Die alten Männer und das Meer

Prolog

Nachdem im Februar 2004 eine gemeinsame Segeltour von 5 recht unterschiedlichen Männern ein für alle Beteiligten schlussendlich sehr schönes und rundum positives Ergebnis gebracht hatte, wurde sehr bald beschlossen, so einen Segeltrip im kommenden Jahr zu wiederholen.

Der Zeitpunkt der kommenden Tour sollte anders sein als im Vorjahr.

Letztes Jahr segelten wir im Februar, in der Hauptsaison aller Karibik-Segler. Im Februar ist nicht nur alles extrem teurer, sondern auch viele gute Plätze, Häfen und sonstige schöne Stellen sind teilweise überlaufen von Booten aller Kategorien.

Wir hatten uns deswegen diesmal auf den Juni geeinigt – Nebensaison, weniger überlaufen, nur laut langfristigem Wetterbericht auch eine Zeit, wo normalerweise nicht so viel Wind herrscht und man deswegen schon einmal mit einigen Flautentagen rechnen sollte – aber immer noch rechtzeitig vor Eintritt der Hurrikan-Saison, die in der Karibik zwischen August und Oktober liegt.

Auch sollte das Ziel der Reise diesmal anders sein – im letzten Jahr war es die mittlere und nördliche Karibik, diesmal sollte unser Ziel der südlich Teil der Karibik werden.

Von den 5 Leuten, die den Trip des letzten Jahres überlebt hatten, erklärten 4 ihre Bereitschaft, zum Wiederholungstäter zu werden.

Es waren dies :

Rudi – gelernter Holländer,

Uwe – gelernter Hamburger Jung,

Thomas – gelernter Ossi,

Thewes, gelernter Anektdotist.

Ausgetauscht werden sollte Thomas II – der Sohn von Uwe – der in diesem Jahr erhebliche Konditionsschwäche zeigte, bedingt durch eine überstürzte Heirat und damit verbunden Selbstfindungsproblemen.

Dieser sollte also ausgetauscht werden durch Ecki, einem guten Freund von Thomas.
Über diesen, unseren Neuling Ecki, kann ich also mangels jeglicher Erfahrung an dieser Stelle noch keine weiteren Details berichten.

Das Boot wurde rechtzeitig gechartert, der Kurs war besprochen, entschieden, und sorgfältig vom Skipper und dem aktiven Teil seiner Crew ausgearbeitet.

Losgehen sollte es an Sonntag, den 20. Juni frühmorgens von der Punta Cana / Dom Rep, der gemeinsamen Heimat von Uwe, Rudi, Thomas und Thewes.

Da jedermann glaubte, auf Grund der Erlebnisse des vergangenen Jahres viel Erfahrung gesammelt zu haben, wurde die gemeinsame Teilnehmerbesprechung kurzfristig auf Sonnabend Vormittag angesetzt – eben mal einen Tag vor Start und Abreise.

Da Ecki zu diesem Zeitpunkt noch im Anflug auf Punta Cana war, trafen sich nur die übrigen vier, um gemeinsam festzustellen, dass dieses Meeting an sich sehr früh am Morgen war und außerdem an sich alles klar war, und man sich demzufolge am nächsten Morgen im gecharterten Mini-Bus treffen würde, der uns in 4 Stunden von unseren Domizil in Punta Cana zum Flughafen der dominikanischen Hauptstadt Santo Domingo bringen sollte.

Sonnabend Abend gab es dann die erste kleine Not-Meldung :
Unser Kapitän Uwe verabschiedete sich von diesem Trip.

Sein Anwalt hatte ihm am Sonnabend Nachmittag mitgeteilt, dass in der kommenden Woche plötzlich einige für ihn sehr wichtige Gerichtstermine angesetzt worden seien, die unbedingt sein persönliches Erscheinen erfordern würden.

Also jetzt einen Segeltörn ohne Kapitän – aber nach der ersten Überraschung erhielt die gesamte Mannschaft ein Upgrade, welches formal die Probleme beseitigen sollte:

Thomas wurde vom 1. Offizier zum Käpt’n befördert.
Ecki vom Bootsmann zum First Offizier, Rudi vom Koch zum Maitre de la Cuisine und Thewes vom Logbuchführer zum Tellerwäscher.

Da zu diesem Zeitpunkt völlig ungeklärt war, ob Uwe eventuell später noch nachkommen würde oder der gesamte Trip in dieser neuen Konstellation durchgeführt würde, wurden alle feierlich auf ihre neuen Positionen eingeschworen, und der Verlust der ersten 20 % der Originalbesatzung war somit abgelegt in der großen Schublade aller Bindungswilligen: „Macht nix – festhalten und weitersuchen“…

Sonntag, 19.6.

8 Uhr morgens Treffen und Abfahrt.
Ecki wurde vorgestellt, Uwe wurde abbestellt.

Der Fahrer des Minibusses erzählte etwas von geringen Problemen mit der Klimaanlage im Dach des Mini-Busses.

Da Rudi von uns allen den müdesten Eindruck machte, wurde er nach vorne neben den Fahrer gesetzt. Die nächsten 2 Stunden hatte Rudi dann eine Dauerdusche durch das großflächige Auslaufen des Kondenswassers der Klimaanlage über ihm.

Beim ersten Stopp an einer Raststätte, auf halben Weg zum Flugplatz, war Rudi somit dann schon richtig wach geworden und so glänzend sauber, wie ein Kinderpopo in der Windel-Werbung.

Beim Einchecken auf dem Flugplatz gab es vor uns in der Schlange der Wartenden eine unüberwindliche schwarz-gelbe Wand – die weibliche Volleyballmannschaft des karibischen Inselstaates Barbados war zu einem Turnier in die Dom Rep gekommen und wollte jetzt in die Heimat zurückfliegen.

Alle Mädchen waren etwas größer als die Klitschko-Brüder, in der Hautfarbe zwischen ganz schwarz und völlig schwarz angesiedelt, alle mit einem grellen kanariengelben T-Shirt bekleidet welches für die normalen Flugreisenden in Augenhöhe anfing und sich dann immer weiter nach oben hinzog, und der sich dabei normalerweise ebenfalls entwickelnde Unterschied der Wölbungen im oberen Bereich dieser T-Shirts war hier nirgendwo erkennbar.

Flach und stark wie ein Tiroler Brett standen diese fröhlichen Wesen vor uns, deren Zuordnung auf Männlein oder Weiblein für den geneigten Betrachter schlussendlich doch relativ einfach war: Alle hatten auf der Vorder- und Rückseite ihrer knallgelben T-Shirts den Hinweis „Woman-Team“ gut leserlich eingestickt und damit war das bei allen fasziniert zuschauenden Betrachtern aufgetretene Grundproblem „Mann oder Frau – wer weiß es genau“ ausreichend und eindeutig geklärt.

Die erste Teilstrecke auf unserem Weg in die südliche Karibik sollte uns von Santo Domingo nach Antigua bringen, einer Insel irgendwo in der mittleren Karibik. Es sollte ein kleines Propeller-Flugzeug irgendeiner karibischen Fluglinie sein, deren Flugzeuge so bunt angemalt sind wie ihre Besatzungen.

Man hatte gut vorkalkuliert beim Einchecken, für die ungefähr 35 Sitze in der Maschine hatte man knapp 100 Tickets verkauft.

Da wir sehr rechtzeitig angekommen waren, sollten wir diesmal nicht zu den Dutzenden Waiting-Passagieren gehören, die angeblich schon seit Tagen versuchten, gegen ihr bezahltes Ticket einen Sitzplatz in irgendeiner dieser Maschinen zu bekommen.

Ein Familienvater, der es wieder einmal nicht geschafft hatte, überlegte sehr laut, jetzt nicht eine größere Wohnung in der Nähe des Flughafens zu mieten, da er davon ausging, dass sein Bestreben, hier wegzukommen, doch noch etwas langwieriger sein würde.

Wir hatte als glücklich eingecheckte Gruppe dann noch etwas Zeit, und unser seit einigen Stunden zum Käpt´n beförderter Thomas fing an, das wichtigste Buch zu studieren, das uns in den nächsten 2 Wochen begleiten sollte: „Segeln in der Karibik – alle Häfen, alle Probleme, alle Lösungen“.

Als wir dann im Flieger saßen und Thomas freundlich fragte wer denn sein schönes neues Buch eingesteckt hatte, stellte sich bald heraus, dass es irgendwo in irgendeiner Abflughalle dieses großen Flughafens liegen musste.

Als Thomas den Flugkapitän daraufhin bat, noch einmal aussteigen zu können, gab es wohl im Cockpit ein kleines Missverständnis, denn der Flugkapitän schmiss umgehend beide Propeller an.

Da Thomas kurz vor dem endgültigen Einsetzen seines mit immer erheblichen Weinkrämpfen verbundenen Nervenzusammenbruches bemerkte, dass der Co-Pilot dieses schönes Flugzeuges eine bildhübsche karibische Pilotin war, nahm er schnellstmöglich all seinen Käpt’n-Ossi-Charme zusammen und sprach so intensiv von Käp´n zu Käp´n oder vielleicht auch von Frau zu Frau mit dieser netten Dame – solange, bis sie die Propeller wieder ausstellte.

5 Minuten später hatte Thomas sein Buch und die Karibik uns wieder.

Mit der gleichen Fluglinie sollte dann am späten Nachmittag der zweite Abschnitt unserer einigermaßen komplizierten Hinreise zu unserem Boot vonstatten gehen – von Antigua nach St. Vincent auf den Grenadieren.

Das Flugzeug war auch hier wieder vom Cockpit durchgehend bis zu den hinteren Waschräumen voll gefüllt, aber der Kapitän auf diesem Abschnitt war etwas mürrischer als auf dem Flug vorher.

Nachdem wir nach dem Start gerade mal 5 Minuten geflogen waren und die Insel unter uns eben dem großem Karibischen Meer Platz machte, beschloss der gute Käpt´n festzustellen, dass irgendetwas so verkehrt war im Cockpit, dass er umgehend zurückfliegen müsse.

Mit ca. 50 etwas ratlos sich permanent bekreuzigenden Mitreisenden ging es also in einer filmreifen steilen Umkehrschleife und im karibischen Sturzflug zurück direkt auf den Flugplatz von Antigua, den wir gerade erst kurz zuvor verlassen hatten.

Dort einige Stunden Aufenthalt und Warten, wobei wir in der Bar den 1:0 Sieg von Mexiko gegen Argentinien in voller Länge Live mitverfolgen konnten.

Dann schließlich tat das Leben das, was es schlussendlich immer wieder tut – es ging weiter und damit auch unsere Reise.

Bereits im Dunkeln kamen wir in St. Vincent an und wurden von dem vorher bestellten Minibus am Flughafen abgeholt.

Als wir endlich unser gesamtes Gepäck in diesem antiken Bus untergebracht hatten und verschwitzt und müde auf den letzten Teil unser Reise – vom Flughafen zum Boot im Hafen diese Stadt – warteten, weigerte sich jedoch der Chauffeur loszufahren.

Auf seinem Bus-Zettel waren 5 Personen notiert, die er abholen sollte, und jetzt waren nach 3-stündigem Warten auf dem Flughafen erst 4 in seine Bus geklettert.
Er sei ein verantwortungsbewusster Chauffeur, und er werde eben noch weitere 4 Stunden warten bis er alle 5 Passagiere für seine Fahrt in seinem Wagen hätte.

Als wir ihm daraufhin erklärten, unser Käpt’n sei zuhause geblieben, wusste er eine ganze Zeit nicht ob, und wenn ja, warum, diese Gringos das Recht haben ihn so zu verarschen – aber irgendwann fuhr er dann einfach doch los.

An der Marina angekommen stellten wir fest, daß unser Dampfer nicht am Steg, sondern irgendwo draußen im Hafen an einer Boje lag.

Da wir in dieser Nacht bereits auf dem Boot schlafen sollten, waren die beiden Alternativen, auf unser Boot zu gelangen, entweder zu schwimmen oder die Überfahrt mit einem kleinen Gummiboot zu versuchen.

Also das Gummiboot, auch Dingi genannt.

Als wir alle dann irgendwann erwartungsvoll im Gummiboot saßen, erklärte uns unser frischgebackener Crew-Kapitän in einer Mischung von Erstaunen und Anfängen einer langen Depression, dass der Außenbordmotor dieses südkaribischen Gummibootes weder einen Vorwärts- noch einen Rückwärtsgang hätte.

Wenn wir jetzt also ablegen ohne Motor, würden wir entweder irgendwo zwischen den Felsen der nächsten unbewohnten Vulkaninseln auflaufen oder direkt rüber an die Nordküste von Venezuela oder eines benachbarten Landes im Norden Südamerikas treiben.

Da es inzwischen 21 Uhr war und wir somit genau 13 Stunden unterwegs waren von Punta Cana bis kurz vor unserem Charter-Segelboot, machte ich jetzt erst mal meinen verdienten Mittagsschlaf.

Als ich wieder aufwachte, lagen wir angebunden an unseren schönem Segelboot und ich brauchte nur noch aufs Boot zu klettern und dort dann den gleichen Weg wie im vergangenen Jahr einschlagen – links hinten war Rudis Zuhause, rechts hinten Thewes und der Rest der Mannschaft irgendwo vorne.

Wir schliefen so fest und tief in dieser ersten Nacht – und dies bei der schwülen Feuchte im Hafen mit geöffneten Luken, Fenstern und sonstigen Lüftungssystemen – dass keiner von uns bemerkte, wie mehrere tropische Regengewitter den Kahn jedes Mal weiter unter Wasser setzten.

Am nächsten morgen waren sowohl wir als auch unsere Kabinen so frisch gewaschen, dass keiner sich mehr zu duschen brauchte.

Montag, 20.6.

Als ich als notorischer Frühaufsteher um 6 Uhr aufwachte, um schwimmen zu gehen, merkte ich zu meiner Überraschung, dass auch alle anderen bereits so früh in Gange waren.

Also gemeinsames Schwimmen der Crew – bei morgendlichen 27 Grad Luft und bereits 30 Grad Wasser eine recht angenehme Beschäftigung.

Hierbei wurden dann auch gleich die allgemeinen Richtlinien für zukünftiges Schwimmen und alle damit verbundenen Tätigkeiten verabredet.

Wir haben zwar an Bord separate Wasch- und Toilettenräume für jeweils die hinteren und die vorderen Kabinen, aber aus der Erfahrung des letzten Jahres wusste jeder, dass diese Toiletten und Waschräume nie benutzt wurden.

Warum? Ganz einfach: erstens ist es in diesen schiffseigenen Toiletten extrem eng, und zweitens, muss man nach Beendigung der wie auch immer gearteten körperlichen End-Reinigung einen dicken Hebel kräftig anfassen und so lange pumpen, bis durch diese Pump-Bewegung alles das, was man in der Kabine an Schmutzwasser produziert hatte, schön brav durch eine Pumpenklappe an der Unterseite des Schiffes nach draußen ins Meer gepresst wurde.

Da einige dieser Kabinen-Pumpen auf der rechten und andere auf der linken Schiffsseite ins Meer abflossen, und durch die Strömung des Schiffes und der Wellen der Abfluss des Schmutzwassers immer von der Schiffsmitte in Richtung Schiffsheck und dann weiter aufs Meer floss, war nie ganz sichergestellt, auf welcher Seite gerade Schmutzwasser ins Meer fließen könnte.

Um dies alles zu umgehen, ist man sehr schnell bei folgender Regelung angelangt: Die Sanitärkabinen werden mit Rücksicht auf eventuelle Schwimmer überhaupt nicht benutzt. Dafür bei Bedarf immer einfach nach hinten aufs Achterdeck und mit elegantem Kopfsprung ab ins Meer.

Auf der hinteren linken Meerseite dann alle nötigen Reinigungen vollziehen, und das Meer treibt alles brav weiter nach hinten Richtung Horizont – oder zum nächsten hinter uns gelegenen Segler.

Auf der rechten Meerseite dann das normale Schwimmen, Tauchen etc. – auf diese Weise ist sichergestellt, dass es zu keinerlei Kollisionen irgendwelcher Art kommt.

Wer diese letzten Absätze nicht ganz verstanden hat, wird sie verstehen, wenn er eines Tages selber in ähnlicher Form segelt.

Danach schönes Frühstück und dann sollte nach Plan getrennt marschiert werden – Thomas und Ecki wollten sich um das Boot kümmern.
Das heißt prüfen, ob genügend Wasser, Diesel. etc an Board ist, sich mit den nautischen Geräten vertraut machen und mit allem was dazu gehört.

Währenddessen sollten Rudi und Thewes in bewährter Manier die Bordverpflegung für die erste Woche einkaufen.

Wer den Bericht über Rudis Einkaufen auf dem letztjährigen Segeltörn noch erinnert, weiß ungefähr, was dieses Vorhaben bedeuten würde.

Doch das Einkaufserlebnis des letzten Jahres war nicht zu toppen.

Deswegen nur soviel: Wir hatten im Vergleich zum letzten Jahr schlussendlich gut zwanzig Prozent mehr ausgegeben für knapp die Hälfte fester und flüssiger Nahrung verglichen mit dem Vorjahr.

Es war hier in diesem Teil der Karibik alles viel teurer, dafür war aber auch die Auswahl viel geringer.

Nach unserer Rückkehr zum Boot halfen uns die fleißigen Jungs von der Bootsverleiher-Firma, alle 10 Kisten Lebensmittel und 40 Kisten Getränke ins Boot zu bringen, wo wir nach einiger Zeit, und nur unterbrochen von diversen tropischen Regenschauern, schließlich alles gut an Board verstaut hatten.

Damit stand einer Abfahrt nichts mehr weiter im Wege – außer dem Wetterbericht und ein Blick auf den Himmel.

Zwischen den Inseln, die in der Nähe des Hafens lagen, und dem Horizont des Meeres, den wir vom Hafen aus erblicken und übersehen konnten: schwarzer Himmel, schwarze Wolken und dies nur unterbrochen von weißen Schaumkronen draußen auf dem Meer.

Es gab wie immer die berühmten zwei Möglichkeiten: losfahren oder nicht losfahren.

Also Abfahrt.

Nach 10 Minuten waren wir am äußeren Ende unseres schön ruhig und geschützt liegenden Hafens gekommen.
Und auch hier gab es wieder die wie Möglichkeiten: segeln oder Motor anlassen.

Also Segel hoch.

Ich hatte von Thomas vorher gehört, dass er mit Ecki schon seit Jahren zusammen gesegelt hatte und die beiden somit ein erfahrenes und eingespieltes Team waren.

Warum dies an diesen Tag nicht so sein sollte, weiß ich bis heute nicht, nur war es nicht ihr Tag.

Nach fünf weiteren Minuten waren wir mitten drin in einem tropischen Gewitter. Die Wellen stiegen von 1-2 schnell auf 3-4 Meter Höhe und mehr.

Ich persönlich hatte so einen Sturm auf einem Segelschiff bisher noch nicht miterlebt.

Thomas am Ruder konnte nach wenigen Minuten kein Land mehr sehen, weder den Hafen, aus dem wir kamen, noch irgendeine Insel oder irgendwelche Felsen, die vor uns liegen sollten.

Ecki bekam das Segel nicht richtig runter und der Sturm blies so gewaltig in unser immer noch halbhoch stehendes Segel, dass Thomas den Kahn praktisch nicht mehr manövrieren konnte.

Rudi nutze dieses Wetter aus, um seine Fähigkeiten zu testen, bei Windstärke 10 unter Deck ein 3-Gänge-Menü zu kochen – ohne dabei durch Hin- und Herfliegen in der Kombüse mehr als 2 Liter Blut zu verlieren.

Ich selber konnten hier aus Mangel an Erfahrung nichts helfen und so stellte ich für mich fest, dass man in so einer Situation einfach nur noch ein Resümee seines bisherigen doch recht angenehmen Lebens ziehen konnte. Die Möglichkeiten, aus dieser Situation lebend oder gar heil heraus zukommen, waren irgendwie doch recht begrenzt.

Ich möchte an dieser Stelle die nächste halbe Stunde nicht weiter beschreiben, weil mein normaler, leicht drastisch-ironischer Schreibstil der entstandenen Situation genauso wenig angemessen wäre, wie ein eventueller plötzlicher Wechsel in eine wirklich ernsthaft-sachliche Berichterstattung.

Es sei nur soviel gesagt: Keiner war in diesem Moment wirklich Herr der Lage.

Egal, ob man versuchen wollte umzukehren, um die schützende Bucht einer nächstgelegenen Insel anzulaufen oder einfach nur den Kahn in den Wind drehen und abwarten und dabei Brecher auf Brecher übers Deck ziehen zu lassen – niemand wusste wirklich, was genau jetzt das Richtige gewesen wäre.

Es gelang Ecki dann, das Segel ganz runter zu bekommen, und wir konnten somit mit voller Kraft den Diesel-Motor einsetzen.

Aber die nächste Insel lag gut 2 Meilen in Lee hinter uns.

Das bedeutete, Thomas musste versuchen, mit achterlichem Wind die Wellen abzureiten.

Das hört sich vielleicht recht spaßig an, bedeutet aber, dass der Käpt’n in so einer Situation praktisch das Boot nicht mehr steuern kann.

Die Wellen sind dabei schneller als die Geschwindigkeit des eigenen Bootes und schlagen somit immer wieder von hinter über das Heck auf unser Boot. Der Krach dieser einstürzenden Wellen ist extrem, und da jeder in so einer Situation automatisch nach vorne sieht, um zu versuchen, Felsen oder irgendwelches Land zu erkennen, wird man von solchen von hinten auf das Boot aufschlagenden Wellen umso schlimmer erwischt.

Das Boot schlingerte nach allen Seiten, Wasser kam von hinten, oben und aus jeder anderen denkbaren Richtung, uns blieb nur die Hoffnung, heil an all diesen vielen kleinen Inseln vorbeizukommen, um uns dann hinter irgendeiner Insel in vielleicht ruhigeres Gewässer zu flüchten – denn sehen konnten wir in diesem Moment überhaupt nichts.

Nach vielen weiteren, ziemlich heftigen Klatschern aus allen Himmelsrichtungen, erreichten wir schließlich die schützenden Abdeckungen einer nahe gelegenen Insel.
Und sobald wir diese Insel dann umrundet hatten, war es dann auch sehr plötzlich aus mit diesem starken Sturm und all den meterhohen Wellen.

Der Himmel klarte so schnell auf, wie er sich vorher zugezogen hatte – und nach 30 Minuten war das ganze Szenario der vergangen Stunde nur noch ein riesiger, dunkler Fleck am Himmel, der sich immer weiter von uns entfernte, um vielleicht auf einer nächsten Inselgruppe seine volle Kraft den dortigen Fischern und Seglern zu zeigen.

Wir erreichten bald den Hafen dieser kleinen Nachbarinsel.

Doch da es erst 15 Uhr war und wir alle nicht genau wussten, wie wir mit dem gerade Erlebten umgehen sollten, sagte Käpt’n Thomas an, wir würden jetzt einfach noch 2 Stunden Manöver üben.

Und das taten wir dann auch – wenden, halsen, Mann über Bord, aufschießen, abfallen, hart am Wind und platt vorm Wind – in diesen 2 Stunden wurde dann einfach nur geübt und trainiert und geübt und trainiert.

Um 5 Uhr waren wir im Hafen, um 6 Uhr hatte Rudi ein lecker Süppchen gemacht und schöne holländische Seemanns-Frikadellen (2/3 Brot, 1/3 Hackfleisch, damit kann keine Frikadelle untergehen und wegkommen, Brot schwimmt immer oben…) – aber alle hatten an sich dann nur noch ein Bedürfnis – einen kräftigen Schluck Rotwein und ab ins Bett.

Um 20 Uhr war ich der Letzte, der noch ein Auge offen hatte – diese Nacht haben alle tief, fest und sehr lange geschlafen.

Dienstag 21.6.

Nach einer ruhigen Nacht in ruhiger Bucht bei ruhigem Plätschern, an einem leicht aber penetrant schaukelnden Boot, waren wir alle gegen 7 Uhr auf.

Rudi klagte über Ohrenschmerzen, das Dingi wurde klargemacht, um auf dieser Insel zwischen den ca. 2.000 Bewohnern einen Arzt oder eine Apotheke zu finden. Die Apotheke gab’s, den Arzt gab’s auf irgendeiner Nachbarinsel. Aber nach einer kurzen telefonischen Ferntherapie wurde Rudi vom Nachbar-Inselarzt irgendetwas anscheinend recht seltsames verschrieben.

Jedenfalls meinte dies die Drugstore-Besitzerin, die nach Beendigung der Telefon-Visite nur fragte, ob der Doktor dort Penicillin oder Morphium verschrieben hätte – dies waren wohl die beiden gängigsten und Standard-Kuriermittel gegen alles und jedes.

Unsere Crew kam nach einer Stunde zurück an Bord, und da sich inzwischen Wind und Sonne von ihrer jeweils besten Seite zeigten, legten wir am späten Vormittag los – diesmal absichtlich ohne konkretes Ziel, da der Wetterbericht im Radio an diesem Morgen sich etwas typisch karibisch unklar ausdrückte. Der Sprecher meinte, heute erwarte uns „schönes, ruhiges und sonniges Wetter, unterbrochen nur von gelegentlichen schweren Gewittern“.

Wir wollten als nächstes an sich zuerst weiter nach Mustique, dieser berühmten Promi-Insel.

Aber das wären bei ruhigem Wind und schönem Wetter nur 2-3 Stunden Reisezeit gewesen, und was soll man am frühen Nachmittag auf so einer Insel, wo das Leben dort nach allem was wir wussten erst Stunden nach Sonnenuntergang losgeht?

Also ließen wir Mustique an backbord vorbei liegen und segelten immer weiter südwärts.

Vorbei an kleinen und kleinsten Inseln, die alle als „die Grenadiere“ in der Geschichte der Karibik ihre Rolle gespielt hatten, jetzt aber meist recht verschlafen und vergessen dalagen – teilweise von einigen hundert, teilweise nur von einer kleinen Handvoll Leuten bewohnt.

Knackpunkt für eine Besiedlung ist einzig und allein das Trinkwasser.
Wenn es Süßwasser auf einer Insel gibt, ist sie schnell bewohnt. Wenn nicht, gibt es nur das mühevolle und in früheren Zeiten sehr unsichere Geschäft, das Regenwasser in Zisternen zu sammeln und zu hoffen, dass neuer Regen fällt, ehe das alte Wasser völlig verfault ist.

Bei herrlichem Wetter, gutem Wind und guter Stimmung segelten wir bis in den Nachmittag, um dann vor den berühmten „Grenadiere keys“ vor Anker zu gehen.

Das Wetter blieb schön, und so fuhren wir mit dem Dingi zu diesen berühmten Riffs, die sich wie ein riesiges großes Hufeisen im Halbkreis um eine Reihe von kleineren und größeren Inseln erstreckten und wo es laut aller Karibik-Führer die schönste Unterwasserwelt der Karibik zu sehen gab.

Dieses kilometerlange Riff reicht bis knapp einen Meter unter die Wasseroberfläche und ist somit für alle Boote unpassierbar. Deshalb hat sich hier eine Unterwasser-Flora und -Fauna entwickelt, praktisch ungestört entwickeln können, die man schwimmend und nur mit Taucherbrille und Schnorchel ausgestattet, ganz leicht, direkt und intensiv erleben kann.

Es war auch recht beeindruckend, aber wir alle waren der Meinung, dass die in den letzten Jahren erlebte Unterwasserwelt auf den Britisch Virgin Inseln doch noch viel intensiver und schöner war.

Da dies die einhellige Meinung aller war beschlossen wir, nicht wie ursprünglich geplant, hier noch einen weiteren Tag zu verbringen, sondern noch eine Nacht in irgendeiner stillen Bucht, um dann am nächsten Tag unsere Fahrt nach Süden weiter fortzusetzen.

Abends hatte unser lieber Käpt’n Thomas dann seinen totalen Blackout – die ganze Anspannung der ersten 2 Tage kam irgendwie jetzt von innen durch und wurde nach bewährter Seemanns-Art dann auch konsequent in ca. 2 Flaschen Rum, 1 Kilo Limonen, 2 Kilo Eis und etwas Cola ertränkt.

Ich selber bin dann in der Nacht so gegen 2 Uhr morgens von einem tropischen Gewitter wach geworden – diesmal aber nur reiner Platzregen ohne Wind und Sturm.
Es schüttete aus allem, was am Himmel überhaupt an Wolken war und ich musste alle Luken, Türen und Fenster des Schiffes zumachen, um den Wassereinbruch ins Schiff zu verhindern.

Käpt’n Thomas lag derweil friedlich an Deck des Schiffes auf einer Bank und schlief einfach fest und konzentriert seinen Rausch aus, während der Regen in Sturzbächen auf ihn niederprasselte.

Als wir ihn am nächsten Tag mit der Nachricht aufweckten, dass in der nächsten Stunde ein kräftiger Wind über den heimatlichen Greifswalder Bodden aufkommen würde, war er sofort wach und fing an, plattdeutsche Kommandos auszugeben.

Er versuchte seinen nächtlichen Traum, dass er in der Karibik gewesen wäre, so schnell wie möglich zu vergessen und zu verdrängen und hatte somit doch noch eine längere Zeit seine ganz persönliche Identitätskrise.

Am nächsten Morgen erinnerte sich dann noch einer von uns an Thomas‘ vorabendlichen Versuch, mit dem größten Teller, des schön von Rudi gekochten Knoblauch-Hähnchens in Rotwein, einen Teller-Weitwurf-Versuch rückwärts über den eigenen Kopf ins Meer zu versuchen.
Er meinte, es gäbe hier eine besondere Art von Riff-Haien, die voll auf diese Knoblauch- Hähnchen abfahren würden.

Als diese Geschichte des vorabendlichen Hähnchen-Teller-Weitwurfs morgens beim Frühstück besprochen wurde, bestritt Thomas aufs Heftigste, dass daran auch nur ein Funken Wahrheit sei.

Aber als Profi-Taucher ging er dann doch gleich nach dem Frühstück mit einem großem Klatsch in die von uns angegebene Richtung ins Meer, und kam schon wenige Augenblicke leicht verstört, mit einem vom wem auch immer ganz sauber abgeleckten großen Teller aus unserer Kombüsen-Teller-Kollektion, wieder aus den Fluten an die Wasseroberfläche empor.

Soweit zum Thema Wegwerf-Gesellschaft.

Mittwoch 22.6

Bei durchwachsenem Wetter – mal Regen, mal Sonne, aber recht viel Wind, verließen wir gegen Mittag die berühmten Tobagos-Keys Riffs, ohne großen Abschiedsschmerz und segelten 2 Stunden lang Richtung zur südlichsten Insel der Grenadieren, einem kleinen Eiland genannt Union.

Ca. 3.000 Leute sollten hier wohnen und wir mussten hier sowieso anlegen, da wir nach dieser Insel den Staat „St. Vincent and the Grenadiere“ verlassen würden, um nach dem noch weiter südlich gelegenen Inselstaat Grenada zu segeln.

Da muss man dann immer brav mit allen Pässen und vielen sonstigen Schiffspapieren zur Hafenmeisterei latschen und gleichzeitig zu dem dort auch immer anwesendem Zoll.

Im Grunde ist es eine Abfertigung, wie man sie aus jedem internationalen Flughafen kennt – wenn man ins Ausland fliegt, muss man die Passkontrolle und eine Sicherheitskontrolle passieren und wen man dann in einem anderen Flughafen ankommt, muss man wieder durch die dortige Passkontrolle und dann auch immer noch durch den dortigen Zoll.

Genauso ist es in der Theorie auch bei jedem kleinen und kleinsten Inselstaat, den man per Boot verlässt und dann einen neuen Inselstaat per Boot wieder neu anläuft.

Nur dass es eben doch einen Unterschied macht, ob man in Frankfurt abfliegt oder ankommt, oder in einem Kleinstaat, der aus einer Handvoll kleinen und minikleinen Inseln besteht.

Aber auch hier haben wir im Laufe der Reise nette und weniger nette Menschen in diesen Hafenmeistereien kennengelernt, man war eben genauso Bürokrat oder Helfer, Angeber oder Schlafmütze wie an allen anderen Behörden-Plätzen dieser Welt.

Da der Außenbord-Motor unseres kleinen Beibootes von Anfang an nicht richtig funktionierte, wurde er hier einem Mechaniker anvertraut, in der Hoffnung, dass dieser freundliche rasta-gelockte Mensch außer mit einigen Voodoo-Beschwörungsformeln auch noch etwas handwerklich an diesem wichtigen Transport-Motor würde verbessern können.

Der Ort selber auf dieser kleinen Insel bestand aus 5 Kneipen, 8 Internet-Cafes und 3 Gemischtwaren-Läden.
Die Bewohner scheinen überwiegend von mehr oder weniger zufällig eintreffenden Touristen zu leben – für diese Touristen waren dann auch noch 2 Taxis und ein Polizeiwagen gut sichtbar neben der Hafenmole stationiert.

Wir verbrachten einen ruhigen und gemütlichen Tag auf diesen von der gesamten übrigen Welt ziemlich vergessenen und verlorenen Inselchen.

Abends holte Thewes die Gitarre raus und gemeinsam wurden die gesammelten Hits der 60er und 70er Jahre schön laut und in einem Remix aus nordeuropäischen Männerkehlen dem staunenden und fasziniert lauschenden, einheimischen Publikum dargebracht.

Ein gemütlicher Tag mit einem schönen Abschluss.

Donnerstag 23.6.

Der Außenbord-Motor wurde tatsächlich pünktlich morgens gebracht, und nach einigen Tests schien er wirklich erfolgreich repariert worden zu sein.

Südlich dieser Insel Union gab es noch 2 ganz kleine Inseln, die noch zu St. Vincents gehörten, danach gingen die nächsten Inseln dann in Aussehen und Größe übergangslos in die nächste noch weiter südlich gelegene Inselgruppe des Zwergstaates Grenada über.

Vormittags segelten wir zu diesen kleinen Inselchen, über Mittag dann weiter nach Corzon, der nördlichsten Insel der Republik Grenada.

Grenada war Anfang der achtziger Jahre einen kurzen Augenblick in die Augen der Weltöffentlichkeit gelangt, weil deren Präsident sich mehr um seine UFO’s als um seine 150.000 Untertanen kümmerte.

Als er dann vor der UNO in New York in einer Rede anfing, über seine Begegnungen mit seinen neuen außerirdischen Freunden zu berichten, und gleichzeitig als überzeugter Marxist sein Land immer mehr und freundschaftlicher mit Kuba verbinden wollte, gab es eine kleine Revolution auf Grenada.

Er und sein gesamtes Kabinett wurden von seinen politischen Gegnern erschossen.

Aber als sich rausstellte, dass die neuen Machthaber jetzt statt eines braven Marxismus einen reinen Steinzeit-Kommunismus errichten wollten, griff der damalige amerikanische Präsident Reagan ein und besetzte in einer Nachtundnebel Aktion die Hauptstadt durch amerikanische Truppen.

Und nach 3 Tagen gab es plötzlich eine neue und brav konservativ ausgerichtete Regierung, die politisch bis heute an der Macht ist.

Wir besuchten 2 schöne Buchten auf der kleinen Insel Corzon, deren 1.500 Bewohner sehr beliebt sind für ihre Freundlichkeit und ihren wirklich noch richtig karibischen Lebens- Rhythmus – ein fröhliches und unverfälschtes Easy-going gibt dort immer noch den Ton an.

Es gab auf dieser Insel zwar nur 1 Internet-Shop und mehrere kleine, einfache einheimische Restaurants, dafür aber mehr als 10 lokale Rum-Shops, wo die Auswahl der braunen und weißen Blindmacher laut Auskunft von fröhlichen und dauerbekifften Stammkunden wirklich exzellent gewesen sein soll.

Wir blieben aber trotzdem bei unserer Stammverpflegung, die nach einigen Tagen auch für Ossis und fliegende Holländer klar und einprägsam war – bei ungeraden Stunden-Anfängen gab es Cola Rum, bei geraden Stunden-Anfängen und gleichzeitigem Tageslicht gab es Bier, ab einbrechender Dunkelheit bis hin zur totalen Umnachtung gab´s dann Rotwein und Käse.

Nach einigen Stunden auf dieser kleinen und so gottverlassenen Insel kam dann das Aufbruch-Kommando und Rudi fing wieder einmal in seiner Kombüse an zu zaubern – wie immer mit großem Erfolg.

Ein schöner Tag ging mit doppeltem Sonnenuntergang zu Ende – der dunkelrote Horizont vermischte sich angenehm mit einem gleichfarbigen Rotwein, und irgendwann ging alles unter.

Am nächsten Tag wollten wir einen sehr langen Törn machen, ca. 8 – 12 Stunden ganz ohne Motor bis an die Südspritze von Grenada – der Käptn sagte also für den nächsten Morgen ein allgemeines Wecken um Punkt 6 Uhr an.

Freitag 24.6.

Um 6.30 war tatsächlich die gesamte Mannschaft einschließlich aller Offiziere und aller Kapitäne wach, einigermaßen nüchtern und voller Tatendrang.

Nach dem allmorgendlichen Ritual zur Feststellung des aktuellen Gesundheitszustandes – im Klartext :

Die Anzahl der leeren Weinflaschen des Vorabends wurden durch 4 geteilt, genauso wie der Pegel der Rum-Gallone und die Anzahl der Limonen-Schalen.

Und wenn es dann eine gerade Zahl ergab, wurde die Besatzung als gesund erklärt.

Sollte diese mathematische Wahrscheinlichkeits-Berechnung aber eine ungerade oder krumme Zahl ergeben, musste nachgeprüft werden, wer in so einem Fall aus Versehen eine Flasche Rotwein oder Rum zusätzlich ausgelutscht hatte.

Doch an diesem schönen Morgen – in Sichtweite einiger völlig unbekannter und trotzdem sehr friedlich daliegender Inseln – wurden keinerlei besondere Ausfälle vermeldet, und somit konnte es pünktlich losgehen.

Wir hatten nach dem Wetterbericht eine Reisezeit von ca. ca. 8–9 Stunden errechnet und es war nur noch die Frage, wie der Wind mitspielen würde.

Es war eine lange und teilweise recht turbulente Tagesreise, da der Wind nach den ersten 4 Stunden beschloss, sich völlig zu drehen.

Somit hatten wir zuerst 4 Stunden mit Wind schräg von vorne, was die Geschwindigkeit sehr reduzierte.

Doch dann gab es die nächsten 6 Stunden ein permanentes Geschaukel durch Wind direkt von hinten.
Solch „achterlicher“ Wind führt dazu, dass das Schiff eine permanente und penetrante Schaukelbewegung macht. Diese Schaukelbewegung kann man am besten nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, auf einem schönen Kinderspielplatz auf einer großen Schaukel zu sitzen, und jetzt steht ein netter Mensch hinter einem und gibt Stunde um Stunde immer schön Schwung von hinten – man schaukelt und schaukelt und schaukelt – mir wird beim Schreiben jetzt schon wieder leicht schwummerig.

Wer das überlebt hat, ohne irgendwann dabei an Rührei mit klein geschnittenen Gummibärchen oder an Sahnetorte in Olivenöl zu denken und dementsprechend zu reagieren, der hat seine seemännische Feuertaufe hiermit in Ehren bestanden.

Das Wetter war den ganzen Tag über schön sonnig. Nur gelegentlich gab es kleinere tropische Regenschauer, die zwar alles nass machten, aber nach wenigen Minuten war danach alles wieder verdampft und die Sonne knallte sofort wieder auf Deck.

Das unangenehme an solchen tropischen Regenschauern ist nur, dass sie natürlich immer wieder ganz plötzlich auftauchen, und sich in einem enormen Platzregen entladen.

Alle Kabinen an Bord haben oben in der Decke und an den Kabinen-Seiten die verschiedensten Luken und andere Fensteröffnungen, die zum Beispiel nachts immer bis zum Anschlag geöffnet sind – anders ist bei nächtlicher Windstille und tropischen Temperaturen um 30 Grad die Luft in den doch relativ kleinen Kabinen nicht zum Aushalten.

Und wenn man jetzt gerade eingeschlafen ist und das Wahrnehmungspotential, oder einfacher gesagt die Reaktionszeit nach erfolgreicher Rotwein-Vernichtung, gerade auf 5 – 10 % gesunken ist – dann ist die Zeit zwischen aufwachen, Lage erkennen, Entscheidung ob liegenbleiben oder aufstehen – eben nicht eine Frage von Sekunden, sondern die von vielen besinnlichen und gedankenvollen Minuten.

So ist es denn auch der Normalfall, dass der Regen aufgehört hat, bevor man sich entschieden hatm die Luken und Fenster zu schließen.

Nur das schlürfende „schwapp-schwapp“ der 50 Liter Regenwasser, die sich nun gleichmäßig auf dem Kabinenboden verteilt haben, und die sehr genau den Schlingerbewegungen des Bootes folgend inzwischen auch den letzten Winkel des Fußbodens der Kabine erreicht haben, erinnern dann daran, dass man wohl doch etwas zu langsam reagiert hatte.

Mit der Zeit lernt man die optimale Schlafposition. Sie ist dann erreicht, wenn der eigene Kopf genau senkrecht unter der größten geöffneten Dachluke liegt.

Die Dusche am Anfang jedes tropischen Nachtgewitters bewirkt, dass man dann meist doch noch rechtzeitig aufsteht, um dem Hauptteil der Wassermassen den Zugang zum Kabineninneren zu verwehren.

Wir kamen gegen 14.00 Uhr in einer schönen Bucht am Süd-Ende von Grenada an und konnten hier dann das machen, worauf man sich, während eines so relativ langen Törns, am meisten freut – ab ins Wasser und baden.

Normalerweise badet man so 5–8 mal am Tag.
Oftmals kurz, aber bei einer Temperatur von 40 bis weit über 50 Grad in der Sonne ist ein Meer von gut 30 Grad Wassertemperatur zwar keine direkte Erfrischung, aber zumindest eine angenehme Abwechslung.

Grenada ist laut Karte eine der größten Inseln der südlichen Karibik, aber gleichzeitig trotzdem nur ein Eiland von 70 Kilometer Länge und 20 Kilometer Breite.

Da wir die gesamte östliche Seite an diesem Tag abgesegelt hatten, um an die Südspitze zum Hafen zu gelangen, sahen wir dabei, dass die gesamte Nord-Süd-Küste sehr steil und bergig war.

Es gibt zwar fast überall Häuser, die an diese Berge irgendwie angeklatscht und dann in den verschiedensten Pastellfarben gestrichen sind – aber wo dazwischen noch irgendwelche Strassen oder sonstige Verbindungswege waren, konnten wir vom Wasser aus nicht erkennen.

Laut der kleinen Bord-Bibliothek, die aus 6 immer mehr zerfledderten Hustler-Magazinen, einem indonesischem Kochbuch, einem Gedichtband von Rainer Maria Rilke auf norwegisch und 2 Navigationsbüchern über die Einfahrten in die Häfen von Sydney und Tasmanien bestand, aber auch einem Band „Karibik 1948 für Anfänger“ – sollte das Innere dieser Insel Grenada sehr interessant, pittoresk und oftmals noch völlig naturverbunden sein.

Wir beschlossen deswegen, morgen einen richtigen Land-Tag zu machen, uns ein Auto zu mieten und einmal die gesamte Insel zu durchstreifen.

Den späten Nachmittag und Abend blieben wir an Bord und warteten, bis Rudi seine berühmten Sparribs mit Honig, Knoblauch und Gurkensalat fertig gezaubert hatte.

Dann aber riefen auch bald die Geister der Kojen und somit gingen wir nach diesem sehr langen Tag bereits zu ungewöhnlich früher Zeit in die Kabinen. Dort wurde von jedem die bereits beschriebene, eingeübter Regen-Lauer-Stellung unter den Dachluken eingenommen.

Außerdem waren wir alle wie immer gespannt über den Ausgang des allnächtlichen Schnarchwettbewerbes: Rudi gegen den Rest der Welt.

Sonnabend, 25.6.

Um 9 Uhr wurde das Auto pünktlich am Pier angeliefert und nach einer kurzen Einweisung wurden wir vier in den karibischen Links-Verkehr entlassen.

Da viele Inseln früher britische Kolonien waren, gibt es dort natürlich auch noch immer den schönen englischen Links-Verkehr.

An sich nichts Besonderes, es gibt täglich sicherlich tausende von Touristen, die sich in Japan, Australien, Indien, Südafrika oder Merry Old England mit diesem, für sie ungewohnten Fahren auf der falschen Seite, abfinden müssen.

Auf den karibischen Inseln ist es dazu noch einfacher, weil man hier in sehr ausgeprägter Art und Weise seine Gefühls-Komponente in den Linksverkehr mit einbringt.

Wenn man zum Beispiel das Gefühl hat, dass man bei wenig Gegenverkehr doch lieber rechts fahren möchte, dann folgt man seinem Gefühl.

Und wenn man das Gefühl hat, der vor, hinter oder neben einem fahrende Bus, LKW oder Taxifahrer ist heute mehr Feind als Freund, dann folgt man ebenfalls seinem Gefühl und lässt es ihn wissen.

Oder wenn man in eine Einbahnstrasse fährt und hat das Gefühl, diese Einbahnstraße verlängert nur den Weg zum Ziel, dann folgt man seinem Gefühl und deklariert die Richtung dieser Einbahnstrasse einfach um.

Thomas war Käpt’n auf dem Boot, also wurde er per Akklamation auch zum Fahrer unseres Autos bestimmt.

Rudi hatte von der gesamten Mannschaft die wenigsten lebenden Verwandten und bekam dementsprechend den Vordersitz neben Thomas zugeteilt.

Außerdem war er somit automatisch Co-Pilot und hatte die nächsten 6 Stunden lang beide Hände an der, in der Mitte des Wagens befindlichen Handbremse, um im Notfall den Aufprall der Karre auf Berge, Busse oder Polizeiwagen etwas sachter zu gestalten.

Nach einigen Test-Bremsungen, die Rudi mit Bravour bestand, wussten wir, dass wir bei voll durchgezogener Handbremse immer noch in Ruhe „dreiundzwanzig, zweiundzwanzig, Knall“ abzählen konnten, bevor wir die Berge oder die Stoßstangen der vor uns stehenden Busse erreichen würden.

Dann ging es los.

Die nächsten 6 Stunden fuhren wir alle Wege kreuz und quer über die Insel ab. Das Fahren war eine einzige Hochgebirgstour, auf 500 Meter Straßenlänge gab es mindestens 10 – 20 Kurven.

Die Insel ist auch im Inneren völlig bergig, und von den insgesamt ca. 90.000 Bewohnern hat mit Sicherheit kein einziger Grenadier ein Haus oder eine Hütte, welche ebenerdig liegt.

Jedes Haus ist mit irgendwelchen Holztreppen – oder Betonstufen gebaut – der einzige größere Unterschied ist die Anzahl dieser Treppenstufen.

Es gibt kein Haus, an dem nicht diverse kleine und größere Stufen und Treppen angebracht sind – und sollte demnächst im olympischen Programm das unnütze Tandem-Fahrradfahren durch das genauso unnütze Treppensteigen ersetzt werden, hat Grenada gute Chancen auf die erste Medaille seiner Geschichte.

Ansonsten gab es in der Inselmitte viel tropischen Regenwald, der lediglich von 2 kleinen Strassen durchzogen war. Diese beiden teilweise asphaltierten Pfade waren denn auch ein fester Bestandteil aller unserer Inseldurchquerungen.

Da beide nur knapp 3 Meter breit waren, gab es bei Gegenverkehr keine normale Ausweichmöglichkeit.

So artete jede Begegnung mit einem entgegenkommenden Auto, Eselskarren oder Minibus in einen der klassischen Konflikt-Grundsatzfragen aus: „Er oder Ich“.

Hier noch mit den karibischen Varianten „Sein oder Nichtsein“ oder in der lokalen Schreibweise Grenadas „To be or not to be“.

So waren wir dann auch irgendwann in der Mittagszeit Zeuge , wie ein PKW kurz vor uns ca. 40 Meter in eine Schlucht gerast war.

Gott sei Dank hatte der Fahrer überlebt.

Aber die Strasse war damit für Stunden blockiert.
Und nur die beschwörenden und dramaturgisch sich geschickt steigernden Ausrufe von Rudi und Thomas, dass sie vor Jahresende noch einmal einige ihrer vielen Kinder auf den verschiedenen karibischen Inseln sehen wollten, bewegte den Chef der Zuschauer, uns eine Bahn durch die Menschenmenge und die beim Unfall zerstörten und abgebrochenen Palmen und sonstige Bäume zu bahnen – wir konnten somit tatsächlich nach einer Stunde weiterfahren.

Zwischendurch machten wir dann noch einen Stopp an einem Wasserfall und stellten fest, mit welcher Kraft das Wasser nach nur 25 oder 30 Meter freien Fall unten ankam.

Obwohl es ein relativ kleines Flüsschen war, welches an dieser Stelle über größere Felsen in die Tiefe stürzte, hatten Ecki und ich, die wir uns unter diesen Wasserfall begaben, um dort kauernd den Helden zu spielen, in kürzester Zeit die heftigsten Rücken-Durchblutungen durch diese permanent prasselnden Wassermassen.

Irgendwann ging auch diese Fahrt zu Ende, und am Nachmittag gab´s dann noch eine etwas ruhigere Besichtigung der kleinen Inselhauptstadt.

Dabei mein obligatorischer Kurz-Besuch in einem Internet-Cafe – so ganz ohne Internet kann man es dann doch nicht aushalten.

Gegen 18 Uhr waren wir wieder auf unserem Schiff –und dann baden, baden, baden.

Dann noch Pläne studiert, wie wir am nächsten Tag zu unserem nächsten Ziel St. Vincents gelangen könnten.

Abends gemütlich geklönt und auch heute wieder relativ früh ins Bett, schließlich hatten zumindest der Käptn und Rudi an diesem Abend ein etwas längeres Stoß- und Dankgebet in Richtung unseres lieben Karibik-Gottes aufzusagen

Rudi muss eine Antwort bekommen haben, denn an diesem Abend machte er seine Schnarch-Kabinen-Kojentür selber zu.

Sonntag, 26.6.

Morgens um 7.30 Uhr sollte unser Leihwagen zurückgegeben werden.

Und was keiner für möglich gehalten hatte – es war tatsächlich an einem Sonntagmorgen um halb acht ein pflichtbewusster Grenadier – oder wie sonst immer man die Einwohner dieser Pfeffer-Insel auch nennen mag – an der Pier im Hafen, um unseren Käpt’n zu erwarten, der sich also pflichtbewusst pünktlich mit unserem Dingi-Beiboot zur Hafenmole auf den Weg gemacht hatte, um Schlüssel, Papiere und die Reste des Wagens zurückzugeben.

Was dann noch so im einzelnen ausdiskutiert wurde, konnten wir vom Boot aus nur bruchstückweise mitbekommen, jedenfalls schien der Leihwagen-Vermieter nicht bereit, unserem Käpt’n schwimmend auf unser Boot zu folgen.

Nach diesem schönen Tagesanfang waren wir alle darauf eingestellt, nun umgehend loszusegeln, um in einem 8 oder 9-stündigen Trip die nördliche Insel von Granada anzusteuern und danach dann weiter nach St. Vincent zu segeln.

„Steuern“ war sicherlich das Schlüsselwort für das, was sich ab dann an Bord abspielte.

Käpt’n Thomas liess den Anker hochholen und fuhr bravourös und elegant einige Meter rückwärts, um sodann in einer imponierenden Drehung dem Hafen den Rücken zu kehren, um so aufs offene Meer zu gelangen.

Doch irgendwie war er dabei etwas zu optimistisch.

Das Boot machte einen kleinen Ruck, das Steuer einen kleinen Klack, und das war´s dann auch .

Der Käptn versuchte umgehend, noch einig kleinere Manöver zu fahren, um den Kahn aus der Nähe der Uferfelsen und zurück in die Strömung zu bringen – aber irgendwie hatte er dabei die Seele unserer Dampfers getroffen und tief verletzt.

Das Boot reagierte genauso wie der gescholtene Ehemann nach jahrelangem Kampf um die Fernbedienung – er setzt sich in die Ecke, nimmt übel und wartet schmollend bis die nächste Sportschau kommt.

Bei unserem treuen Segelkutter ging nichts mehr.

Das Ruder war blockiert in seiner jetzigen Position – wenn man jetzt losfahren würde, wäre es nur noch eine Frage, ob wir in einem Dauerkreis von 20 oder 30 Metern Durchmesser fahren würden.

Somit stand nach 10 Minuten intensiver fachmännischer Beratung zwischen Käpt’n, seinen Offizieren und dem Koch fest, dass wir, mit so einem total blockierten Ruder, auf ewig, wie der Wasser-Esel einer anatolischen Dorftränke, im Kreis laufen würden.

Es bildeten sich 2 Lager.

Die Leute mit einigermaßen technischen Grundverstand fingen an, ihre Theorien über die allgemeine und die besondere Mechanik zu diskutieren.
Der Chronist als überzeugter Geisteswissenschaftler zog sich in die Kabine zurück und wartete dort auf die erlösende Eingebung.

Es sei hier vorweg angemerkt, dass sie genauso wenig kam wie einige andere Eingebungen, auf deren Realisierung sein näheres Umfeld ebenfalls seit geraumer Zeit vergeblich wartete.

Die anderen fingen an, aus den verschiedensten und entlegensten Ecken und Verliessen unseres Dampfers eine Unmenge von Werkzeug anzuschleppen. Diese waren dann entweder total eingerostet oder völlig verfettet – auf jeden Fall waren darunter diverse Folterinstrumente, die in jeder gut sortierten Reihenhaus-Garage ihren Stammplatz haben sollten.

Mit diesen metallenen Erfindungen aus Generationen der Mechaniker-Zunft versuchten sie dann, dem Problem auf den Grund zu gehen.

Aber das einzige, was dabei immer mehr dem Grund zuging war unser schönes Boot.

Wir hatten im Hafen ziemlich in der Nähe einer kleinen Sandbucht geankert, weil dort der Anker gut und fest das Boot vor Strömung und Schaukelwellen schützt – und genau dieser Sandbank näherten wir uns nun mit unserem manövrierunfähigen schönen Segelboot von Minute zu Minute immer schneller und bedrohlicher.

Falls wir mit Kiel, Schraube und Ruder in diese Sandbank eindringen sollten, um uns dort gemütlich einzugraben – dann konnten wir mit Sicherheit schon einmal einen verträumten Blick auf unsere Rückflug-Tickets nach Punta Cana werfen.

Denn eine unvorhergesehene Rückreise, bedingt durch ein tagelanges Reparieren in einem südkaribischen Trockendock, war dann mit Sicherheit unvermeidbar.

Unsere 3 Muskeltiere aber wollten so einfach doch nicht aufgeben.

Sie krochen in irgendwelchen tieferen Verließen im Heck unseres Dampfers herum – Gegenden, die wir bis dato nur als hintere Vorratsräume für unsere 40 Kisten Rotwein, 10 Kisten Wasser, 20 Kisten Cola und 4 Fässer Rum gekannt hatten.

Also erst einmal alles ausräumen…

Gott sei Dank hatten wir kurz vorher gerade Bergfest gefeiert – das heißt, die zeitliche Hälfte unseres Segeltörns war gerade überschritten worden.

Also brauchten nur noch die restlichen 6 Kisten Rotwein, 10 Kisten Wasser und das letzte halbe Fass Rum ausgeräumt werden, um damit Platz für den Käptn zu machen, der unter diesem ganzen Wust von Proviantkammern auch noch einen Zugang zur Ruderanlage vermutete.

Vorher mussten dann aber noch die hinter den Rum-Fässern versteckten Schwimmwesten und das Angelzeug einschließlich einigen ziemlich toten und inzwischen zu karibischem Stockfisch mutierten Fischen entsorgt werden.

Und dann fand er tatsächlich eine Klappe, an der ein total verrostetes und abgeblättertes Metallschild so etwas wie den Eingang zum Maschinen- und Ruderraum versprach.

Ich selber war, wie gesagt, nicht bei all den folgenden Diskussionen dabei.

Aber aus den dumpfen Flüchen, die von Käpt’n Thomas aus den untersten Eingeweiden unseres Dampfers nach oben drangen in Richtung der Kabinen, und den teils hektischen, teils sonoren Kommentaren unserer restlichen Besatzung, die an Deck stand, und dabei mit einer immer größer werdenden Flut von technischen Bemerkungen ihre offensichtliche Ratlosigkeit so elegant wie möglich zu überspielen versuchte – aus diesem gesamten Szenarium heraus schloss ich ziemlich klar, dass der einzige Erfolg bis dato war, dass der Kapitän sein Schiff doch noch etwas besser kennen lernte.

In der folgenden Stunde wurde viel gearbeitet, viel geflucht, viel verworfen und neu angefangen – aber schließlich auch viel erreicht.

Nach gut einer Stunde schreien alle gemeinsam auf, zogen an irgendwelchen Seilen und Drahtverbindungen und lagen sich daraufhin dann gemeinsam verträumt in den Armen – das Ruder war frei wie der Opa nach der Scheidung, repariert und wieder voll funktionstüchtig.

Da ich selber solche technischen Erfolgs-Erlebnisse mangels totaler manueller Unfähigkeit bisher noch nie erleben durfte, würde ich es als Regisseur eines Filmes „Die Rettung in der Karibik“ in etwas so ausklingen lassen :

Die drei Protagonisten – völlig ölverschmiert, glücklich, mit etwas feuchten, aber immer noch fest blickenden Augen, sehen sich erst ihr Steuer an, dann sich selber.

Die Kamera zoomt langsam weg und ein immer kleiner werdendes Segelboot segelt langsam gegen den Horizont, dessen Farben von gelb über orange dann im untergehenden Abendlicht versinken.
Und auf der Leinwand erscheint unklar, aber dann immer kräftiger werdend, von oben nach unten der Abspann, und dann schließlich – untermalt von Haydns 3. Violinkonzert – „The End“ .

Zurück in die tropisch heiße, südkaribische Wirklichkeit.

Wir segelten tatsächlich so gegen 11 Uhr los, und brauchten bei mäßigen, aber fast stetig aus der falschen Richtung kommenden Wind gute 10 Stunden, bis wir unser Ziel – eine Mini-Insel auf St. Vincent und den Grenadieren – erreichten.

In einer kleinen und sehr ruhigen Bucht, in der wir auf unserer Hinfahrt vor einigen Tagen schon einmal geankert hatten, machten wir fest, um dort die Nacht zu verbringen.

Abends gab es dann als Highlight noch ein köstliches Steak mit westfriesischem Kartoffelpüree.

Westfriesisch insofern: Seit wir zu unserem Koch nicht mehr „Käse-Holländer“, sondern jetzt seit einigen Tagen „Stolzer Westfriese“ sagten, wurden wir täglich mit neuen Streicheleinheiten seiner Koch-Fantasie belohnt.

Hinzu kam von Ecki sein berühmter flambierter Mecklenburger Gurkensalat.

Und da wir jetzt, bedingt durch die morgendliche Umpack-Arie, wieder einen ungefähren Überblick über unsere Restbestände an Rotwein, Rum und sonstigen karibischen Blindmachern hatten, konnten wie abends dann diese Restbestände auf das geplante Soll reduzieren.

Das heißt, überall, wo wir im Laufe der ersten Woche mit dem Austrinken aus irgendwelchen Gründen nicht ganz im Limit lagen, wurde diese Vorgabe-Menge an diesem Abend korrigiert, so dass wir für die zweite Woche wieder klare, und transportmäßig gesprochen, wieder tragbare Rest-Mengen hatten.

Dabei sangen wir kräftig, und die Gitarre tat zum zweiten Mal ein gutes Werk, in dem sie Ecki, Rudi und Thomas zu immer dramatischeren solistischen Höchstleitungen bewegte.

Ich habe im Laufe der ersten 50 Jahre meines Lebens schon so manche große Gesangsleistung mit meiner Gitarre in Dur und Moll begleitet, aber eine morgens noch so nahe am seglerischen Abgrund stehende und dann wieder ins pralle Leben zurückgerufene Crew musikalisch zu begleiten – und dabei das Innerste aus ihren geschundene Seelen herauszuholen – das war einer der absoluten Höhepunkte meines persönlichen künstlerischen Schaffens.

Hans Albers würden die Tränen über alle Backen gelaufen sein, hätte er Ecki´s elegische Version von „komm doch, komm doch Kleine…“ gehört.

Und Freddy Quinn hätte einige seiner goldenen Schallplatten von der Wand gerissen und sie bewegt und gerührt Thomas zugeschmissen, denn so wie unser Käpt’n „La Paloma“ oder „Das weiße Schiff nach Hongkong“ interpretierte, hat es wohl bis dato noch niemand geschafft.

Das ganz unter der erfahrenen Leitung unseres westfriesischen Rudi Carrells der Karibik- alles was dann noch übrig blieb, war einfach schön.

Montag, 27.6.

Nach einigen Minuten Kurzschlaf dann baden, durchzählen, baden, Boot aufklaren und Abreise aus der Bucht in Richtung einer weiteren Bucht, wo es ein Häuschen geben sollte, welches unsere Papiere abstempelt, damit wir guten Gewissens die nächste Inselrepublik hier ansteuern konnten.

Das Reinigen und Aufklaren des Bootes gestaltet sich etwas schwieriger als in den Tagen davor, da irgendwelche bösen Menschen uns anscheinend nachts einen Besuch abgestattet hatten, um bei uns an Deck eine oder mehrere Insel-Ziegen abzuschlachten.

Die Sitze, der Tisch, die Masten und diverses Tauwerk waren alle mit einer leicht rötlichen Farbe überzogen, eben genau so, wie es kommt, wenn man einer Ziege in Kurdistan zur Hochzeit die Gurgel durchschneidet, um sie dann gemeinsam zu verspeisen.

Nur hatte hier, um der Wahrheit die Ehre zu geben, diese Ziege entweder vorher einige Fässer Rum ausgelutscht oder sie war mit Rotwein aufgezogen worden.

Es wurde jedenfalls festgestellt, dass die Anzahl von Rotwein saufenden Ziegen in der Karibik sehr begrenzt ist – somit war der Opfertod dieser armen Kreatur schlussendlich als reine Schutzbehauptung entlarvt – die Sauerei hatten wir doch wohl selber produziert.

Aber 10 Eimer Salzwasser mit einer Familienpackung Spülmittel verwandelten das Deck schließlich wieder in einen Platz so sauber, dass die die karibische Sonne das strahlende Weiß von Tisch, Stuhl und Bordwand nur noch grell reflektieren konnte – die Spuren nächtlichen Gelages waren unwiderruflich getilgt.

Und irgendwann ging es dann auch los – so gegen 9 Uhr starteten wir unseren nächsten Trip weiter in die bizarre Inselwelt kleiner und kleinster Eilande zwischen Grenada und St. Vincent.

Der genaue Name all dieser Insel spielt überhaupt keine Rolle.

Ich selber glaube recht gut in Geographie zu sein – diverse vordere Plätze in unendlichen, abendlichen „Land-Stadt-Fluss“-Familienspielen der letzten 60 Jahre können dies untermauern.

Aber den Namen auch nur einer einzigen Insel, die wir in diesen Tagen dann abklapperten, hatte auch ich ehrlicherweise noch nie vorher gehört – vielleicht mit Ausnahme von St. Lucia, bekannt als Sehnsuchts-Schnulzen Ziel der 50er Jahre.
Und vielleicht noch Mustique, bekannt als private Spielwiese diverser versoffener Royals und leicht degenerierter Hollywood-Altstars.

Nach einer relativ ruhigen Fahrt erreichten wir am späten Nachmittag die erste Insel dieses schönen, kleinen Karibik-Staates mit dem höchst komplizierten Namen „St. Vincent and the Grenadiere“.

Dort wieder auf irgendeiner kleinen Insel anlegen, alle Papiere Abstempeln, viel Geld bezahlen und wir waren wieder willkommene zahlende Gäste dieses kleinen, bunten und ansonsten ziemlich unbedeutenden Mitglieds unserer Welt-Gemeinschaft.

Wir wollten an diesem Tag noch weiter nach Norden segeln.

Also wieder ins Boot und weiter an einigen anderen Inselchen vorbei in Richtung Mustique.

Leider hatte ich selber an diesem Tag eine kleine Auszeit. Mit 39 Grad Fieber, total verdorbenem Magen und diversen sonstigen Weh-Wehchen, verbrachte ich den restlichen Tag meistens schlafend in meiner Kabine unter Deck.

Da der Wind auch an diesem Tag recht ungünstig für unsere Route stand, mussten wir große Teile unserer Strecke unter Motor fahren.

An sich nichts Besonderes.

Nur wenn die große Schiffsdieselmaschine knapp 50 Zentimeter von meinem Kopfkissen entfernt im Nebenraum steht, und beim Fahren unter Motor einen Krach wie um die Wette rasende mecklenburger Steppen-Treckern macht, kann man sich vorstellen, welche therapeutische Wirkung zur Besserung meines Allgemeinzustandes dieses Dauergedröhne bewirkte.

Abends erreichten wir Mustique.

Wir wussten, dass man dort als kleines Segelboot ankern und auf See vor dem Hafen im Boot übernachten durfte.

Aber gleichzeitig stand in den entsprechenden Richtlinien, die für diese Privat-Insel gültig waren, auch ganz klar, dass alle Boote und Schiffe mit mehr als 30 Personen an Bord hier Ankerverbot und totales Besuchsverbot erhalten würden.

Ich blieb abends auf Grund der Nachwehen verschiedener Alkohol-Vergiftungen der letzen Wochen alleine auf dem Schiff.

Die anderen fuhren mit unserem kleinen Beiboot an Land um sich umzusehen.

Aber sie kamen nach sehr kurzer Zeit wieder zurück – sie hatten vergessen, den Tresor mitzuschleppen.

Ein solcher Tresor mittleren Ausmaßes und Gewichts ist ein Muss, wenn man auf dieser Insel auch nur irgend etwas essen oder trinken möchte – sei es in Promi-Shopping-Läden oder noch viel schlimmer, in einem der beiden kleinen Strand-Restaurants.

Es fing schon damit an, dass wir 30 Dollar dafür zahlen mussten, dass wir draußen im Hafen für eine Nacht an irgendeiner kleinen Boje anmachen durften – denn Übernachtung mit eigenem Anker auf dem Meeresgrund ist natürlich verboten.

Man konnte vom Wasser aus einzelne Häuser und Bungalows sehen, die über dem Hafen oder in der hügeligen Hafenbucht verstreut an die Felsen und teilweise in die Felsen hineingebaut waren.

Natürlich alles vom Feinsten.

Aber wenn man soviel Luxus auf einmal sieht, und dabei der Eindruck jedes einzelnen Riesen-Luxus-Bungalows vom nächsten noch größeren Prachtbau übertroffen und übertönt wird – dann ist der Gesamteindruck schon so, dass schnell eine Langeweile aufkommt bei Vergleichen all dieser Verschwendung.

Die meisten Häuser waren zur Zeit sicherlich leer und unbewohnt und eine Wasserfront von 20 oder 30 riesigen Panorama-Fenster pro Bungalow, alle geschlossen, verriegelt und verrammelt, macht einfach nur noch einen langweiligen Eindruck.

Jedes Haus für sich würde an jeder Küste auf jeder normalen Karibikinsel als Schmuckstück und Juwel gegenüber allen sonstigen Häusern auffallen – hier auf Mustique war mangels Armut oder auch nur Mangels jeder sonstigen Normalität jede Vergleichsmöglichkeit genommen.

Somit wird es schlussendlich wohl so sein, dass man auf Mustique nach dem Herunterschlingen von 3 Kilo Kaviar genauso erbärmlich rumkotzt, wie woanders nach dem gemütlichen Verzehr einer gleichen Menge erholsam verfetteter Big-Macs.

Abend war gemütlicher Ausklang auf dem Boot.

Allerdings nur zu dritt, ich wollte meinen Gesundheitsschlaf zu Ende bringen und blieb unter Deck. Schließlich konnten die Jungs ja meinen Anteil an zu vernichtendem Rum und Rotwein durch die Dachluke meiner Kabine gießen, da brauchte ich dann nicht extra aufzustehen.

Mittwoch, 29.3

Morgens Regen und Sturm.

Mustique ist um 6 Uhr in der Früh genauso verschlafen und verregnet, wie alle anderen Nachbarinseln, die wir von hier aus sehen konnten.

Mein Kopf und Magen waren wieder einigermaßen ok.

Nach obligatorischem Schwimmen und Schnorcheln, verbunden mit der ewigen Suche nach karibischen Nixen oder anderen Seekühen, beschlossen wir an diesem Tag, einmal ganz um Mustique herumzusegeln, um dann am Nachmittag auf die weiter nördlich gelegene Hauptinsel St. Vincent weiterzureisen.

Wir blickten also noch einmal auf all die in der Hafenbucht wunderschön und so leer und verlassen daliegenden eleganten Luxus-Bungalows, die meistenteils sicherlich 300 – 500 qm Wohnfläche haben dürften.

Und dies war dann auch so ziemlich der letzte Blick, den wir an diesem Mittwoch noch irgendwohin tun konnten.

Wir hatten seit Tagen keinen Wetterbericht mehr gehört, weil alle Lautsprecher an Bord nur noch von den wohl über 200 CDs, die Ecki aus seiner Ost-Mecklenburger Heimatscheune mitgebracht hatte, permanent belegt waren.

Über deren Qualität und den Geschmack werde ich mich hüten etwas auch nur andeutungsweise zu berichten – vielleicht nur soviel, dass ich auf dieser Reise irgendwann doch anfing, die 3 italienischen Opern-Arien, die wir auf der vorherigen Reise mangels anderer Musik wohl so gut 80 Mal hintereinander gehört hatten – also diese Arien fing ich irgendwann an zu vermissen.

Als wir von unserer lieb und teuer gewordenen 30-Dollar-Boje ablegten, kam eine kleine Regenfront hinter den Bergen von Mustique auf uns zu.

Nichts Besonderes, so etwas gibt es hier immer und überall – hinter einer solchen Regenfront klart es dann ganz schnell wieder auf und die Sonne lässt den Regen der vergangenen Minuten in Windeseile verdampfen.

Also losgesegelt – in Richtung Süden, um dort Mustique zu umrunden.

Von dort aus sollte es dann auf der Atlantikseite wieder nordwärts gehen und nach Plan war es eine Sache von 1-2 Stunden, denn groß sind Inseln hier alle nicht.

Da ich davon ausgehe, dass dieser kleine Bericht auch von Leuten gelesen wird, die vom Segeln und den Wind- und Wetterbedingungen noch weniger Ahnung haben als ich selber, so sei ein kurzer Exkurs über die Winde der Karibik gestattet:

Bedingt durch die Erdrotation der letzten 40 Millionen Jahre, die auch von uns nicht wesentlich verändert werden konnte, herrscht um den Äquator herum ein permanenter Wind von Ost nach West: der Passat.

Er sorgt dafür, dass jede Nussschale, die sich irgendwo im südlichen Europa oder nördlichen Afrika aufs Wasser begibt, immer und immer wider nach Westen getrieben wird.

Bis es nicht mehr weiter geht, weil er in der Karibik am Strand angekommen ist.

So ist Columbus zwangsläufig in Amerika gelandet – und zwar immer an der gleichen Stelle in der Mitte der Karibik – und so wird jede Wolke und jedes Wetter vom Wind getrieben: Immer brav von Europa nach Zentral-Amerika, immer brav von Ost nach West.

Bedingt durch diesen permanenten Wind und die Tatsche, dass das Wetter über dem Meer durch keinerlei Berge gebremst wird, bauen sich je nach Windstärke große und sehr große Wellen auf, die dann schlussendlich irgendwann an die Inseln der Karibik heranrollen und sich dort vom offenen Atlantik her rollend an der Ost-Seite jeder Insel mit ziemlicher Stärke an den Felsen brechen.

Jede Insel in diesem Gebiet hat also normalerweise zwei völlig verschiedenen Seiten – die raue Luv-Seite und die ruhige Lee-Seite.

Die Luv-Seite ist die Seite, von welcher der Wind herkommt – also die Atlantik-Seite.

Also immer sehr windig, sehr felsig, wenig Vegetation, und wer seine Hütte auf dieser Seite einer solchen Insel baut, braucht kaum eine Klimaanlage auf der Toilette – es herrscht dauernd Durchzug.

Wenn die Wolken des Atlantiks jetzt eine solche Insel erreicht haben, kann man es sich einfach so vorstellen, dass die Felsen dieser Eilande die Unterseite der heranbrausenden Wolken aufschlitzen, wie der Koch den frisch gefangene Fisch, – die Wolken entladen dann Ihre Eingeweiden und heraus kommt das, was sie mitgebracht haben: Wasser und Wind.

Es regnet also an jeder Luv-Seite, oder wenn dazu noch viel Wind ist, dann stürmt und regnet es eben.

Irgendwann haben die Wolken sich dann ausgeregnet, sind leer gepieschert, leichter geworden, steigen somit nach oben und überqueren dadurch das Felsengebirge, das in der Mitte fast jeder Karibikinsel steht.

Oftmals lösen sich die Reste solcher Wolken auch ganz einfach auf, und wenn das Wetter dann die Mitte einer Insel überquert hat, sind es entweder ganz dünne leichte Windwolken, durch die die Sonne voll durchscheinen kann, oder es sind eben überhaupt keine Wolken mehr da.

Und damit kommen wir zur anderen Seite jeder Insel, der Lee-Seite…

Die Lee-Seite – das ist dann die Seite, wo es keinen Wind mehr gibt und permanent die Sonne scheint, die See ruhig, glatt und warm ist – auf dieser „Sonnenseite“ jeder Insel, da wohnen die allermeisten Menschen, da sind die kleinen Häfen, wo die Boote geschützt vor Wind und Wellen liegen, und auf dieser Seite segeln auch die allermeisten Boote, die von Insel zu Insel schippern.

Es gibt in der ganzen Karibik nur einen einzigen Hafen, der auf der Atlantik-Seite, also der stürmischen Luv-Seite einer Insel angelegt wurde, alle anderen Häfen liegen in Lee jeder Insel.

Soweit der kleine Exkurs über Wind und Wellen in der Karibik – sicherlich den meisten bekannt, aber ebenfalls notwendig, um die folgenden Ereignisse besser miterleben zu können.

Auf halben Weg zum Südende von Mustique war die Regenfront über uns hinweg gezogen – so dass wir jetzt sehen konnten, was hinter dieser tief hängenden Regenfront als nächstes vom Atlantik her auf Mustique hin zutreiben würde.

Es war statt einer kleinen Regenfront jetzt eine Stark-Regenfront.

Kennzeichen hierfür sind noch tiefer hängende Wolken, die mit einer großen Geschwindigkeit noch viel mehr Regen aus ihren dicken schwarzen Wolkenstreifen aufs Meer – und somit auf uns – herablassen würden.

Auch dies ist nichts Außergewöhnliches, nur dass sämtliche Klamotten, die wir morgens zum Trocknen herausgehängt hatten, und die somit über alle Teile des Bootes gleichmäßig verteilt hingen, jetzt so voller Wasser waren, dass sie jetzt wohl weitere Stunden brauchen würden, um endlich auszutrocknen.

Vorausgesetzt, wir fingen die jetzt an Bord herumfliegenden Textilien rechtzeitig wieder ein.

Als wir dann nach vielen Sturm- und Regenminuten endlich das Süd-Ende der Insel Mustique erreicht hatten, konnten wir auch endlich an der Insel vorbei Richtung Osten auf den freien Atlantik sehen, um festzustellen, was denn nun nach dieser Starkregen-Front als Nächstes auf uns zukommen würde.

Denn, wie soeben gelernt – kommen in diesem Teil der Karibik immer alle Wetter aus der gleichen Richtung – aus Osten, vom offenen Meer her.

Sobald wir um das Südende der Insel Mustique herumgesegelt waren, wurden die Wellen von einem Moment zum anderen gut doppelt so hoch.

Und unser Boot schaukelte sich und uns auf eine sehr besondere Art gratis – normalerweise stellt sich so ein Schaukeln langsam zwischen der zweiten und dritten Flasche Rum ein, hier war´s ganz schnell und gratis.

Und was wir zwischen den inzwischen 2-3 Meter hohen Wellen am Himmel sahen, war nichts weiter als die Andeutung des Heranziehens einer dritten und vierten und viel gewaltigeren Schlechtwetterfront.

Andeutung deswegen, weil im Prinzip der Himmel inzwischen pechschwarz geworden war.

Die Wolken stürmten über uns hinweg, der Regen schoss so aufs Boot, dass man es überall knallen hörte. Und wer diesen Regen auf Hände, Beine oder ins Gesicht bekam, erlitt einfach Schmerzen – vergleichbar vielleicht, wenn man in Europa unter einem permanenten Hagel-Beschuss im dicksten Gewitter stand.

Von unserer schönen Insel Mustique, die maximal 1 Kilometer in Lee von uns entfernt liegen musste, konnte niemand mehr irgendetwas sehen.

Von einigen unbewohnten kleinen Felseninseln, die laut völlig durchnässter Seekarte irgendwo kurz vor oder neben uns liegen sollten, konnte ebenfalls niemand etwas entdecken –
schemenhaft tauchten irgendwelche dunkleren oder helleren Flecken vor und neben uns auf, aber ob es Wasser, Gischt oder Felsen im Sturm waren, war nicht zu erkennen.

Es war inzwischen Mittag geworden und laut Plan sollten wir die Umrundung der relativ kleinen Mustique-Insel schon lange beendet haben.

Aber da wir in diesem Unwetter, Sturm, meterhohen Wellen und pfeifenden Winden weder von der Hauptinsel, noch von irgendwelchen anderen Eilanden, irgendetwas auch nur andeutungsweise erkennen und identifizieren konnten, blieben wir erstmal auf dem offenen Atlantik – und segelten sogar noch absichtlich weiter ins offenen Meer hinaus.

Denn unser Boot würde sicherlich auch schweren Sturm irgendwie aushalten, aber das ran knallen auf nur einen einzigen kleinen Felsen irgendwo in der Nähe von Mustique würde automatisch das Ende des Bootes und bei diesem Sturm wohl auch der Besatzung bedeuten.

Es war in dieser Situation nicht abzusehen, wie lange wir so gegen den Sturm fahren würden – und da ich es aufgegeben hatte, diese Situation in der Kabine unter Deck schriftlich festzuhalten, tat ich das, was ich in ähnlichen Situationen im Flugzeug mache, wenn extrem starke Turbulenzen durchflogen werden müssen – ich suche mir ein Plätzchen, wo ich mich so lang wie möglich machen kann.

Der Magen ist in horizontalen Lage viel widerstandsfähiger, als wenn man dabei steht oder angespannt sitzt – und dann denke ich an einige schwere Wetter, die ich meiner jahrzehntelangen Windsurf-Regatta-Erfahrung auch durchgemacht hatte.

Auch der größte Sturm ging bei solchen See-Regatten irgendwann zu Ende, und danach hatte man plötzlich ganz andere Gegner um sich – je nachdem, wohin man getrieben war und wie weit die anderen Konkurrenten auch weg oder ran getrieben waren.

Manchmal hatte ich so plötzlich eine sehr schöne Platzierung erreicht gegenüber anderen Sports- Freunden, die vor dem Sturm weit vor mir lagen und die auf Grund ihrer jugendlichen, guten, körperlichen Konstitution dem Sturmwind noch länger trotzen konnten – sie waren dann so erschöpft, dass sie danach ihr Segel einfach nicht mehr aus dem Wasser ziehen konnten.

Im Klartext, in den 20 Jahren, die ich Surf-Regatten auf Seen und auf dem Meer gefahren bin, hab ich einfach gelernt, dass Wasser und Wind schlussendlich immer stärker sind – und je schneller man dieses akzeptiert, um so besser kommt man mit diesen beiden Elementen zurecht.

Ich kroch also in meine Kabine und versuchte, mich durch eine spezielle Art von Selbsthypnose in den Halbschlaf oder, besser noch, in den seligen Tiefschlaf zu versetzen.

Diese Art der Selbst-Hypnose beherrsche ich recht gut.

In 35 Ehejahren und bei 40 Jahren Arbeiten im Familienbetrieb entwickeln sich solche Abwehrfunktionen sicherlich auch automatisch, man muss sie nur rechtzeitig erkennen und etwas fördern.

Also Augen zu und den guten Käpt´n und seine durchnässte Crew, bestehend aus Ecki, mit ins Nachtgebet einschließen.

Augen zu und durch – so konnte ich jedenfalls an Deck kein weiterer Stör- oder Problemfall mehr werden.

Als ich irgendwann aufwachte, hörte ich das vertraute Dröhnen meines nachbarlichen Dieselmotors ganz dich an meinem Ohr. Die See war etwas ruhiger geworden und ich war irgendwie an die Wand zum Maschinenraum geklatscht und dort eingeschlafen.

Vorsichtig auf Deck gekrochen, sah ich meine lieben Crew-Mitglieder in etwa der gleichen Haltung kauern, wie ich sie vor einer Stunde verlasen hatte – nur absolut fertig und total durchnässt, aber dafür klinisch sauber wie ein Eierbecher nach 90 Grad Wäsche in der Geschirrspülmaschine.

Es hatte die ganze Zeit geregnet, sie mussten alle an Deck gehockt haben, auch als der Käpt’n die große Schiffsdiesel-Maschine angeworfen hatte.

Nach stundenlangem Dauerregen hatten die Jungs jetzt eine Farbe im Gesicht, die war nicht nur sauber, sie war einfach unschuldig weiß wie ein Kinderpopo in der Windel-Werbung.

Irgendjemand hatte bei der ganzen Aufregung, Anspannung und der nicht gerade einfachen Situation aber noch die geniale Idee, den Starkregen auszunutzen.

Er vergoss den Inhalt einer dicken Abwasch–Spüli–Plastik–Flasche gleichmäßig über Vor- und Hauptdeck.

Im Gegensatz zum Salzwasser des Meeres ist das himmlische Regenwasser sehr gut geeignet, hier eine Selbstreinigung unseres schwimmenden Untersatzes vorzunehmen.

Jahrelange Rotwein- und Rum-Flecken hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst – das Schiffchen dampfte nur so vor Sauberkeit, ich habe es weder vorher noch nachher auch nur andeutungsweise noch einmal so sauber erlebt.

Irgendwie erreichten wir dann am späten Nachmittag den Hafen einer kleinen Nachbarinsel von Mustique.

Und als wir vor Anker lagen und kurz danach wieder eine tiefe, dunkle und gewaltige Regenfront sich so über uns ausschüttete, dass wir die nur ca. 50 Meter entfernte Hafenmole und die dahinter liegenden Häuschen von einem zum andren Moment nicht mehr erkennen konnten – und dies alles hier in einer jetzt geschützten Hafenbucht – da wurde uns allen noch einmal richtig klar, welcher Gewalt wir an diesem Tag draußen auf dem Meer ausgeliefert waren.

Da wir noch etwas Proviant brauchten, fuhren wir mit dem saubersten aller Beiboote der südlichen Karibik an Land.

Dabei signalisierte der kleine Außenbordmotor, dass er in den letzten Stunden ebenfalls eine recht intensive Behandlung durch Regen und Meerwasser durchgemacht hatte – er stotterte mindestens genauso stark wie unser Käpt’n, als er nach der Tanzstunde zum ersten Mal seine Partnerin nach Hause bringen durfte.

Ich erledigte die Proviant-Besorgungen.

Doch an diesem Abend konnten auch die besten Kochkünste unseres braven Smutjes uns allen keine Lebensenergie mehr vermitteln – nach 10 Stunden am Ruder fiel der Käpt’n an Deck vor Müdigkeit zusammen und war einfach weg.

An diese Stelle ein ganz persönliches Wort an unseren Käpt’n: Danke.

Donnerstag, 30.6.

Morgens strahlend blauer Himmel, keine Wolken am Horizont. Das Wette war endgültig vorbeigezogen und der Tag begann, wie fast alles Tage, mit Schwimmen, Rührei, Kaffee, Speck und Rum – Caribic as usual.

Wir wollten jetzt zurück nach St. Vincent, der Insel, von der wir vor knapp 2 Wochen unser Boot übernommen hatten.

Denn morgen, am Freitag, lief unsere Bootscharter aus.

Die Überfahrt nach St. Vincent würde nur wenige Stunden benötigen, und somit hatten wir dann noch genügend Zeit, um auch die kleine Hauptstadt dieses schönen Operettenstaates St. Vincent und die Grenadiere etwas besser kennenzulernen.

Also recht früh los, bei schönem, nicht zu starkem und angenehm gleichmäßigen Wind rüber nach St. Vincent.

St. Vincent ist im geografischen Aufbau sehr ähnlich wie Grenada, vielleicht 20 % kleiner in der Fläche, aber ansonsten auch hier zur Inselmitte hin sehr hoher Berge, Vulkane und Regenwald.

Nur die reinen Küstengebiete sind teilweise oder stärker besiedelt, aber auf dieser Insel weit weniger dicht als auf Grenada.

Am Nachmittag suchten wir uns eine Bucht zum Ankern für diese letzte Nacht auf unserem treuen Dampfer.

Und als wir hier bei der Suche für ein Nachtquartier 2 Buchten angesegelt hatten, die uns beim Näherkommen aber beide nicht gefielen, segelten wir also noch ein Stückchen weiter und fanden endlich eine sehr kleine, aber schön gelegene Bucht, die wir dann ansteuerten.

Es lagen dort bereits einige Segel- und Motorjachten in dieser Bucht vor Anker, ein gutes Zeichen, denn wo mehrere andere Schiffe liegen, konnte man sich ohne großes Überlegen problemlos dazugesellen.

Es waren inzwischen mehrere kleine Ruderboote mit einheimischen jungen Männern aus der Bucht heraus gerudert und näherten sich unserem Segelschiff.

Alle wollten uns in dieser Bucht begleiten, um sich so für diese Art der Lotsenfunktion und der Hilfe beim Festmachen an einer Mole oder einer Boje, ein bisschen Geld zu verdienen.

Eine solche Art des Hereinholens von Touristen-Booten ist oftmals die einzige Art des Gelderwerbs, den diese Menschen in so völlig abgelegenen Dörfern oder Strandsiedlungen überhaupt haben – umso größer ist aber auch gleichzeitig der Konkurrenzkampf dieser jungen Männer untereinander.

Kein Segelboot kann gleichzeitig mehr als einen Lotsen oder Festmacher haben, sonst läuft alles im wahrsten Sinne ganz schnell aus dem Ruder.

Das wissen dies Jungs aber auch, und so entwickelte sich in wenigen Augenblicken ein einziges Gewirr aus schwarzen Jungs, kleinen bunten Ruderbooten, diversen Ankerbojen in der Bucht – ein karibischen Gewirr, welches einfach nur dadurch beendet werden kann, dass man sich irgend einen aussucht, der dann freudig lächelnd unserem Boot als Lotse voraus rudert und gleichzeitig versucht, sich alle anderen Ruderboote samt Besatzungen, die diesmal leer ausgehen würden, einfach vom Hals zu halten.

Kein ganz einfaches Unterfangen, man muss freundlich aber bestimmt bleiben.

Unser Käptn schaffte es, indem er alle anderen schwarzen Jungs der Reihe nach auf reinem sächsisch schrecklich beschimpfte – den Jungs musste so eine Sprache wie die Strafe Gottes vorgekommen sein, sie verließen ziemlich fluchtartig unser Boot und auch unser ausgewählter Lotse war plötzlich sehr ruhig und sah sich nur noch gelegentlich und dabei mit ziemlich verstörten Gesichtsausdruck nach uns um – irgendwo war er wohl sehr froh, dass unser Käpt’n nicht noch mit ihm über sein Trinkgeld auf sächsisch diskutierte.

Irgendwie war aber die Entlassung unseres Lotsen keine so ganz gute Idee, denn wir waren noch ziemlich in der Mitte dieser Bucht und sahen jetzt, dass alle anderen Yachten in dieser Bucht an einem kleinen Steg angelegt hatten, der vom Strand aus ca. 30 Meter in die Bucht herausführte.

Und um dort anzulegen, bedarf es entweder einer sehr guten und aktuellen Seekarte oder der Erfahrung eines Einheimischen, der auch gleichzeitig mit den Verbringen und Festmachen von größeren Booten in so einer kleinen Bucht vertraut ist.

Unser guter Käpt’n hatte aber soeben unseren eigenen Lotsen ziemlich direkt zur Hölle geschickt.

Die Chancen, dass er mit seiner Nussschale zurückkommen würde für eine weitere Stunde Sächsisch-Unterricht, lagen für mich ziemlich bei Null.

Und somit begann der große Auftritt unseres Chefkochs Rudi.

Er war einfach das genaue Gegenteil von Rudi Ratlos, er war jetzt Rudi, der Imperator der südlichen Karibik.

Er beherrscht, wie die meisten Holländer, so ziemlich alle englischen und karibischen Dialekte und fing jetzt an, zu den verdutzen jungen Leuten irgendetwas zu brüllen, was entweder vom Wortinhalt oder von der Tonlage her so klar und eindeutig war, dass sie sich sofort wieder in Richtung unseres Dampfers aufmachten.

Rudi brüllte einige weitere Anweisungen, übernahm unser Ruder, und für einen Moment sah es für mich so aus, als wollte er die 5 oder 6 kleinen Ruderboote in Eskimo-Schlitten-Weise als Huskies vor unseren Kahn spannen, um damit an den Steg in Ufernähe zu schliddern.

Es folgen einige weitere kürzere und längere Anweisungen aus Rudis gutturalem Kehlkopf – wer in Hamburg auf dem sonntäglichen Fischmarkt einmal die holländischen Blumenverkäufer erlebt hat – die alle irgendwie von Rudi Carrell oder Lou van Burg abstammen – der weiß, wie ein echter Holländer sich Respekt verschafft.

Nach 5 Minuten wussten die meisten der Boys nicht mehr, an welchen Tagen sie Ihren Vater im Knast oder ihre Mutter im Puff besuchen dürfen, oder umgekehrt.

Rudi hatte ganz schnell die Jungs auf die Stufe heruntergebracht, wo sie nur noch wie pablovsche Hunde mit angelegten Ohren und scheuem Blick auf den brüllenden weißen Häuptling hinten am Ruder starrten, um all seine Befehle sofort und bestens auszuführen.

Innerhalb von 10 Minuten war der Spuk dann vorbei, wir lagen fest und sicher vertäut in einer Reihe mit all den anderen Schiffen am Steg.

Rudis neue einheimischen Freunde aber starrten noch recht lange und ungläubig aus sicherem Abstand vom Ufer aus auf unseren Imperator.

Nachdem das Boot fest vertäut verankert war, fingen wir jetzt zum ersten Mal an, uns mit dieser Bucht etwas intensiver zu beschäftigen.

Die Szenerie, die sich uns in dieser kleinen Bucht an Land bot, war total pittoresk.
Die Ausgänge dieser Bucht wurden von zwei jeweils über 100 Meter hohen Bergkuppen eingenommen, die an der linken und rechten Seite dieser Bucht jeweils gut 50–60 Meter senkrecht steil ins Meer stürzten.

Oben an diesen beiden Steilküsten klammerten sich einige Palmen und Sträucher an die dunklen Granitwände.

Unten am Strand war in der Mitte dieser ca. 500 Meter breiten Bucht eine kleine Häuserzeile, eine Brücke und ein halb verfallenes Restaurant zu sehen.

Alles wirkte irgendwie extrem alt, und außer den paar Jungs in ihren kleinen Ruderbooten waren keinerlei andere Menschen an Land zu sehen.

Es was aber irgendwie alles recht unnatürlich, irgendwie seltsam, und wir alle hatten ein merkwürdiges Gefühl, als wir jetzt über den kleinen und schon recht verfallenen Anlegesteg an Land gingen.

Man sah nur ein ganz kleines Stückchen dunklen Lava-Strand zwischen den schwarzen Felsen hindurchschimmern, alles andere war dichte, tropische, grün-braune Vegetation.

Die paar Häuser am Strand hatten im Laufe der Zeit die gleiche dunkle und verwaschene Farbe angenommen wie ihre Umgebung links und rechts.

Vor dem halb verfallenen Restaurant bewegte sich eine Hängematte im warmen Wind und darin schlief eine typische Karibik-Mammi – klein, kugelrund, barfuss und das Gesicht unter diversen herabgerutschten Kopftüchern versteckt.

Die Häuser links und rechts von diesem in der Buchtmitte gelegenen Gasthaus waren beschildert als „Rum-Station“, „Zuckerrohr-Deponie“, „Huf-Schmiede“ und „General store“, der allgemein gültigen Bezeichnung für den Aldi-Laden des 17. und 18. Jahrhunderts.

Dann gab es am Ende der einen Häuser-Zeile noch eine fast völlig verfallene „Hafenmeisterei“, von der aus ein kleiner Anlegesteg ins Meer führte.

Dieser Anlegesteg wiederum sah äußerst stabil aus, wenngleich er, wie sofort sichtbar, ausschließlich aus Holzbalken und dicken Hanftauen zusammengebaut war.

Kein Stück Eisen, kein einziger Nagel – nichts war da an dieser Anlege-Konstruktion, was im Laufe der Jahrhunderte hätte verrosten können.

Natürlich gab es an diesem Anlege- und Versorgungs-Steg auch nicht die sonst überall an solchen Stegen angebrachten Versorgungs-Stränge, Rohre und Leitungen, durch die Elektrizität und Frischwasser auf anlegende Boote gebracht werden.

Wir gingen durch das zum Meer hin offene Restaurant und fingen an, uns das Szenario der sich daran anschließenden Häuserzeile aus der Nähe anzusehen.

Ecki und Thomas, als geborene und gelernte Ossis, hatten nach einigen Minuten herausgefunden, dass alles dies genauso gebaut war, wie früher in ihrem sozialistischen Musterstaat. Nach vorne hin alles perfekt und sauber, aber hinter der Fassade waren es überall nur ein paar Bretter und Hilfsgestelle, die verhindern, dass die schöne Fassade vorne beim nächsten Windhauch einfach zusammenstürzte – Potemkin lässt grüßen.

Wer vor dieser Häuserfassade stand und auf die schweren Backsteinquader klopfte, aus denen die ganze Anlage für jedermann ersichtlich gebaut worden war, der erzeugte mit seinem Klopfen auf die dicken Backsteine ein ganz helles, schepperndes und blechern klingendes Geräusch – und das war dann auch der endgültige Beweis.

Die ganze Szenerie dieser Häuser am Strand war aus Hart-Pappe und dünnem Plastik, verbunden mit einigen anderen Kunststoff- Materialen.

Alles war völlig künstlich, aber perfekt gemacht.

Als wir daraufhin im Restaurant die dicke Mammi durch eine gewaltige „4-Bier“-Bestellung in ihre raue Wirklichkeit zurückriefen, um sie natürlich als erstes zu fragen, was hier eigentlich ablief, sagte sie das, was wir inzwischen selber schon als einzige Erklärung vermuteten:

„That´s all for the movie…“

Ich konnte mich an ein großes, buntes Plakat erinnern, das wir bei der Einreise in St. Vincent auf dem Flughafengebäude gesehen hatten, und worauf in ganz großen Lettern stand „Welcome in St. Vincent and the Grenadiere, der Heimat des Films „FLUCH DER KARIBIK“ – mit Bildern der Hauptdarsteller und einigen sehr berühmten Szenen aus diesem sehr erfolgreichen Abenteuer-Film, der auch in Deutschland viele Monate lief.

Auf diesen Bildern war genau das Stückchen Strand und diese Häuserzeile und diese Bucht und dieser Anlege-Steg abgebildet – jetzt passte alles endgültig zusammen.

In unserer Bucht waren praktisch die gesamten Land-Aufnahmen dieses Piratenfilms gemacht worden – und ich selber hatte den Film erst vor kurzem in Deutschland auf Premiere gesehen.

Unter dieser neu gewonnenen Erkenntnis inspizierten wir alle jetzt die Häuser, die Brücke, die gesamte Szenerie und bewunderten jetzt plötzlich, mit welcher Akribie bis hin zur kleinsten Stelle diese gesamte Kulisse angefertigt und aufgebaut worden war.

Es gibt im Südwesten der USA ganze komplette Film-Geisterdörfer als Kulisse für unzählige Western – aber dass wir hier am aller äußersten und verstecktesten Winkel dieser kleine Insel die gesamte Kulisse eines solchen weltweit erfolgreichen Filmes entdecken würden – das war denn doch etwas, was wir jedem anderen Menschen, der uns so etwa erzählen würde, nur als solides Rum geschwängertes Seemannsgarn abgenommen hätten.

Hier aber, in einer völlig abgelegen Bucht, die nur über einen Maulesel-Trampelpfad mit der Außenwelt verbunden war, sahen wir am Schluss unserer Reise somit noch etwas, womit wirklich niemand gerechnet hatte.

Da die Preisvorstellungen unserer Mami in ihrer verfallenen Restaurant-Kaschemme ebenfalls etwas mit versuchter Piraterie zu tun hatten, blieben wir – genau wie alle anderen Besatzungen der übrigen Boote – abends auf unserem Boot, um diesen letzten Abend noch einmal an Bord zu feiern.

Der letzte Abend ist auf jedem Kreuzfahrerschiff traditionell „Käpt’ns-Dinner“ – der absolute gesellschaftliche Höhepunkt.

Und somit erschien unser Käpt’n Thomas plötzlich bei Sonnenuntergang mit langer Hose und richtigem Hemd.

Freund Ecki, somit der See-Betriebsratsvorsitzende unserer Gesamt-Besatzung, war ebenfalls nicht mehr wiederzuerkennen, weil er neben zusammenhängender Bekleidung auch noch gekämmt an Deck erschien.

Es wurde ein absolut stilvolles Besäufnis.

Mangels weißer Handschuhe und Wunderkerzen dekorierten wir das Oberdeck mit den restlichen laufenden 50 Metern zumeist noch ungebrauchtem Klopapiers, und somit sah es nach kurzer Zeit aus, wie eine gelungene Mischung aus Kindergeburtstag und chinesischer Beerdigung, wo bei solchen Anlässen auch immer weiße Papiergirlanden von den Hauswänden und Dächern flattern.

Was es zu Essen gab weiß keiner mehr so richtig, da unser Maitre de la Cuisine und Star-Koch Rudi III jedes Käpt’n-Dinner traditionell benutzt, um ein Freundschafts-Dinner vom Feinsten zu zaubern.

Das bedeutet ganz einfach, dass er alle 16 Vorratsbehälter auf und unter Deck durchstöbert und alles, was noch in irgendeiner Form vorhanden ist, zusammenschmeißt, um es dann in gleiche Farben aufzuteilen, und in die entsprechenden Körbe und Tüten zu sortieren.

Eine Teil der Gesamtmenge erhält dann nach erfolgter Sortierung ein großes „K“.

Ein weiterer Teil wird zusammen geschmissen und erhält die unübersehbare Notiz als „B“ und der restliche dritte und größte Haufen wird mit einem dicken „E“ beschriftet.

Diese Vorsortierung ist sehr wichtig, denn dann fängt der Smutje konzentriert an zu arbeiten.

Alles was mit „K“ beschriftet ist wird gekocht.

Was gegenüber in der Kombüse mit dem Codewort „B“ zusammengeschmissen war, bedeutete „Braten“.

Und der dritte und größte der Haufen mit dem Erkennungsbuchstaben „E“ war die Abkürzung für „Egal“.

Alleiniger Sieger dieser gleichzeitigen Farbsortierung war die Farbe Rot.

Wir hatten auf Grund irgendwelcher Verständigungs- oder Kommunikations-Probleme am Anfang dieser Reise die Hälfte der vorkalkulierten Mengen von Mineralwasser durch eine entsprechende Menge an Rotwein gebunkert – bei 4 Personen und 12 Tagen waren so statt 40 dann durch widrige Umstände eben 80 Kartons Baujolais an Bord gekommen.

Somit gab es dann eben morgens Rührei in Rotwein mit Toast auf Rotwein geröstet.

Und mittags Thunfisch in Rotwein, abgeschmeckt mit Spagetti in trockenem Rotwein und zum Nachtisch dann Karamell-Pudding an Rotwein oder Wackelpudding in angefrorenem Rotwein.

Aber alles war sauber, es wurde nie etwas gemischt oder gepanscht.

Aber wenn es zwischendurch zur allgemeinen Stärkung Rumpunsch auf Karibisch oder auf Ostfriesisch oder auf Hamburger Art gab, wurde dazu kein Tropfen Rotwein angerührt.

Ab uns zu gab es auch Rotwein zum Trinken.

Und da die Variations-Möglichkeiten, eine einigermaßen große Menge von Rotwein durch ganz normales Trinken zu reduzieren, irgendwie begrenzt sind, wurde hier schon nach wenigen Tagen eine recht wirkungsvolle Variante von unserem Koch eingeführt: „Der Kälte-Alarm“.

Wenn er also plötzlich aus der Kombüse auftauchte und uns mit einem guttural leicht holländisch verfärbten Komiss-Ton zuschrie: „Kälte-Alarm“, dann musste sich jeder so schnell es irgend ging so viele Klamotten über den nackten Oberkörper werfen wie er nur finden konnte.

Denn es war jetzt per Dekret des Muffties plötzlich klirrend kalt geworden.

Und so standen wir dann Sekunden später in Reih‘ und mit und ohne Glied in Pullovern, Regenmäntel und Südwestern an Deck und bibberten vor Kälte vor uns hin.

Daraufhin erschien Star-Koch Rudi dann in der Tür der Kombüse mit einem großen Tablett voll dampfendem Glühwein.

So echt holländisch, mit viel Rotwein, Zimt, Muskat, Nelken – eben alles, was er so auf den verschiedenen Gewürzinseln hier zusammengekauft hatte.

Der kochend heiße Glühwein wurde dankend in Empfang genommen, gehorsam ausgetrunken und nach kurzer Zeit dampften die Köpfe, so wie vorher die Gläser – aber Rudi hatte die Rotweinmenge wieder einmal erfolgreich um weitere 4 Flaschen reduziert.

Freitag, 1. Juli

Irgendwann im Laufe des nächsten Vormittags fing der Käpt’n an, die verbliebenen Häupter seiner restlichen Mannschaft zu zählen, gab es aber dann doch bald auf, weil die jeweils offiziell festgestellte Menge zu sehr variierte.

Wir verließen diese traumhafte Kulissenbucht, die einen doch sehr nachhaltigen Eindruck auf uns hinterlassen hatte.

Einige Fischschwärme, die der Nacht zu Nahe an unser Boot geschwommen waren und somit an Alkohol-Vergiftung gestorben waren, hinterließen wir ebenfalls in der Bucht.

Ob sich sonst noch jemand über den größeren und leicht blutroten Wasserfleck gewundert hatte, der sich dort bildete, wo einige Stunden vorher noch eine dezente Abschiedsparty statt gefunden hatte, werden wir wohl nie mehr erfahren.

In einem gemütlichen Trip erreichten wir innerhalb weniger Stunden unseren Ausgangshafen, gaben das Boot zurück und zogen in ein kleines nettes Hotel, da wir erst am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe zurück in die heimatliche Dom Rep fliegen sollten.

Nur Rudi wollte hier bleiben, es würde hier auf dieser Insel in einigen Tagen der berühmte landestypische Karneval einsetzen, und Rudi wollte diese Gelegenheit ausnutzen, um endlich mal wieder richtig zu essen und einen schönen Rotwein zu trinken.

Wir haben ihn in den nächsten Wochen nicht mehr gesehen, aber irgendwann muss auch er heimgekehrt sein.

Wenn oben am Flaggenmast vor seinem Haus am Strand von Punta Cana seine ganz persönliche Signalflagge – karibikblauer Untergrund mit leicht verträumter Rotwein-Flasche in der Mitte – gehisst ist, wissen wir, dass er wieder daheim ist, dann werden wir uns auch sicherlich alle einmal wiedersehen.

Ansonsten war´s nett, vielleicht werden wir ja beim nächsten Mal wirklich was erleben.