es war eine Werbung der Edelsteingesellschaft Stern.

Auf jedem größeren Flughafen in Südamerika und inzwischen auch in vielen anderen internationalen Flughäfen der Welt hatte diese brasilianische Familie Edelstein-Boutiquen, wo Flugpassagiere ihre Lastminute-Geschenke kaufen konnten.

Thomas selber hatte im Laufe der Jahre auch schon von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht, als er wieder einmal ohne ein kleines Geschenk für seine Frau nach Deutschland zurückflog.

Die Firma Stern war spezialisiert auf Halbedelsteine, die schön bunt leuchten und glitzern und nicht allzu viel kosten wie die großen echten Edelsteine. Thomas erinnerte sich noch an einige Namen dieser Steine, zum Beispiel an Anhat, Amethyst, Opal, Jade, Malachit, Granat und dem bekanntesten südamerikanischen Edelstein, dem Lapislazuli.

Und jetzt war Thomas auch klar, um was es hier eigentlich ging:

Die Firma Stern hatte in ganz Brasilien Aufkäufer, die permanent die Gebiete bereisten, wo diese Halbedelsteine oder sogar noch teurere Steine gefunden wurden.

Und hier in diesem absolut einsamen und gottverlassenen Gebiet lebten die Menschen davon, solche Steine zu suchen, zu sammeln und sie dann bei passender Gelegenheit den Aufkäufern zu verkaufen.

Und gerade waren also die Mitarbeiter der Firma Stern hier gewesen, um all das zu erwerben, was man im Dorf im Laufe der letzten Wochen gefunden und gesammelt hatte.

Jetzt war Thomas klar, um was es sich hier handelte, aber dem Häuptling war noch mit keinem Wort gesagt worden, was Thomas und seine Begleiter nun wirklich wollten.

Fragen

Als der Häuptling Thomas gegenüber sein Bedauern ausdrücken wollte, dass er trotz der freundlichen Gastgeschenke in diesem Moment nichts für ihn hätte außer den paar kleinen Steinen, die in den Kästchen lagen, bat Thomas ihn zu sich auf sein Schiff zu kommen.

Er zeigte ihm dort einige Pelzfälle, die er vorher in verschiedenen kleinen Dörfern gekauft hatte.
Darunter Ozelots, Jaguare, Peludos – eine kleinere Art von Wildkatzen – außerdem Ottern, Riesenottern, Peccaries, Schlangenhäute und sonstige Felle und Pelze, die man in Europa suchte und mit denen Thomas sein Geld verdiente.

Der Häuptling sah Thomas fragend an.

All das hatte er in seinem langen Häuptlingsleben noch nie gesehen. Diese Menschen hier in ihrem kleinen Dorf lebten ausschließlich auf der Seite des Rio Negros, wo es Gras und Savanne gab.

Sie wären nie auf die Idee gekommen, in den dichten Urwald auf der anderen Seite des Rio Negro einzudringen und dort irgendetwas zu jagen oder sonst wie zu suchen.

Sie aßen kein Affenfleisch, selbst Tapire, die gelegentlich aus dem Dschungel hervortraten, um am Fluss zu trinken, wurden von ihnen nicht gejagt.

Sie hatten alles, was sie zum Leben brauchten, auf ihrer Seite des Flusses in ihrem kleinen Dorf oder jedenfalls auch in der Nähe des Dorfes. Und wenn sie etwas suchten oder benötigten, was sie nicht selber herstellen konnten, dann hatten sie dafür das Geld, das sie von dem Aufkäufer der Halbedelsteine erhielten.

Abends saß man in netter Runde zusammen und Thomas war klar, dass er hier zwar sehr freundliche und in ihrer Art höfliche und bescheidene Menschen kennengelernt hatte, das Ganze hatte aber mit dem blauen Ozelot überhaupt nichts zu tun.

Am Ende des Abends sagte der Häuptling noch einmal zu ihm:

Thomas, ich freue mich sehr, dass du den weiten Weg zu uns gemacht hast und dass wir uns gefunden haben.

Ich habe vorher noch nie einen Menschen getroffen, der etwas von uns wollte, was wir überhaupt nicht hatten oder nicht kannten. Meine Eltern und alle meine Vorfahren haben in diesem Dorf gelebt. Wir sind sehr selten krank, wir meiden den Urwald und alles, was darin passiert. Wir danken dir für deinen Besuch und wenn du deiner Familie etwas über uns erzählen möchtest, dann sage Ihnen, dass man von dem, was man in seinem Dorf hat, leben kann.

Wir möchten, dass die Tiere, die auf der anderen Seite des Flusses in dem großen Urwald sind, weiter dort in Frieden leben können. Es sind nicht unsere Feinde und wir sind nicht deren Feinde.

Wir würden niemals Tiere jagen, um uns deren Fell um unsere Haut zu binden, so etwas kann ich mir auch ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt gemacht wird.

Was wir von der Erde bekommen sind Früchte und einige andere Sachen, die unsere Frauen zum Essen bereiten können. Und schließlich noch ein paar von den kleinen Steinchen, die wir an die Leute von Stern verkaufen und wo wir ein gutes Auskommen mit haben.

Dann erhob der alte Häuptling sich und griff in seine Hosentasche. Er stellte ein ganz kleines Kästchen aus seiner Tasche. Dann sagte er ein bisschen ungelenk und feierlich zu Thomas: „Dies möchte ich dir als Dank dafür, dass du uns besucht hast, als kleines Geschenk überreichen. Als Erinnerung an jemanden, der den langen Weg zu uns gefunden hat.

Dann überreichte er Thomas das ganz kleine Holzkästchen.

Thomas sah hinein und erblickte ein Steinchen, so ähnlich wie ein kleiner Kandis-Stein. Da er keine Ahnung von dieser ganzen Materie hatte, bedankte er sich freundlich und verabschiedete sich vom Häuptling und seiner Dorfgemeinschaft.

Er wurde noch bis zu seinem Boot begleitet. Dort übernachtete er mit seinen beiden Kollegen und am nächsten Morgen fuhr er in aller Frühe den Rio Negro zurück in Richtung Manaus.

Der Strom war inzwischen angeschwollen, teilweise war er sehr stark und wild. Die Rückreise dauerte nur anderthalb Tage, dann war man in der großen Stadt Manaus und das tägliche Geschehen hatte Thomas und seine beiden Begleiter wieder eingeholt.

Kapitel 3


Hamburg

Thomas hatte sich nicht mehr um das kleine Kästchen und das kleine Stück Kandis darin gekümmert. Er hatte keinen blauen Ozelot gefunden und somit alles sehr schnell aus seinen Gedanken gestrichen.

Er besuchte, wenn er in Europa war, nicht nur seine Familie und einige engere Freunde, sondern spielte auch, wenn irgend möglich, weiter in der Hockeymannschaft, in der er als Jugendlicher viele Jahre lang sonntags morgens über die Hockeyfelder in Hamburg und Umgebung streifte.

Seine ehemaligen und jetzigen Sportsfreunde waren alle inzwischen gestandene Männer, fast alle mit Familie, Kindern und weiteren Hobbys, die sich im Laufe der Zeit ergeben hatten.

Thomas war innerhalb seiner Mannschaft mit Sicherheit eine Art weißer Rabe.

So einen Lebenslauf wie er konnte kein anderer vorweisen, und so drehte sich manche Geschichte, die Thomas nach Sieg oder Niederlage anfing, an der Bar irgendeines Clubs zu erzählen, auch oft um Ereignisse aus dem fernen Südamerika, insbesondere aus dem exotischen Amazonasgebiet.

Irgendwann gab er dann auch die Geschichte zum Besten, wie er zusammen mit 2 Brasilianern den Rio Negro rauf fuhr, um etwas zu suchen, was er nie vorher gesehen hatte. Und das dabei als Ergebnis ein kleines Kästchen herauskam, in dem ein Stück Kandis lag.

Ein Mitspieler aus Thomas Mannschaft war der Sohn eines Schmuckgroßhändlers und ebenfalls schon viel in der Welt herumgekommen. Er wusste von dem Edelsteinvorkommen im Norden von Südamerika, insbesondere in Venezuela, Guyana und dem dortigen Hochband.

Thomas gab ihm bei nächster Gelegenheit das kleine alte Holzkästchen mit dem schmutzigen Kandis darin.

Entdeckung

Einige Tage rief der Sportsfreund ziemlich aufgeregt bei Thomas an. Er fragte, ob er wisse, was genau es mit diesem Stein auf sich hätte. Thomas verneinte, er hatte wirklich keine Ahnung und an sich die Sache schon lange wieder vergessen.

Da klärte ihn sein Freund auf: Wenn du’s genau wissen willst, handelt es sich hierbei um einen sehr schön geformten Rohdiamanten. Wir haben ihn bei uns im Labor genau untersucht, sein Gewicht festgestellt und er dürfte einige 10.000 DM wert sein.

Thomas fiel aus allen Wolken.

Er hatte mit vielen gerechnet, aber nicht damit, dass er plötzlich stolzer Besitzer eines schönen Diamanten sein würde.

Und wenn du willst, fuhr sein Sportskamerad fort, können wir dir daraus einen sehr schönen kleinen Brillianten schleifen. Wie viel Karat er genau haben wird, das wissen wir jetzt noch nicht, aber du solltest auf alle Fälle diese Brillianten dann in einen Ring fassen lassen.
Das wird dann einer der schönsten Ringe sein, die du in deinem Leben gesehen hast.

Der Ring

Thomas war verwirrt. Er konnte sich nicht vorstellen, warum der alte Häuptling gerade ihm einen solchen Diamanten geschenkt hatte. Es gab hierfür nach seiner Meinung weder eine Veranlassung noch irgendeinen anderen Grund. Und er war sich auch darüber im Klaren, dass der Häuptling sehr genau wusste, was er dort an diesem Nachmittag Thomas in dem kleinen Holzkästchen überreichte.

Der Diamant wurde geschliffen. Es entstand ein wunderschöner, kleiner Brillant. Und dieser wurde in einen schlichten goldenen Ring eingebettet.

Als Thomas voller Stolz seiner lieben Frau diesen Ring mit einem etwas naiven Lächeln überreichte, war die Reaktion doch anders, als er sich es vorgestellt hatte.

Seine liebe Gattin, eine geborene Chilenin, war allem, was Deutschland und seine Sitten betraf, auch nach vielen Jahren immer noch sehr skeptisch gegenüber und witterte meistens erstmal alles Böse.

Sie fragte Thomas dann auch sogleich ganz direkt, für welche große Entschuldigung dieser Ring jetzt gedacht sei. Ob er eine neue kleine Familie irgendwo in Südamerika gegründet hätte und sie jetzt nach Deutschland holen wolle oder ob das ganze sich alles in Deutschland abgespielt hätte.

Sie war es gewohnt, zum Thema Edelsteine nur gelegentlich einige günstige kleine Steinchen von der Firma Stern als Reisegeschenke zu bekommen.

Aber so einen wertvollen Ring mit einem wunderschönen Diamanten und dann noch ohne irgendeinen erkennbaren Anlass – das widersprach allem, was sie in den letzten Jahrzehnten in Hamburg und Umgebung erlebt hatte.

Thomas Beschwichtigungen, dass alles nur das Ende einer kleinen Reise in Südamerika am Rio Negro war, wurden schlicht nicht geglaubt. Seine geliebte Inkaprinzessin und gleichzeitige Chefin im Haus erwartete eine solide Erklärung – und solange diese nicht ausgesprochen war, wollte sie sich nicht über den Ring und die Brillanten darin freuen.

Das Turnier

Einmal im Jahr reiste die Hockey-Mannschaft von Thomas zum kleinen Ort Vechta.
Vechta ist das Zentrum der deutschen Schweinemast und auch Mittelpunkt der schwarzen Gang, wie die streng katholischen Bauern in dieser Gegend genannt wurden.

Normalerweise überwog die Anzahl der Schweine in Vechta die der dortigen Einwohner. Nur während des alljährlichen Hockeyturniers war die Proportion der beiden Gruppen in etwa ausgeglichen.

Der leichte Güllegeruch, der über jedes der dortigen Hockeyfelder schwappte, war nach dem sechsten oder siebten Bier mit Schnaps und Korn kaum noch wahrzunehmen. Entsprechend war auch die sportliche Leistung der Teilnehmer.

Wer es bis in den frühen Nachmittag durchhielt, war schon Sieger, egal wie seine Mannschaft gerade gespielt hatte.

Thomas fuhr gerne zu diesem Turnier, sofern es sich ergab, dass er zu diesem Turnier in Deutschland war.

Das war in jenem Jahr der Fall und so reiste er zusammen mit seiner Pflegerin und einem großen Kreis von Hockey-Freunden nach Vechta.

Seine Frau verstand nicht viel von den Regeln dieses Sports. Das war aber auch nicht wirklich nötig, denn anhand des Geschreis und des Jubels oder der Buhrufe und der Flüche und Verwünschungen wusste sie ziemlich genau, wie es gerade sportlich um ihren lieben Mann und seine Mannschaft stand.

An diesem letzten Turniernachmittag schien alles optimal. Es wurden ihr nur Jubelnachrichten übermittelt- und da entschied sie sich für eine große Geste.

Das Clubhaus des veranstaltenden Tennis- und Hockeyclubs lag etwas abseits vom Spielfeld. Man hatte aber ziemlich nah am Spielfeldrand ein kleines Holzhäuschen errichtet, wo man bei Regen dem Spiel zusehen konnte, wo es einen Schrank für Bier und Korn gab und daneben eine kleine bäuerliche Toilette.

Die Tür zu diesem nicht immer stillen Örtchen hatte zwar kein Herz in der Mitte, dafür war sie aber nicht abschließbar.

Kurz vor dem Ende des letzten Spieles, welches dem Geräusch nach mit Sicherheit die Mannschaft von Thomas gewinnen würde, zog sie sich in dieses kleine Häuschen zurück.
Sie öffnete ihre Handtasche und eine sich darin befindliche kleine Blechschachtel.

Sie nahm den Ring mit dem Brillanten raus, um ihn sich zu dieser Siegesfeier über den Finger zu ziehen und Thomas und all seinen Freunden damit zu verstehen zu geben, dass sie sich endgültig mit der ungeklärten Herkunft und Bedeutung dieses wunderschönen kleinen Schmuckstücks abgefunden hatte.

Als sie dabei war, mit der einen Hand den Ring zu umfassen, um ihn auf den Ringfinger der anderen Hand zu stecken, stürzte plötzlich jemand mit brachialer Gewalt in diesen kleinen Toilettenraum.

„Gewonnen!“ schrie er und merkte wohl gar nicht, dass dieser stille Ort derzeit von einer wunderschönen Frau in Anspruch genommen wurde.

Und dann geschahen mehrere Sachen gleichzeitig.

Sie wurde durch den hereinstürzenden Hockey-Spieler etwas angerempelt und verlor ihr Gleichgewicht.

Sie drehte sich rum und riss in dieser Drehung die Finger von ihrem schönen kleinen Ring.

Der Ring machte sich selbstständig und flog in einem hohen Bogen direkt in die hölzerne Toilettenschüssel, die am Rande dieser kleinen Behausung eingebaut war. Sie hatte keinen Deckel und somit flog der Ring direkt dahin, wo normalerweise andere Sachen landen.

Sie war gleichzeitig so erschrocken und verwirrt, dass sie gar nicht merkte, dass der Ring sich aus ihren Fingern gelöst hatte. Sie fing an, den Eindringling zu bitten, sofort dieser intimer Raum zu verlassen.

Wie immer, wenn sie nervös oder wütend war, wechselte sie dabei die Sprache von Deutsch in ihre spanische Muttersprache. Der leicht benebelte Eindringling verstand nur Bahnhof, sah sie an und lächelte ziemlich verstört. Dann zog er die Schultern hoch und ging hinaus.

Erst jetzt bemerkte sie, dass der Ring nicht mehr da war.

Der Abschied

Weder Thomas noch irgendjemand anders aus der Hockeymannschaft hatten gemerkt, dass seine Frau den Ring fast immer in ihrer kleinen Handtasche mit sich führte. Sie hatte aber andererseits sich nie entschließen können, den Ring bei passender oder unpassender Gelegenheit über ihren Ringfinger zu ziehen.

Insofern war es auch völlig normal, dass sie zur anschließenden Sieger-Feier mit dem ganz normalen Schmuck erschien, den sie auch sonst trug.

Ihr lieber Thomas hatte sie nie mit dem Ring am Finger gesehen. Und so beschloss sie, dass dies auch in Zukunft so bleiben solle.

Was der Diamant dann die nächsten Jahre in der Gülle oder Gosse des Kanalisationssystems von Vechta machte, weiß niemand.

Gefunden wurde er auch nicht. Oder wenn ja, dann von jemandem, der sich über etwas freute, was ihn das Schicksal in die Hand gespült hatte.

Einige Jahrzehnte später erzählte sie ihrem lieben Thomas, was seinerzeit in Fechter passiert war. Ob Thomas diese Geschichte geglaubt hat oder nicht, das ist nicht überliefert.

Das Auftauchen des Ringes blieb für Thomas genauso mysteriös wie sein Verschwinden.

Epilog

Thomas war nie wieder am Rio Negro und hat den Häuptling auch nicht mehr woanders gesehen. Es blieb eine Episode in seinem ereignisreichen Leben.

Aber die Worte des Häuptlings hatte er nicht vergessen.

Als einige Jahre später die Kinder von Thomas größer waren, baten sie ihren Vater, sich nicht mehr an den Fellen und dem Leben von einigen wunderschönen Urwaldtieren zu bereichern.

Thomas war inzwischen alt genug, um zu begreifen, dass die Zeit sich geändert hatte. Was Mode und Begierde vor 20 oder 30 Jahren war, hatte sich in Protest und Ablehnung gewandelt.

Und er beschloss, den Rat des alten Häuptlings für seinen neuen Lebensabschnitt zu befolgen.

Er ging für 25 Jahre nach China. Und in China widmete er sich ausschließlich den Tieren und deren Produkten, die auf den Millionen von chinesischen Bauernhöfen herumliefen. Mit dieser Philosophie verdiente er nicht nur Geld, sondern auch die Anerkennung seiner jüngeren Familie.

Und er dankte dem alten Häuptling.

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