Die Finken
Prolog
Die Sitzung
Und nun?
Die 5 Männer sahen sich an.
Keiner hatte eine Antwort.
Die Stimmung war bedrückt, bekümmert und für alle deprimierend. Jeder hoffte inständig, dass irgendeiner von Ihnen jetzt den Kopf heben würde, um etwas zu sagen, auf das sie alle warteten.
Doch alle schwiegen.
Jeder wusste, was mit den beiden Worten gemeint war, die Thomas als Frage in die Runde stellte. Die vier Koreaner, die zusammen mit Thomas an diesem Nachmittag in dem großen und bitterkalten Raum in der abgelegenen Fabrik in Pjöngjang, der Hauptstadt von Nordkorea, am Tisch saßen, sahen einander an und schwiegen.
Dies war ein großer Vertrauensbeweis ihrem ausländischen Besucher gegenüber, denn bei jeder normalen Besprechung würde man sich irgendeinen fiktiven Punkt im Raum aussuchen und ihn so lange konzentriert ansehen, bis irgendeiner anfangen würde zu sprechen.
Ein Team
Aber sie waren jetzt seit vielen Jahren ein Team. Sie waren in gewisser Weise schon befreundet, denn sie hatten in all den Jahren gemeinsam viele verschiedene Situationen zusammen erlebt und gemeistert. Deshalb sahen sie nicht weg, sie sahen sich gegenseitig an.
Kwong – der alte, ruhige und von allen respektierte Direktor der Fabrik.
Minho, sein junger Stellvertreter. Er war nicht nur intelligent und freundlich, sondern auch eine der ganz wenigen Arbeiter, die irgendwo während seiner Ausbildung die chinesische Sprache gelernt hatten.
Yang, der Leiter des offiziellen staatlichen Im- und Export-Büros. Er war in dieser Runde der Älteste. Er sprach sehr wenig, dafür glitten seine kleinen schwarzen Augen oftmals blitzschnell zwischen verschiedenen Menschen hin und her.
Er hatte eine bemerkenswert schnelle Auffassungsgabe und wünschte sich insgeheim, dass er das, was er fühlte und sah, auch in einer anderen Sprache kommunizieren könnte.
Sora war der Letzte in diesem Quartett. Er war der engste Mitarbeiter von Herrn Yang und wahrscheinlich auch inzwischen so etwas wie ein stellvertretender Direktor dieser Im- und Exportabteilung des Wirtschaft- und Außenhandelministeriums von Nordkorea.
Er war mit Abstand der Jüngste und einer der ganz wenigen Nordkoreaner, die inzwischen englisch sprachen.
Thomas war dafür dankbar- für ihn war dies eine große Hilfe und Erleichterung.
In den ersten Jahren mussten er und seine nordkoreanischen Geschäftspartner immer die Hilfe von jungen Übersetzerinnen in Anspruch nehmen. Deren Englisch war rein auf eine private Konversation ausgerichtet und jede Fachfrage – sei es über Qualität, Transport, Verpackung oder sonstige Fachfragen – wurde in keiner Fremdsprachen-Universität des Landes gelehrt.
Entsprechend hilflos waren sowohl die Dolmetscherin als auch ihr Gegenüber, egal ob es sich um die nordkoreanische oder um die europäische Seite handelte.
Diese europäische Seite wurde repräsentiert durch Thomas und seinen Freund Jurek aus der Tschechei, mit dem er zweimal im Jahr nach Nordkorea reiste, um wie vereinbart dort Waren zu übernehmen.
Seitdem Sora dabei war, konnte man vertrauensvoll alles direkt untereinander besprechen.
Die Begleitung durch die nordkoreanische Geheimpolizei, die Thomas vor vielen Jahren in seinen ersten beiden Besuchen als ständige Begleitung erlebte, wurde nach Unterzeichnung eines großen Vertrages zurückgezogen ; und alles konnte direkt zwischen diesen 5 Menschen besprochen werden.
Und jetzt saßen sie zusammen und wussten nicht weiter.
Erstes Buch
Auf Tour
Thomas fielen fast die Augen zu. Die Strecke, die er heute Abend auf der Autobahn fuhr, kannte er genauso gut wie sein Schulweg vor vielen Jahren.
Um zu seinen 5 wichtigsten Kunden zu gelangen, musste er erst einmal 650 km Autobahn fahren. Von Hamburg über Frankfurt nach Stuttgart. Zwischen Baden-Württemberg und Bayern lagen alle seine wichtigsten Geschäftspartner in einem Umkreis von ca. 200 km zusammen.
Drei davon in der Nähe von München, zwei andere im württembergischen Remstal.
Alle hatten in ihren Betrieben einige Hundert Näherinnen, die gemeinsam eines der seltsamsten Machwerke der Bundesrepublik zusammennähten.
Das Produkt hatte keinen Sinn, es war nicht wertvoll und vielfach von erlesener Scheußlichkeit.
Unterhaltung
Thomas hatte einen festen Rhythmus, wie er die Stunden im Auto von Hamburg nach Süddeutschland verbrachte und wie den Rückweg.
Auf der Fahrt zu seinen Kunden überlegte er intensiv, wie man deren Produkte noch hässlicher, sinnfreier und geschmackloser gestalten könnte.
Auf dem Rückweg hörte er stundenlang die Hörbücher seiner geliebten deutschen Klassiker.
Es war dabei unerheblich, ob es sich um Schiller, Heine, Fontane, Zweig oder Hebbel handelte – das Entscheidende für ihn war, dass es vorgelesen wurde von seinem Lieblings-Sprecher Hans Paetsch.
Irgendwann in der Nacht kam er an dem Ort seines ersten Kunden an.
Das Hotel
Das Hotel war wie immer bereits geschlossen, der Schlüssel war ebenfalls wie immer auf dem Fenstersims seines Zimmers im Erdgeschoss deponiert und drinnen auf dem Tisch war ein kleiner Teller mit Käsekuchen und Rotwein zur Begrüßung.
Die fünf Freunde
Was diese fünf braven und tüchtigen süddeutschen Kunden und Produzenten verband, war die Tatsache, dass sie von Thomas regelmäßig insgeheim die goldene Palme für das hässlichste und stumpfsinnigste Produkt erhielten, was er in seiner bisherigen 20-jährigen Berufserfahrung kennengelernt hatte.
Es handelte sich um Deutschlands größten Produzenten für Auto-Schonbezüge.
Liebesbeziehung
Irgendwann Ende der Siebzigerjahre kam jemand auf die Idee, die Liebesbeziehung zwischen dem deutschen Rentner und seinem Gebrauchtwagen auszunutzen.
Es gab dann viele Jahre lang alle zwei bis drei Wochen knallbunte Fotos in den meisten überregionalen Zeitungen und Prospektbeilagen. Darin wurde der brave Familienvater, Rentner oder Taxifahrer aufgefordert, sich für 20 bis 30 DM ein paar Quadratmeter grell bedruckten Stoff zu erstehen, um das ganze über Vorder- und Rücksitz seines Gebrauchtwagens zu klemmen.
Danach sei das Auto innen so bunt aus, wie er sich seinen jährlichen Italienurlaub vorstellte. Der einzige Vorteil dieser Stoffbezüge war, dass damit gleichzeitig alle Schokoladen-, Rotwein-, und Kaugummiflecken verschwanden.
Oder genauer gesagt, machten sich nur noch durch Geruch und das Kleben auf der Kleidung bemerkbar.
Thomas
Mit diesen Baumwollsitzbezügen hatte Thomas direkt überhaupt nichts zu tun.
Sein Auftritt in jeder Fabrik begann dort, wo es in den Nähereien um Lammfelle und Lammfellstücke ging.
Im Gegensatz zu den grellen Stoffbezügen, die sich allesamt durch eine erlesene Geschmacklosigkeit in Design und Farbgestaltung auszeichneten, waren diese Lammfelle von einer angenehmen Monotonie in der Farbgebung – sie waren alle in der Wolle entweder anthrazit oder beige gefärbt, was anderes gab es nicht.
Und dann ging es an sich nur noch darum, ob die Florhöhe dieser schnuckeligen Lämmer, die anstatt auf der Weide jetzt in der Nähmaschine gelandet waren, entweder kurz-, mittel- oder langwollig war.
Hier war Thomas in seinem Element.
Er war fast überall alleiniger Lieferant dieser Produktgruppe und genoss es sichtlich, bei jedem Rundgang durch die Fabrikhallen seine gepflegte Verachtung für die bunten Baumwollbezüge zu vermitteln.
Gleichzeitig streichelte er zärtlich und behutsam über jedes zweite Lammfell, das sich irgendwo auf den Tischen der Näherei befand.
Wenn es gelegentlich mal Reklamation zu irgendwelchen seiner Lieferungen gab, erfolgte die Standard-Antwort, dass sowohl die Menschen als auch die Tiere vom lieben Gott unterschiedlich gestaltet worden sind, dass alle unterschiedlich auf die Welt kommen und dass niemand in diesen Prozess der Natur eingreifen sollte.
Das war im Prinzip richtig, half aber der Näherin oder der Vorarbeiterin weiter, wenn sie aus verschiedenen Fell-Teilen einen einigermaßen gleichmäßigen Autositzbezug aus Lammfell zusammennähen sollte.
Plattdeutsch
Wenn es gar nicht anders ging und die Kommunikation etwas heftiger wurde, wechselten die Abteilungsleiterinnen von ihrem süddeutschen Hochdeutsch ins schwäbische oder bayerische – also in Dialekte, für die man bis heute noch keine Schriftform gefunden hat.
Und Thomas, der als Kind einige Jahre in Schleswig-Holstein bei seinen Großeltern gelebt hatte, fing an, in gepflegtem Plattdeutsch zu antworten.
Mangels gemeinsamer Kommunikations-Grundlage lächelten sie darauf. Alle an, weil jeder glaubte, er hätte das gesagt, was zu sagen war, und man ging zum Frühstück oder in die Mittagspause – je nachdem, wann ihr gemeinsamer Auftritt gerade stattgefunden hatte.
Die Produktion
Thomas hatte bei diesen fünf Abnehmern einen entscheidenden Vorteil: Er war der Einzige, der sich Gedanken gemacht hatte, wie er seinen Abnehmern einen wichtigen Arbeitsschritt ersparen konnte.
Er sah in jeder Fabrik, dass die Baumwolle dorthin in großen Rollen angeliefert wurde.
Dann gab es eine lange Fabrikationsstraße, wo die Baumwolle von den Rollen abgewickelt wurde – danach wurden automatisch Schablonen von einem Computer auf die Baumwolle gezeichnet.
Diese wurden dann mit elektrischen Schneidemaschinen in diverse Einzelteile ausgeschnitten – und damit war alles für den Zuschnitt der Autoschonbezüge vorbereitet und brauchte nur noch zusammengenäht werden.
Bei Lammfell-Autositzbezügen hatten seine Kunden vorher immer nur die einzelnen Felle bekommen.
Diese mussten in mühsamer Vorarbeit sortiert werden, damit die einzelnen Lammfell-Teile einigermaßen in Wolle, Farbe und Qualität zusammen passten.
Und wenn der Kunde dann 2 Stück für seine beiden Vordersitze bestellte, musste noch gründlicher vorsortiert werden.
Die Herstellung eines zusätzlichen Rücksitzbank-Bezuges aus Lammfell war die Arbeit von mehreren Stunden – entsprechend teuer wurde diese Art des Sitzens auf natürlichem Untergrund.
Tafeln
Das ganze hatte Thomas schon bei seinen ersten Besuchen gesehen und dann in China ganz einfach umgesetzt.
Er hatte in China inzwischen 4 Fabriken zusammen mit seinen chinesischen Partnern gebaut, wo diese Lammfelle gegerbt und gefärbt wurden, und jetzt brauchte er nur noch einige zusätzliche Hallen aufzustellen, wo die Hunderte oder Tausende von Lammfellen, die man jeden Tag produzierte, vorsortiert und zusammengenäht wurden.
Nicht so wie Baumwolle auf einer Rolle, aber immerhin zu einer größeren Tafel, auf die sein Kunde nur noch die Schablone drauflegen musste und dann hatte er genau das, was er brauchte.
Diese Art der Vorarbeit hatte Thomas bis zu diesem Zeitpunkt nur in China eingeführt.
Und so konnte er manchmal die aufgeregten Beschwerden irgendwelcher penibelen Näherinnen mit einem freundlich-ruhigen und leicht bräsigen „nu tööf ma, min Deern“ abschmettern. Das verstand hier in Maultaschen-Schwaben und Weißwurst-Bayern niemand.
Bauernhof
Thomas hatte inzwischen sowohl den Rat seiner Kinder als auch den des alten Häuptlings am oberen Amazonas in die Tat umgesetzt.
Er hatte jeglichen Handel mit Pelzen aller Art aufgegeben und sich nur noch auf das konzentriert, was auf einem normalen Bauernhof anfällt.
Damit waren alle zufrieden und diese Regelung setzte Thomas bis zum Ende seiner beruflichen Tätigkeit auch weiter durch.
Episode
Die Episode mit den Hunden aus Nordkorea mit ihrer Odyssee über Peking, Ost-Berlin, Tschechei, Vietnam nach Russland betrachtete Thomas nicht als eigenständige Leistung.
Zum einen war das Ganze von seinem inzwischen verstorbenen guten Freund Boris Salomon durchdacht und initiiert worden, und zum anderen wurde es auch ausschließlich mit dem Geld seiner drei französischen respektive brasilianischen Freunde finanziert.
Er selber bekam aus diesen Transaktionen eine Kommission, hatte weder ein Waren- noch ein finanzielles Risiko und genoss es, deswegen eine Zeit lang das zu tun, was ansonsten nur den Banken vorbehalten ist: mit den Geldern ihrer Kunden irgendetwas zu machen, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen oder in irgendein Risiko einzusteigen.
Als Thomas einmal gefragt wurde, ob ihm so eine Tätigkeit auch später einmal gefallen würde, verneinte er es – die Mentalität eines Sparkassen-Direktors oder Investment-Bankers hatte er nie gehabt.
No risk – no fun.
Zweites Buch
Die Witwe
Die Firma König war ein großer Betrieb. Das konnte man so sagen, weil sie im kleinsten Dorf des ganzen Landkreises ihren Sitz hatte.
Sie war, wie die allermeisten Unternehmen in dieser Gegend, solide, traditionell und ein bisschen langsam.
Herr König, in seiner Firma der absolute Chef, wollte dies zumindest in seinem persönlichen Bereich ändern. Er fing an, sich für die Luftfahrt zu interessieren. Er machte seinen Pilotenschein und konnte irgendwann sein kleines Dorf von oben betrachten.
Doch eines Tages holte ihn die angeborene Langsamkeit ein. Er machte einige Korrekturen beim Fliegen nicht schnell genug und stürzte ab und verstarb.
Seine wesentlich jüngere Ehefrau und nunmehr Witwe hatte die Wahl, sich entweder in die Großstadt, aus der sie kam, zurückzuziehen oder in dem ganz kleinen Dorf die Leitung der Firma zu übernehmen.
Sie hatte eine solide Ausbildung, sie war charmant und sehr attraktiv.
Das reichte dem örtlichen Direktor der regionalen Bank, um sie umgehend mit den nötigen Krediten auszustatten.
Frau König beschloss mit neuen Ideen, neuen Maschinen und vielleicht auch neuen Mitarbeitern ihren Betrieb aus dem kleinen Dorf hinaus in die große Welt zu führen.
Der Besuch
Thomas besuchte sie regelmäßig alle paar Monate.
Dabei erkannte er im Laufe der nächsten beiden Jahre, dass seine persönliche Abneigung gegen irgendwelche knallbunten Autositzbezügen aus irgendwelchen Stoffen von der jungen Unternehmerin geteilt wurde.
Frau König hörte interessiert zu, wenn Thomas anfing, über China und die dortigen Produktionsmöglichkeiten zu erzählen.
Als Frau König ihn irgendwann einmal fragte, ob es möglich sei, dass sie mit ihm zusammen einige der dortigen Betriebe besuchen und besichtigen könnte, war die Antwort von Thomas ein freundliches und einfaches „Ja“.
Erfahrung
Was Frau König nicht wusste, war die Tatsache, dass Thomas bereits einschlägige Erfahrungen mit gemeinsamen Besuchen deutscher Direktoren und Techniker in China hatte. Im Laufe der letzten Jahre war er mit verschiedenen Kunden in China gewesen.
Alle versprachen sich eine wesentliche Kostensenkung, wenn sie Teile ihrer Produktion nach China verlagern könnten. Sie kannten überhaupt keine chinesischen Betriebe oder chinesischen Import-Exportbehörden und vertrauten darauf, dass Thomas hier als Vermittler tätig sein könnte.
Thomas kannte dieses ganze Thema schon aus einer Zeit, die über 10 Jahre zurücklag.
Damals arbeitete er in Argentinien, Uruguay und Süd-Brasilien. Deutsche und andere europäische Betriebe wollten Teile ihrer Produktion nach Südamerika verlagern, weil dort die Rohware vor Ort ihrer Meinung nach wesentlich billiger zu beschaffen war. Das wiederum erwies sich als ein teures Missverständnis.
Die Südamerikaner hatten zwar nicht die Geduld und Ausdauer, um die Technik, die man ihnen zur Verfügung stellte, anzuwenden. Dafür waren ihnen alle Tricks und Schliche vertraut, wie sie ihren neuen Geschäftspartnern das gute Geld aus der Tasche ziehen konnten.
Sie verlangten am Ende für das bei Ihnen produzierte Produkt einen Preis, der höher war als wenn die Kunden das Ganze in ihren eigenen Betrieben in Europa produziert hätten.
Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf akzeptierte Thomas einige Jahre später den Wunsch einiger deutscher und europäischer Kunden, die den Wunsch äußerten, Thomas bei einer Reise durch China zu begleiten.
Thomas hatte dabei einen ganz profanen Gedanken im Hinterkopf – er hatte lediglich eine gepflegte Halbbildung über alles, was mit der Produktion zu tun hatte.
Und das versuchte er in den chinesischen Fabriken mit einem souveränen Lächeln so gut es ging zu überspielen.
Bei den Fabrikdirektoren in China gelang das meistens. Aber die Leiter der Technikabteilungen zogen des Öfteren die Augenbrauen hoch, wenn Thomas auf irgendeine spezifisch technische Frage so antwortete, wie es Politiker vor der Wahl tun.
Diese ersten Besuche zusammen mit deutschen Kunden endeten ohne irgendwelche Vereinbarungen.
Die deutschen Fabriken waren nicht bereit, ihre Mitarbeiter oder Teile ihres Maschinenparks oder größere finanzielle Beträge nach China zu transferieren.
Und so trennte man sich in der freundlichen Gewissheit, dass derzeit eine Zusammenarbeit nur aus gemeinsamen Mittagessen bestand.
Und jetzt kam Frau König mit dem Wunsch einer größeren, chinesischen Betriebsbesichtigung in verschiedenen Provinzen in Nord- und Zentral-China.
Theorie
Sie hatte ein fundiertes theoretisches Wissen als Ergebnis ihres Studiums der bayrischen Betriebs- und Volkswirtschaft.
Die Semester jedoch, die sich mit einigen für China wichtigen Themen beschäftigten, hatte sie auf ihrer Universität entweder nicht belegt oder sie wurden dort nicht gelehrt.
Sonst hätte sie gewusst, dass sowohl die Demut gegenüber seinem Gegenüber als auch die Tatsache, dass in China Geben seliger als Nehmen ist – dass dies die Eckpfeiler jeder Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern sind.
Thomas sagte Frau König zu, sich um die Details des seinerzeit noch schwierig zu bekommenden chinesischen Visums zu kümmern, besprach Einzelheiten mit seinen chinesischen Mitarbeitern in den verschiedenen chinesischen Provinzen, und die gemeinsame Reise sollte dann in 2 Monaten durchgeführt werden.
Die Inkaprinzessin
Die bildhübsche Inkaprinzessin, mit der Thomas jetzt schon viele Jahre verheiratet war, hatte auch die Aufgabe, persönlich alles das für die Firma zu erledigen, was innerhalb Hamburgs zu erledigen war.
Das waren Papiere für Schiffsmakler, Dokumente für die verschiedenen Banken, mit denen man zusammenarbeitete. Unterlagen für Frachtaufträge an die Speditionen zum Transport von Containern und sonstigen Waren.
Und gelegentlich auch Besuche bei den verschiedenen ausländischen Konsulaten, wenn Thomas für seine Reisen ein Visum benötigte.
Das Visum
Nachdem Thomas alle Unterlagen von Frau König erhalten hatte, füllte er den Visa-Antrag für sich und seine Begleiterin sorgfältig aus, heftete das Foto an den dort vorgesehenen Platz im Visumsantrag oben rechts und legte alles zusammen mit den für das Visum nötigen Reisepässen auf den Schreibtisch seiner lieben Frau.
Genug
Als er sie einige Tage später fragte, ob sie die Pässe schon abgeholt hatte, erhielt er von seiner lieben Prinzessin eine auf Spanisch sehr leise dahin gemurmelte Antwort.
Er fuhr zusammen und sah sie an.
Er wusste nicht allzu viel von der weiblichen Psychologie – aber ihm war in all den Jahren in Südamerika eines klar worden:
Die Steigerung einer extrem erregten und laut gestikulierenden Frau ist die Variante der ganz stillen, leisen und innigen Verwünschung.
Und das war hier jetzt ganz offensichtlich der Fall.
Thomas hatte keine Ahnung, warum sich so ein drohendes Gewitter mit Tendenz zum Hurrikan jetzt vor ihm aufbaute.
Die allerbeste aller Ehefrauen murmelte noch einen weiteren leisen und ganz kurzen Satz, den Thomas ebenfalls nicht verstand.
Dann erhob sie sich, ging in ihr kleines Arbeitszimmer, öffnete die oberste Schublade ihres Schreibtisches, holte einen Visum-Antrag heraus und riss einen Zettel aus einem Notizblock ab.
Darauf schrieb sie mit ihrer klaren und sauberen Handschrift nur einen Satz.
Dann überreichte sie alles ihrem verdutzten Thomas ohne irgendeinen weiteren Kommentar.
Thomas las den kurzen Satz.
Sein Kopf und die gesamte Körperhaltung wechselten von ungezwungen und gelassen ins andere Extrem.
Auf dem kleinen Zettel standen nur 4 Worte.
„Ein Diamant ist genug“.
Vorsicht
Mit fast allem konnte Thomas im Laufe der Jahre zurechtkommen und es auch meistens zu einem für ihn persönlich positiven Ergebnis umbiegen oder hinführen.
Mit fast allem.
Der Begriff, der ihn trotz aller Lebenserfahrung immer wieder überraschte und zur Verzweiflung brachte, bestand ebenfalls aus nur drei Worten – die weibliche Eifersucht.
Seitdem er vor inzwischen so vielen Jahren einmal vom oberen Amazonas zurückkam und seiner lieben Inkaprinzessin den wunderschönen Diamanten zeigte, den er von einem alten Häuptling dort in einer denkwürdigen Situation geschenkt bekommen hatte – seitdem glaubte seine geliebte Frau fest und innig, dass dies das Symbol einer sehr männlichen Abbitte gewesen war.
Wofür, das könne er sich aussuchen, aber kein Mensch kommt aus Brasilien zurück und schenkt seiner Frau nach so vielen Ehejahren mal eben einen Diamanten – und das ganz ohne Grund.
Für Thomas war dieser Diamant nicht nur eine Erinnerung an eine Freundschaftsgeste eines alten Häuptlings, sondern gleichzeitig auch ein Symbol dafür, dass die weibliche Eifersucht genauso hart und unvergänglich ist wie jeder Diamant.
Das Bild
Und jetzt war ihm auch klar, was der Grund dieser ganzen Situation war.
Er hatte von Frau König ein Foto für den Passantrag erhalten.
Jeder Mensch ist bemüht, sein Konterfei in amtlichen Dokumenten so positiv wie möglich darzustellen – und das war für Frau König eine ihrer leichtesten Übungen.
Sie war nicht nur gebildet und unternehmerisch mutig, sondern sie hatte auch das Glück auszusehen wie eine sehr gelungene Mischung zwischen Grace Kelly und Romy Schneider.
Als Delia – so hieß die Inkaprinzessin mit Vornamen – das Foto von Frau König gesehen hatte, war eine Sache für sie von Anfang an klar: so nicht.
Der Gedanke, dass ihr geliebter Thomas mit dieser Frau eine längere Zeit Tausende von Kilometern entfernt verbringen würde, war für sie genauso abwegig wie die Erklärungen, die sie von Thomas erhielt, als er ihr seinerzeit die Diamanten überreichte.
Drei
Die Interkontinentalflüge wurden zu jener Zeit mit 4-strahligen Flugzeugen durchgeführt, die nur einen Mittelgang hatten und wo links und rechts jeweils 3 Sitze für die Passagiere vorhanden waren.
In Reihe 9 auf diesem Flug von Frankfurt nach Peking saß Thomas am Gang.
Seine liebe Frau Delia in der Mitte. Und Frau König neben Delia am Fenster.
Die beiden Frauen hatten sich erst vor wenigen Stunden am Frankfurter Flughafen beim Einchecken kennengelernt.
Sie saßen jetzt schweigend nebeneinander und hatten schon eine erste Gemeinsamkeit.
Für beide war es die erste Reise nach China.
Sie wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es noch eine weitere Gemeinsamkeit geben würde. Es war gleichzeitig für beide auch ihre letzte Reise nach China.
Das Hamburger Reisebüro hatte Frau König die Reiseunterlagen inklusive Ticket und sonstigen Informationen per Post zugeschickt. Frau König kam einige Stunden vor Abflug in Frankfurt an, checkte ein und gab ihr Gepäck auf.
Über dieses Thema hatten Thomas und Frau König nur kurz gesprochen.
Sie meinte, sie würde wohl einige Muster mitnehmen, damit sie den Fabriken ihre Produktion vorstellen könne. Das war normal und Thomas beachtete die Worte nicht besonders.
Gepäck
Nach der Landung in Peking ergab sich ein kleines Problem.
Frau König holte einen Koffer nach dem anderen vom Gepäckband runter.
Als sie drei mittelgroße Schrankkoffer neben sich stehen hatte, blickte sie kurz zur Seite und beobachtete ihre Sitznachbarin.
Delia ihrerseits war ebenso gut auf diese Reise vorbereitet und wuchtete 2 mittelgroße Schrankkoffer vom gleichen Gepäckband.
Thomas wusste, wie man in China reiste und hatte nur seinen Rucksack und seinen kleinen Aktenkoffer als Gepäck.
Er wusste, dass man seine Wäsche in jedem chinesischen Hotel innerhalb von 2 Stunden sauber gebügelt zurückbekam und ihm war auch das innerchinesische Transportsystem inzwischen bestens vertraut.
Und jetzt stand er in der Ankunftshalle des neuen Pekinger Flughafens mit fünf schön soliden Schrankkoffern und zwei noch schöneren Frauen.
Sie fuhren mit 2 Autos vom Flughafen zu ihrem Stadtbüro, wo Frau Li auf sie wartete.
Frau Li
Frau Li war seit vielen Jahren die Leiterin des kleinen Büros, welches Thomas vor einiger Zeit in Peking angemietet hatte und wo die gesamte Kommunikation mit allen Fabriken in Nord- und Zentralchina zusammenlief, bevor sie nach Hamburg weitergeleitet wurden.
Frau Li sprach sehr gut Englisch, sie war auch schon einige Male in Deutschland gewesen und sie wurde sowohl wegen ihrer präzisen Arbeit als auch wegen ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sowie ihres Improvisationstalents von allen Chinesen sehr geschätzt.
Im ersten Auto saß Thomas neben dem Fahrer.
Die beiden Damen saßen auf dem Rücksitz und schauten während der knapp einstündigen Autobahnfahrt vom Flughafen bis ins Zentrum von Beijing konzentriert aus ihrem jeweiligen Seitenfenster.
Zu sehen gab es – wie bei den allermeisten Strecken von Flughäfen dieser Welt in die Innenstädte – so gut wie nichts.
Thomas beobachtete durch den Rückspiegel, dass sich alle paar Minuten der Kopf einer der beiden wunderschönen Damen wie bei einem Uhu blitzschnell um über 90° drehte, um sich zu vergewissern, dass der Lastwagen, der hinter ihm fuhr, immer noch da war.
Thomas hatte ihn am Flughafen gechartert.
Es war die einzige Möglichkeit, fünf moderne Schrankkoffer unbeschädigt vom Flughafen in die Stadt zu transportieren.
Das Büro
Das Büro der kleinen Firma, die Thomas vor Kurzem in China gegründet hatte, war im vierten Stock. Für Gebäude bis zu 6 Stockwerken brauchte seinerzeit in China kein Fahrstuhl eingebaut werden.
Der Fahrer des Lkws bekam bei der Ankunft im Bürohaus eine warme Mahlzeit und die Zusage, dass es bald weitergehen würde zum Hotel.
Es gab die übliche kurze und freundliche Begrüßung zwischen Frau Li und den Besuchern.
Dann wurden die drei kleinen Räume gezeigt, in denen einige Faxgeräte sowie ein altes Telex installiert waren.
Ein Raum war eingerichtet für diverse Muster und eine kleine Küche beendeten den Rundgang. Dann war die Vorstellung beendet.
Man widmete sich wieder der eigenen körperlichen Kondition, diesmal etwas leichter, indem man gemeinsam vier Stockwerke abwärts trippelte.
Dabei erzählte Thomas der guten Frau Li, dass noch etwas Gepäck unten auf einem gecharterten Lastwagen darauf wartete, ins Hotel gebracht zu werden.
Und irgendwie musste das Ganze dann am nächsten Morgen zum Beijinger Hauptbahnhof gelangen. Die gemeinsame Reise nach Zentralchina sollte um 8 Uhr beginnen.
Thomas war bisher in all den Jahren noch nie mit drei Frauen, geschweige denn mit fünf Schrankkoffern durch China gereist.
Der Fahrplan
Eine Kopie des aktuellen Eisenbahn-Fahrplanes war das mit Abstand begehrteste Schriftstück in ganz China. Es wurde einmal im Jahr neu gedruckt und war im ganzen Land mehr verbreitet als vergleichsweise die Bibel in Europa.
Außerdem war der Wahrheitsgehalt der chinesischen Variante höher als der des europäischen Konkurrenten – jede dort notierte Bahnverbindung stimmte auf die Minute genau.
Schon die Zugverbindung zwischen kleineren Städten bestand aus Zügen von mindestens 10 – 15 Waggons. Überregionale Züge waren entsprechend länger und die Eisenbahnverbindungen zwischen den großen Provinzen bestanden aus Zügen, die 30 – 40 Waggons hatten.
Das war leicht festzustellen, denn für jeden Zug gab es eine Nummer. Jeder Eisenbahnwagen war durchnummeriert und innerhalb jedes Wagens ebenso jeder Platz, egal ob Sitz- oder Schlafplatz.
Thomas hatte noch nie versucht auszurechnen, wie viele Chinesen auf diesen großen Verbindungszügen gleichzeitig auf einem Eisenbahnzug waren. Diese Zahl war mit Sicherheit genauso gewaltig wie viele andere Zahlen in diesem Riesenreich.
3 Klassen
Es gab in jedem Fernreisezug drei Klassen.
In der 3. Klasse waren nur Holzbänke.
Links und rechts von einem kleinen schmalen Mittelgang getrennt- wie im Flugzeug, nur etwas chinesischer.
Das gepflegte Chaos, das sich in der Holzklasse bereits kurzer Zeit nach dem Start entwickelte, erinnerte Thomas oftmals an seine Amazonasreisen, wenn auf den dortigen Schiffen einige hundert Eingeborene in ihren Hängematten tagelang vor sich hindösten, nur unterbrochen von dem täglichen Einheits-Essen bestehend aus schwarzen Bohnen, Reis und Hühnerfleisch.
Die chinesische Esskultur ist über 6.000 Jahre alt und sorgt auch in der dritten Klasse in jedem Waggon für eine solide Mischung aus Essen, Knacken, Beißen, Nagen und sonstigen Geräuschen und Gerüchen, für die die deutsche Sprache keinen ausreichenden Wortschatz hat.
Die 2. Klasse war bekannt unter dem Namen Hard-Sliper.
Da die Züge über mehrere Provinzen fuhren, waren sie oftmals zwei oder drei Tage unterwegs. In dieser Hard-Slipper-Klasse konnten die Passagiere auf Stockbetten schlafen – immer drei harte schmale Betten übereinander und dabei in zwei Reihen gegenüber.
Das ganze Abteil war ansonsten offen, und wer einmal durch einen Hard-Slipper lief, bekam einen wirklichkeitsgetreuen Überblick über die chinesische Mittelschicht.
Speisewagen
Dann gab es je nach Zuglänge ein bis zwei Speisewagen.
Diese Speisewagen erfüllten ihren Zweck.
Alle Chinesen wurden satt, allen Europäern wurde schlecht.
Soft-Sleeper
Und dann gab es noch in jedem dieser Eisenbahnzüge einen ganz besonderen Waggon. Er war von außen genauso grün lackiert wie alle anderen Wagen, hatte aber zusätzlich einige kleine goldene Verzierungen.
Es war dies der 1. Klasse Waggon.
Er war immer entweder direkt hinter der Lokomotive oder sonst vor oder hinter dem Speisewagen zu finden.
In diesem Eisenbahnwagen gab es die einzige Sitztoilette, sogar mit abschließbarer Tür.
Alle anderen Waggons hatten zwar auch ein WC, aber das war offen und bestand nur aus einer Rinne, wo man sich im Sitzen nebeneinander erleichtern konnte.
Dann hatte die 1. Klasse einen kleinen separaten Raum für die Schaffnerin oder den Schaffner, sie waren gleichzeitig die Chefs des ganzen Zuges.
Acht Abteile
Und schließlich das Wichtigste: Dieser einzige Erste-Klasse-Wagen hatte 8 Abteile.
Jedes dieser 8 Abteile hatte eine eigene Eingangstür.
Wenn man in ein Abteil eintrat, waren auf der linken und rechten Seite jeweils 2 Betten unten und zwei Betten oben. Und diese Betten hatten große dicke Matratzen.
Sie hießen im offiziellen Englisch der Eisenbahn deshalb immer „Soft- Sleeper“.
Da die chinesische Bevölkerung wie die meisten Asiaten im Schnitt ein bis zwei Kopf kleiner ist als zum Beispiel Europäer oder Amerikaner, waren die Betten entsprechend kurz. Aber Thomas konnte bis jetzt auch mit seinen 1,80 m darin noch gerade gut schlafen.
Handgepäck
Da die Chinesen grundsätzlich nur mit Handgepäck reisen, gab es über der Eingangstür eine kleine Ablage für die 4 Reisenden eines 1. Klasse-Abteils.
Dort konnte man seine Handtasche, seinen Karton oder seinen kleinen Handkoffer reinstellen und alles war gut verstaut.
Theoretisch gab es noch eine Staumöglichkeit unter den beiden unteren Sitzbetten. Aber im Laufe der Jahre hatte sich unter jedem Bett eine undefinierbare Menge von Materialien angehäuft, teils aus Holz oder Metall oder Pappe.
Und da die Chinesen sowieso nicht mit Koffern reisten, war die Fläche unter diesen Sofas fast überall als offener Abfalleimer umfunktioniert worden.
Das, was man mit einem Reinigungsfeudel dieser Bank herausgewischt bekam, wurde beim Säubern entfernt. Der Rest wurde danach fester Bestandteil des jeweiligen Abteils.
Logistik
Diese erste Klasse Soft-Sleeper war obligatorisch für alle Ausländer.
Kein Ausländer durfte in der dritten oder zweiten Klasse reisen, selbst wenn er es gewollt hätte.
Entsprechend begehrt und oftmals ausgebucht waren die Langstrecken-Verbindungen bei allen Ausländern, die zu jener Zeit durchs Land reisten.
Die Logistik und der Aufwand, um solche 1. Klasse-Tickets zu bekommen, war gewaltig.
Es gab noch kein zentrales Reservierungssystem, keine Computer, praktisch auch keine Telefonverbindungen von den Hauptbahnhöfen zu den Provinzbahnhöfen – alles musste am Anfang einer Zugreise vorbereitet, bezahlt und erledigt sein.
Klartext
Das bedeutete im Klartext – um es mit europäischen Bildern zu vergleichen:
China ist ungefähr so groß wie Europa.
Europa hat 10,5 Millionen qkm, China 9,6 Millionen qkm.
Wenn in diesem Beispiel Thomas von Hamburg nach Madrid mit der Bahn reisen wollte, war das kein Problem, solange die Fahrt mit einem Zug von einem zentralen Bahnhof wie Peking oder Schanghai ausging.
Wollte Thomas aber – um bei diesem Vergleich zu bleiben – in Hamburg ein Soft-Sleeper-Ticket für die Strecke München – Zürich kaufen, so war dies in Peking nicht möglich.
Niemand in Peking hatte eine Kontrolle darüber, welche Soft-Sleeper-Plätze während der Reise noch frei sein würden. Also musste Thomas jetzt schon in Peking einen Schlafwagen-Platz kaufen für die gesamte Strecke Hamburg–Zürich.
Verscheucht
Mit diesem Ticket ging er dann in München zum Bahnhof und der Chef-Schaffer der ersten Klasse musste den Chinesen verscheuchen, der vorher gratis die ganze Zeit das freie Bett von Thomas auf der Strecke von Hamburg nach München benutzt hatte.
Ein aufwendiges, nicht so richtig hygienisch durchkonzipiertes und recht teures Unterfangen, wenn man eine Reise wirklich komplett im Voraus organisieren wollte.
Genau
Solange Thomas alleine durch China reiste, konnte er es zusammen mit Frau Li oftmals schaffen, auch in Teilstrecken einen Platz zu ergattern – aber jetzt bei dieser geplanten Reise mit den drei Damen musste alles vorher genauestens durchorganisiert sein.
Überraschungsei
Hinzu kam jetzt als Reise-Überraschungs-Ei die aktuelle Gepäck-Situation.
Als Frau Li die 5 neuen Schrankkoffer zum ersten Mal sah, nickte sie nur kurz einige Male mit dem Kopf.
Das bedeutete übersetzt so viel wie: Nein, mein Gott, nicht auch das noch.
Kopfnicken ist in China immer eine Form der Verneinung, und je mehr man nickt, desto unlösbarer wird das Problem angesehen.
Dann überlegte Frau Li und ging nahe zu Thomas und murmelte nur ganz kurz „Abteil 8“.
Thomas nickte ebenfalls und blickte hilfesuchend an die Decke des großen Beijinger Hauptbahnhofs, wo sie jetzt alle standen, um zu sehen, von welchem Gleis ihr Zug losfahren würde.
Korrekt
Dass die 1. Klasse acht Abteile hat, ist korrekt.
Korrekt ist aber auch, dass immer nur die Schlafplätze von den ersten sieben Abteilen verkauft wurden – also pro Erste-Klasse-Wagen immer nur 28 Betten für 28 Erste-Klasse-Reisende.
Nicht mehr und nicht weniger.
Nr. 8
Das 8. Abteil war immer abgeschlossen.
Nur der Chef der Schaffner hatte hierfür einen Schlüssel und war autorisiert, dieses Abteil zu öffnen. Es war das Spezialabteil in jedem Zug für ganz hohe und wichtige Menschen.
Der Polizeipräsident, der Provinz-Gouverneur, der Abgeordnete der Volkskammer oder einer der ganz wenigen sonst sehr privilegierten Chinesen hatten hier die Möglichkeit, jederzeit in einem Bett des 8. Abteils zu reisen.
Thomas wusste das.
In sehr weit entfernten Provinzen hatte er bei seinen ersten Besuchen dort einen ähnlichen Status wie diese sehr privilegierten Chinesen.
Für ihn und Frau Li wurde damals öfter das Abteil Nummer 8 aufgeschlossen.
Hahnenkampf
Nur wenn es mal ganz schlecht lief und das Abteil Nummer 8 bereits besetzt war, dann konnten auch Thomas und seine Begleitung nichts machen.
Einen Hahnenkampf, wer in so einem Fall die größere Präferenz oder das höhere Privileg hatte, das gab es in China nicht.
32 Tickets
Der Reiseplan für die 4 Personen dieser speziellen Reisegesellschaft durch das nördliche und zentrale China war von Frau Li nach Rücksprache mit den vier Fabriken, die besucht werden sollten, auf gut eine Woche konzipiert worden.
Sie waren 4 Personen.
Frau Li kaufte einen Monat vor dem Start dieser Eisenbahn-Expedition die nötigen 32 Tickets – 4 Personen mit je vier Mal Hinfahrt und viermal Rückfahrt – zum Preis eines Jahresgehalts eines Lehrers oder Bankangestellten.
Und jetzt standen sie im Bahnhof und Thomas überlegte, ob er noch einmal einen Lkw chartern sollte für das kleine Gepäck.
Er wusste, dass so eine Überlegung witzlos war, denn alle Eisenbahnverbindungen in China waren doppelt so schnell wie jede Reise mit dem Auto über eine Landstraße.
Hoffnung
Es blieb also nur die Hoffnung, dass es irgendwie gelingen würde, auf allen Strecken das berühmte Abteil Nummer 8 zusätzlich zu bekommen, um darin das kleine Gepäck auf die Betten zu legen und somit gemeinsam reisen zu können.
Thomas hatte sich gleich nach seiner Ankunft in Peking im Hotel abgesetzt, um bei der nächsten Bank eine größere Menge von US-Dollar und D-Mark, die er zur Sicherheit immer bei sich führte, in chinesisches Bargeld einzutauschen.
Er übergab die beiden Umschläge, mit denen er ins Hotel zurückkam, sofort an Frau Li, denn nur sie war in der Lage, entsprechende Privatgeschäfte mit den Schaffnern der ersten Klasse in den verschiedenen Zügen zu führen.
Der Mini-Harem
Thomas fiel bei den Vorbereitungen für diese etwas ungewöhnliche Gepäck-Aufgabe nur die Rolle zu, dass er mit seinem bildschönen Mini-Harem und den 5 größeren Koffern am Bahnsteig vor dem 1. Klasse-Waggon stehen sollte.
Alle 3 Europäer – Thomas mit seinem Mini-Harem – möglichst mit einem Gesichtausdruck, der eine gelungene Mischung aus Reisefreude und Verzweiflung darstellen sollte.
Frau Li hoffte dann auf ein Einsehen der Schaffnerin der 1. Klasse verbunden mit der Aussicht, dass man mit dem kleinen Geschenk von Frau Li die nächsten Kindergeburtstage oder deren jährliches Schulgeld bezahlen könnte.
Eine wirklich andere Alternative gab es nicht.
In Peking klappte alles so, wie es vorbereitet und geplant war.
Delia
Als das Abteil Nummer 8 jetzt zum privaten Gepäckwagen umfunktioniert war, fragte Thomas seine liebe Delia auf Spanisch, wieso sie auf die Schnapsidee gekommen war, diese beiden Schrankkoffer mit auf die Reise zu nehmen.
Sie antwortete, ohne auch nur einen Augenblick auf Frau König zu blicken, dass sie ja nicht wissen konnte, was diese Frau alles mitbringen würde.
Und außerdem hätten Thomas und sie ja 2 Flugtickets gehabt. Und sie wusste von all den früheren Reisen, dass Thomas sowieso nur immer mit Handgepäck nach China fliegt.
Also hätte sie das Recht, in diesem Fall die erlaubte maximale Anzahl von Koffern zu packen und mitzunehmen.
Und weil seine liebe Delia hier ihre kleine Rede von selber beendete, wusste Thomas um die Brisanz der Erklärung.
Der Schraubenzieher
Thomas erwartete, dass die kommende Woche nicht wirklich stressfrei verlaufen würde und verzichtete deswegen auf jeden Kommentar.
Er griff zu seiner Handtasche und holte daraus einen kleinen, aber qualitativ sehr guten Schraubenzieher heraus.
Seine liebe Frau hatte sich schon viele Male vorher gefragt, warum Thomas immer mit so einem Schraubenzieher nach China reiste.
Dieser Schraubenzieher hatte seinen festen Platz in der Handtasche genau dort, wo einige Pflaster, Kopfschmerztabletten und ein bisschen Verbandszeug ihren festen Platz hatten.
Da Delia es als ihre Aufgabe betrachtete, dass ihr Mann immer mit einem sehr kleinen aber gut sortierten Erste-Hilfe-Paket reiste und sie dies regelmäßig auf Blutspuren und Verfalldatum kontrollierte, war ihr die Existenz dieses Schraubenziehers gut bekannt.
Und jetzt beobachteten alle, was Thomas damit anstellte.
Lautsprecher
In jedem Abteil der 1. Klasse gab es über einem der oberen Betten und kurz unter der Decke einen kleinen Lautsprecher.
Dieser war in allen Zügen Chinas immer gleich.
Es wurden über den Lautsprecher nicht nur die nächsten Orte und sonstige für die Reise wichtige Nachrichten durchgegeben, sondern auch Musik.
Und zwar jeden Tag 14 Stunden lang von früh morgens bis spät abends.
Musik
Diese Musik war für Freunde der klassischen Peking-Oper sicherlich ein Ohrenschmaus, aber man kann davon ausgehen, dass die Anzahl der Ausländer, die zu diesen Liebhabern gehörten, relativ gering war.
Thomas hatte vor vielen Jahren bei einem seiner allerersten Besuche in Peking einmal eine solche Peking-Oper miterlebt.
Der Bettler
Er erinnerte sich an einen Trick eines Bettlers in einer Kleinstadt in Südamerika, den er dort einmal aus Mitleid zu einem einfachen Essen mitgenommen hatte.
Dieser Profi erklärte ihm, wo man an bestimmten Stellen am Arm und Bein kräftig drücken musste, um die Blutzirkulation für eine gewisse Zeit zu reduzieren oder zu unterbinden.
Dann wurde man aschfahl im Gesicht und die Leute gaben einige Geldstücke, weil sie einen Sterbenden nicht bei seinen letzten Atemzügen begleiten wollten.
Thomas hatte es damals zusammen mit seinem Bettler-Freund selber ausprobiert. Es funktionierte – und er hatte es seitdem nicht mehr angewandt.
Die Pause
Bis zu dem Moment kurz vor der Pause der Peking-Oper.
Seine Begleiter erschraken zutiefst, als er völlig farblos und mit ausdruckslosem Gesicht darum bat, ganz schnell mit einer Taxe ins Hotel gefahren zu werden.
Seine chinesischen Begleiter hatten volles Verständnis für die Situation und waren beschämt und dankbar, als Thomas eine Begleitung ins Hotel ablehnte.
Jetzt konnten alle ihre heiß geliebte Peking-Oper auch im zweiten Teil genießen. Und Thomas genoss das Gefühl der Stille, als er auf seinem Hotelzimmer ankam.
Routine
Thomas hatte in dem, was er jetzt tat, eine jahrelange Übung.
Jeder Handgriff war trainiert und innerhalb von 30 Sekunden hatte Thomas mit seinem Schraubenzieher den kleinen Lautsprecher komplett aus der Wand rausgeschraubt.
Die Kabel abgetrennt und so gefaltet, dass sie sich nicht berühren konnten.
Der Lautsprecher selbst landete in einer Ecke über dem Türeingang, dort, wo das kleine Gepäck normalerweise verstaut wurde.
Alle wussten jetzt, dass Thomas in seinem nächsten Leben zumindest als Lautsprecherentferner in chinesischen Eisenbahnen sein Auskommen haben würde.
Die Ankunft
Die Reise zur ersten Fabrik war nach chinesischen Maßstäben nicht besonders lang.
Die Fabrik befand sich ca. 500 km westlich von Peking und der Zug sollte dort um kurz vor 15 Uhr eintreffen.
Frau Li hatte mit der Schaffnerin besprochen, dass der Zug erst dann weiterfahren würde, wenn nicht nur die 4 Personen, sondern auch ihr gesamtes Gepäck draußen auf dem Bahnsteig zu sehen war.
Der Zug traf pünktlich ein, alles wurde irgendwie aus dem 1. Klasse-Waggon rausgeschleppt und der Zug fuhr weiter.
Es war ein kleiner Bahnhof.
Aber auch kleine Bahnhöfe hatten Bahnsteige, die einige Hundert Meter lang waren. Jeder Waggon der großen Fernzüge musste beim Halt mit einem Bahnsteig verbunden sein, entsprechend lang waren die Bahnsteige auch in kleinen Provinz-Bahnhöfen.
Angst
In China gab es zu jener Zeit immer noch die Befürchtung eines Konflikts mit Russland.
Nach dem Grenzzwischenfall im Jahr 1969 auf dem Höhepunkt der chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisse herrschte zwischen den Regierungen beider Länder Eiszeit und die Befürchtung eines bewaffneten Konflikts.
Das war auch der Grund, dass von den 23 Provinzen Chinas noch Anfang 1980 viele Gebiete militärisches Sperrgebiet waren.
Darunter fast alle nördlichen Provinzen, die an Russland grenzten.
Sperrgebiet
Da Thomas aber aus vielerlei Gründen gerade dort in diesen nördlichen Provinzen seine Arbeit machen musste, hatte er zuerst begleitet von Militärpolizei und Geheimpolizei, später ausgestattet mit den verschiedenen Sondererlaubnissen als eine der ganz wenigen Europäer die Möglichkeit, dort Betriebe in diesen militärischen Sperrgebieten zu besuchen und mit diesen Betrieben zusammenzuarbeiten.
Die Furcht der Regierung führte aber auch zu anderen Ergebnissen, die Thomas erst im Laufe der Zeit mitbekam.
Zum Beispiel waren alle Tankstellen militärisches Sondergebiet und für Ausländer Sperrgebiet.
Wenn Thomas mit einem Taxi oder dem Auto eines Betriebes fuhr und der Fahrer musste tanken, dann wurde Thomas immer ein oder zwei Straßen von der Tankstelle entfernt aus dem Wagen rauskommend und ihm wurde gesagt, dass er in Kürze dort wieder abgeholt wird.
Er durfte nicht wissen, wo genau diese Tankstelle war.
Zu dem gesamten Komplex der Sperrgebiete und der militärischen Kontrolle gehörten in Nordchina auch sämtliche Bahnhöfe.
Jeder Bahnhof war offiziell ein militärisches Sperrgebiet und das bedeutete für die normalen Chinesen, dass sie nicht zu einfach zu den Bahnsteigen gelangen konnten, um zum Beispiel Verwandte vom Zug abzuholen oder bis zum Zug zu begleiten.
Es gab auch nicht das System der Bahnsteigkarten, wie man es in Deutschland seinerzeit noch oftmals hatte.
Thomas und Frau Li wussten natürlich von diesen Maßnahmen, die vom Militär, der Bahnhofspolizei und der zivilen Polizei streng kontrolliert wurden.
Schleppen
Die nächsten eineinhalb Stunden liefen wie folgt ab:
Der Zug hatte seinen Soft-Sleeper-Waggon direkt hinter der Lokomotive.
Die Lokomotive war naturgemäß bis zum äußersten Ende des Bahnsteigs gefahren, damit alle Waggons mit dem Bahnsteig verbunden waren.
Frau Li spazierte jetzt mit ihren beiden hübschen Begleiterinnen die ganze Strecke von der Lokomotive am äußersten Ende des Bahnsteigs zurück bis zu der Stelle, wo es am anderen Ende des Bahnsteigs zu einem Tunnel ging.
Dort ging man herunter und unter den anderen Bahnsteiggleisen hindurch.
Dann kam man an einen großen abgesperrten Platz, wo alle angekommenen Reisenden genau kontrolliert wurden.
Wenn sie alle nötigen Reisepapiere bei sich hatten, inklusive Ausweis und Fahrschein, wurden sie aus dem Sperr-Bereich des Bahnhofs entlassen und konnten zum ersten Mal die Menschen treffen, die sie abholen wollten.
Dies ganze Kontroll-System, das für Frau König und Delia völlig neu war, dauerte seine Zeit.
Frau Li musste genau erklären, woher man kam, wohin man wollte, wer auf sie wartete und in welchem Hotel man übernachten würde.
Nach 20 Minuten Frage und Antwort durften die drei Damen schließlich zu ihren draußen hinter der Absperrung wartenden Freunden aus der Fabrik gehen.
Die Fabrik war in Anbetracht des hohen Besuchs mit 2 Direktoren und 2 Abteilungsleitern am Bahnhof erschienen, 8 Leute plus Fahrer passten in den Mini-Bus der Fabrik.
Man war zuerst erstaunt und besorgt, weil man Thomas nicht in dieser Gruppe entdecken konnte.
Dann erklärte Frau Li, dass Thomas sich um das Gepäck kümmern wollte und bat einen Direktor, irgendwie einen zweiten Lkw zu organisieren, denn man würde etwas Gepäck haben.
Grausam
Thomas stand am Ende des Bahnsteigs mit seinen fünf Schrankkoffern und stellte fest, dass diese Ungetüme nirgends irgendwelche Rollen hatten.
Gepäckträger mit Gepäckwagen gab es nicht, das wäre auch ein tot geborenes Unterfangen gewesen: Sie hätten den ganzen Tag auf Reisende warten müssen, die zufällig mal mehr als ein bisschen Handgepäck dabei hatten.
Thomas war inzwischen der Einzige, der noch auf dem ansonsten inzwischen leeren und sehr langen Bahnsteig stand – und er überlegte intensiv, was er jetzt machen könnte.
Es gab nicht mal einen Polizisten oder irgendeinen Gleisarbeiter, den er hätte ansprechen können. Und wenn, hätte dieser brave Chinese irgendeine andere Fremdsprache sprechen müssen, damit er sich mit Thomas hätte verständigen können.
Thomas kannte diesen Bahnhof von vielen früheren Besuchen. Er überschlug die Entfernung und schätzte danach die Zeit, die er benötigen würde, um mit einem ersten Koffer bis zum Kontrollpunkt zu gelangen. Er glaubte, das Ganze irgendwie zwischen 15 und 20 Minuten zu schaffen.
Dann musste er wieder zurück zu seiner Gepäck-Sammelstelle und das Gleiche mit dem nächsten Koffer abarbeiten.
Eine Hilfe von den Leuten der Fabrik konnte er nicht erwarten, sie durften nicht in das Sperrgebiet ohne ganz spezielle Erlaubnisse, die man natürlich nicht vorbereitet hatte.
Nach 1 Stunde war Thomas mit dem dritten Koffer unterwegs.
Nach anderthalb Stunden schleifte er den vierten Schrank über den rauen Boden des Bahnsteigs, die Treppen runter, durch den Tunnel und dann bis zum Kontrollpunkt.
Beim fünften und letzten Koffer merkte er endgültig, dass er nicht mehr 20, sondern inzwischen schon gut über 40 Jahre alt war.
Seine Kondition war am Ende, er zitterte nur noch und träumte davon, dass er irgendwann in seinem Bett die Augen aufmachen würde, um festzustellen, dass der Albtraum vorüber war.
Aber die Wirklichkeit kann grausam sein.
Auch in China.
Völkerverständigung
Kurz vor 6 erreichte man die Fabrik.
Das Essen war vorbereitet und die nächsten 2 Stunden vergingen mit diversen Ansprachen, Toast auf alle wichtigen Völker-Freundschaften, Fischgräten in Honig, schwarze Käfer leicht frittiert und Skorpionen ohne Stachel – man hatte das Beste vorbereitet, was die Fabrik und die Märkte der Stadt hergaben.
Das Bier floss, Frau König trank gerne mit, als gelernte Bayerin war das eine ihrer leichteren Übungen.
Thomas wusste, dass der Bierverbrauch dieser Welt in Brasilien am zweitgrößten war. Das meiste Bier pro Kopf wurde immer noch in China getrunken.
Ab 7 Uhr wurde es dunkel und im Dunkeln passiert in China nichts mehr.
Man fuhr in einer kleinen Kolonne zu dem einfachen Hotel des Ortes, wo man das Wasser für die Badezimmer extra noch aufgewärmt hatte.
Das Hotel
Das Gepäck ließ man der Einfachheit halber in der Lobby des Hotels. In China gibt es genau wie in Russland und Südamerika die besten Zimmer immer in den obersten Stockwerken.
Thomas hatte sich inzwischen selber ein ärztliches Attest ausgestellt, in dem er sich für heute und eine ungewisse Anzahl von Folgetagen als unheilbar krank meldete – gültig auch im Kriegs- und Verteidigungsfall.
Er würde keinen einzigen Koffer auch nur noch zwei weitere Stufen raufschleppen.
Da die Lobby zu diesem Zeitpunkt völlig leer war, nahmen die beiden Damen aus Deutschland jeweils einen ihrer Koffer, legten ihn auf ein gegenüberliegendes altes Sofa und öffneten ihn.
Sie nahmen irgendwelche Sachen raus, die sie für diese Nacht wohl brauchen würden und verabschiedeten sich dann mit Schwamm, Zahnpasta, Kosmetik-Tasche und ihrem jeweiligen Negligé unter dem Arm auf ihre Zimmer.
Thomas wusste am nächsten Morgen, dass die Erlebnisse des vorigen Tages kein Albtraum sondern chinesische Reise-Realität waren.
Er nahm sein kleines Handgepäck, holte seine Dose Pulverkaffee raus und mischte einige Löffel in die heiße Ziegenmilch, die es in dieser Stadt jeden Morgen zum Frühstück gab.
Der Abschied
Die beiden Autos fuhren vor, das gesamte Gepäck wurde in den Spezial-Lkw verladen und der Fahrer wurde angewiesen, rauszufinden mit welcher Sondergenehmigung man das Gepäck wieder oben auf den Bahnsteig transportieren könnte.
In dem anderen Mini-Van fuhren die 3 Damen zusammen mit Thomas und den Fabrikdirektoren in die Fabrik.
Man hatte noch 30 Minuten Zeit, um einen Schnell-Rundgang zu machen.
Dann mussten alle wieder zum Bahnhof. Die Reise war durchgeplant und heute Vormittag sollte der nächste Reise-Abschnitt zur nächsten Fabrik beginnen.
Die Woche
Man kann die darauffolgenden Tage relativ einfach einteilen.
8-12 Stunden Bahnfahrt.
2 Stunden Gepäckschleppen zum jeweiligen Bahnhofsausgang.
2 Stunden Schleppen zurück zum Bahnsteig für die Weiterfahrt.
Das obligatorische Festessen bei jeder neuen Fabrik war fester Bestandteil des Programms und somit alternativlos.
Abends und nachts wurde geschlafen.
Speed-Date
Frau König lernte auf diese Art und Weise in einem Speed-Date vier chinesische Fabriken kennen.
Deren Produkte, Tätigkeiten und Arbeitsweisen konnte sie – dem vorgegebenen Zeitfenster geschuldet – nicht so richtig einordnen.
Aber schön, dass man dabei gewesen war.
Es blieb bis zum Schluss ihr gut gehütetes Geheimnis, wie viele und wenn ja, welche Muster von welchen Materialien sie in welchen Koffern mitgebracht hatte.
Geöffnet, geschweige denn gezeigt und besprochen wurde kein einziges Stück.
Dazu fehlte schlicht die Zeit.
Geklappt
Die Fahrten des Gepäcks im Abteil Nummer 8 klappten sechsmal.
Zweimal war Nummer 8 bereits besetzt.
Da wurden gegen ein gutes Trinkgeld einige Chinesen aus der 2. Klasse dafür bezahlt, dass sie für eine Nacht zu zweit nebeneinander in den sehr schmalen Betten der Hard-Sleeper-Klasse schliefen.
Die fünf Schrankkoffer lernen auf diese Art und Weise kennen, wie es ist, wenn man zur Abwechslung die Nacht auf einem Bett der zweiten Klasse verbringt.
Der Gruß
Die Kommunikation zwischen Delia und Frau König erlebte ihren Höhepunkt, als sie sich nach der gemeinsamen Rückkehr am Frankfurter Flughafen mit einem – zwischen leicht zusammengebissenen Zähnen artikulierten – freundlichen Gruß voneinander verabschiedeten.
Drittes Buch
Präludium
WIKIPEDIA: Ein Präludium ist ein Instrumentalwerk mit eröffnendem oder hinführendem Charakter.
Die Operation
Doktor Hauptmann war in seinem Fach eine Koryphäe.
Er hatte sich in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses im Laufe der Jahre vom Assistenzarzt bis hin zum Chefarzt der Chirurgie hochgearbeitet.
Er war ruhig, ausgeglichen, gelegentlich freundlich und er liebte die Ordnung.
Seine Bewunderung galt den Piloten, die vor jedem Start eine lange Checkliste abarbeiteten.
Er hatte sich im Laufe der Zeit angewöhnt, dies für sich vor jeder Operation zu übernehmen.
Er sagte gelegentlich, dass es unbedeutend sei, ob man die Verantwortung für einige Hundert Mitreisende oder nur für den einen Menschen hat, der sich ihm in einer Operation anvertraut.
Diese Argumentation war schlüssig – und so nahm Doktor Hauptmann vor jeder Operation den Patientenbogen in die Hand und lass die ersten Absätze mit seiner leisen, aber trotzdem klaren Stimme halblaut vor.
Blutdruck – normal
EKG – unauffällig
Lungen – geröntgt, normal
Anamnese – ohne Befund
Laborwerte – alle ausgewertet, normal
Narkose – vom Patienten gewünscht, Anästhesist bereit.
Medikamente – vorbereitet.
Vorbereitungen – abgeschlossen
Operation – freigegeben.
Jetzt würde der Pilot fortfahren mit „Ready for take off“.
Doktor Hauptmann musste auf der Erde bleiben.
Er legte den Patientenbogen beiseite, sah sein heute fünfköpfiges Team an und schloss seine Vorbereitung wie immer mit dem Satz:
„Auf geht’s.
Bitte ein Zehner-Skalpell.
Schwester, bitte Tupfer bereithalten.
Bei dem heutigen Patienten handelte es sich um einen 61-jährigen Mann. 1,70 groß, leicht übergewichtig, ohne größere Vorerkrankung und somit für Doktor Hauptmann ein klassischer Routinefall.
Der Anästhesist beobachtete seine Messgeräte, der Patient war korrekt einige Zeit vorher betäubt worden.
Die Anwesenden dieses Operations-Teams konnten wie immer nur sehr wenig vom Patienten sehen, da der größte Teil seines Körpers mit dem dunkelgrünen OP-Tuch bedeckt war.
In diesem Fall der gesamte Körperbereich vom Halsansatz abwärts- nur der Kopf lag frei sichtbar unter der großen und sehr hell leuchtenden OP-Lampe.
Doktor Hauptmann ging zur Schmalseite des OP-Tisches und betastete mit den sterilisierten OP-Handschuhen, die er sich genau wie alle anderen Anwesenden vorher übergestreift hatte, den Kopf des Patienten.
Er nahm den Kopf zwischen seine beiden Hände und bewegte ihn ein wenig nach links und dann ein wenig nach rechts.
Er blickte noch einmal abschließend auf seinen Kollegen und Untergebenen.
Dann beugte er seinen Kopf nach unten und schob mit der linken Hand. Hand einen neben der OP-Liege stehenden 3-beinigen Rollhocker zu sich hin.
Als der Hocker in der gewünschten Position unter ihm war, setzte er sich auf den Hocker und blickte dem vor ihm liegenden Patienten noch einmal aus sehr kurzer Distanz ins Gesicht.
Jetzt war der Moment der eigentlichen Operation gekommen.
Doktor Hauptmann nahm das Skalpell in die eine Hand und mit der anderen Hand strich er dem Patienten über den Kopf.
Dann begann er, ihm die Haare zu schneiden.
Abgelenkt
Sorgfältig verkürzte er das dunkle Haar an vielen Stellen.
Im Bereich des Hinterkopfes um meist einen Zentimeter, im Bereich von Nacken und Ohren nur um wenige Millimeter.
Als in der Mitte der Operation das Handy des Assistenzarztes klingelte, war er für einen Moment abgelenkt.
Sein scharfes Skalpell berührte kurz den unteren Teil eines Ohres. Ein Ohrläppchen löste sich vom Rest des Ohres und rutschte auf den Operationstisch.
Doktor Hauptmann blickte kurz auf die Oberschwester, die von früheren Operationen her genau wusste, was zu tun war.
Sie sammelte mit einer Pinzette das kleine Fleischstückchen auf, legte es in eine Metallschale und wartete bis Doktor Hauptmann mit seiner Operation fertig war.
Sie wusste, dass der Chefarzt die Grundeinstellung hatte, dass er dafür zuständig war, alles zu entfernen.
Wenn aus irgendwelchen Gründen einmal etwas wieder angenäht werden musste, so war dies die Aufgabe des Teams von Assistenzarzt und Oberschwester.
Der Rest der heutigen Operation verlief ohne weitere Zwischenfälle.
Danke
Doktor Hauptmann dankte zum Schluss seinem Team mit einem freundlichen Kopfnicken für die wie immer gute Zusammenarbeit.
Er griff in seine Hosentasche, holte sein Handy raus und machte einige Fotos von dem Ergebnis seiner heutigen Operation.
Dann verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern, ermahnte den Anästhesisten, den Patienten sorgfältig wieder zurückzuholen und verließ mit einem kurzen Kopfnicken den Saal.
Der Assistenzarzt und die Oberschwester brauchten nur wenige Minuten, um den heutigen Kollateralschaden diskret wieder anzunähen und der Patient wurde in den Aufwachraum gerollt.
Doktor Hauptmann war inzwischen in seinem Privatbüro angekommen und blätterte interessiert in der neuesten Ausgabe der Mitteilung des deutschen Friseurhandwerks.
Er fand einige interessante Artikel.
Im Besonderen die Ergebnisse einer amerikanischen Studie über stärker ondulierte Patienten erregten sein Interesse.
Dann fing er an die Rechnung zu schreiben für all die Kosten, die er berechtigt war, bei der heutigen Operation privat abzurechnen.
Aufgewacht
Der Patient selber wachte 2 Stunden später aus seiner Narkose auf.
Das erste, was er sah, war das freundliche Gesicht einer jungen Krankenschwester.
Sie tat das, was sie gelernt hatte, was beim ersten Aufwachen aller Patienten auf dieser Station als erstes zu tun ist.
Sie holte einen großen runden Spiegel mit einem soliden Holzgriff und zeigte dem Patienten damit seine neue Frisur.
Sie wusste, dass jeder Patient als Nächstes den Wunsch hatte, sich selber aus allen Positionen heraus zu betrachten und übergab ihm den Spiegel.
Der Patient nahm den Spiegel in die linke Hand und betrachtete das Ergebnis auf der linken Seite.
Dann wechselte er den Griff in die rechte Hand und studierte genau, was jetzt zu sehen war.
Dann legt er den Spiegel auf sein Bett und lächelte die Schwester an.
Er war mit seiner neuen Frisur zufrieden.
Der Berater
Herr Bartram hatte sehr aufmerksam zugehört.
Alles, was Thomas ihm in den letzten 10 Minuten erzählt hatte, versuchte er sich vorzustellen – so gut es eben ging.
Im Besonderen, weil Thomas ihn vorher gewarnt hatte, dass das, was er erzählen würde, die Vorstellungskraft eines normalen Zuhörers mit einiger Sicherheit sprengen wird.
Und dann fing Thomas an, die Geschichte der Operation zu erzählen.
Die ADF-Bank
Sie saßen in einer kleinen, sehr renommierten Cafeteria, die sich in der Hamburger Innenstadt ungefähr auf halbem Weg zwischen der Firma von Thomas und der Bank von Herrn Bartram befand.
Herr Bertram war seit vielen Jahren der leitende Bankberater seiner Bank.
Er war etwas über 60 Jahre alt und würde nur noch eine relativ kurze Zeit seine Tätigkeit bei der ABF ausüben.
Jeder in der Hamburger City nannte die ABF Bank nur mit den 3 Buchstaben, der komplette Name war Allgemeine Deutsche Finanzbank.
Herr Bartram war seit über 30 Jahren der Bankberater der Firma Deckel.
Er begleitete diesen Kunden schon, als der Vater von Thomas noch die Firma leitete.
Herr Bartram war einer der ganz wenigen Menschen, der im Laufe der Jahrzehnte einen wirklichen Einblick in die Firma Deckel gewonnen hatten.
Nur so konnte er es verantworten, dieser Hamburger Kaufmannsfamilie die Kredite zu gewähren, die man brauchte, um den Handel erfolgreich in den verschiedenen Kontinenten abzuwickeln.
Kredite
Herr Bartram wusste, wie man eine auch noch so geschickt verklausulierte Bilanz lesen musste.
Er war mit den Begriffen Rückstellung und Finanzbuchhaltung vertraut und wusste somit als einer der ganz wenigen, wie die wirklich finanzielle Situation dieses Kunden während der letzten 30 Jahre war.
Als Thomas vor einigen Jahren anfing, große Mengen roher Lammfelle in Australien zu kaufen und diese sofort direkt nach China schickte, um daraus Lammfell-Autositz-Bezüge zu fertigen, die schließlich in Europa verkauft wurden – da war es Herr Bartram, der nach gründlicher Einsicht in die entsprechenden Unterlagen sein Einverständnis gegeben hatte.
Es war dies ein absoluter Vertrauensbeweis, denn seine Bank zahlte an irgendwelche Leute in Australien große Gelder für eine Ware, welche die Bank als Sicherheit nie zu sehen bekam.
Korrekt
Erst viele Monate später traf dann eine Fertigware in Hamburg ein.
Dieses Endprodukt lieferte Thomas an sehr große deutsche und europäische Supermärkte und Discounter.
Von dem Verkaufserlös bekam die Bank ihre Darlehensbeträge zurück und alles wurde korrekt abgewickelt.
Vorhersage
Herr Bartram war sich bewusst, dass die nächste Generation von Bankberatern in seiner Bank ganz anders vorgehen wird.
Er hatte gelegentlich Thomas gegenüber angedeutet, dass in 10 Jahren die jungen Leute in seiner Bank nur noch alles in ihre Computer oder Laptops eintippen würden und dann würde über irgendwelche Algorithmen als Ergebnis erscheinen, ob ein Kredit genehmigt wird oder nicht.
Die Erfahrungen, die er in den Jahrzehnten bei der ABF Bank gesammelt hatte, werden dann nutzlos sein – und eine Firma wie die von Thomas Deckel wird dann seiner Meinung nach nur überleben können, wenn sie genauso anonym und kalt nach irgendwelchen Computerentscheidungen handelt.
Irrsinn
Bei einem letzten vertraulichen Gespräch, das nur einige Wochen zurücklag, sagte Herr Bartram, dass es jetzt in seiner Bank schon zwei Abteilungen gibt, die man sich vorher so nie hätte vorstellen können.
In der ersten Abteilung arbeitete eine Gruppe von jungen Mitarbeitern, um alle großen Kunden so weit es geht an die Bank zu binden.
Jeder Kredit, den der Kunde haben möchte, wird wenn irgend möglich gewährt, Hauptsache, man erhöht den Umsatz und damit die Bilanzsumme.
Gleichzeitig würde es jetzt in der gleichen Bank schon eine zweite Abteilung geben, die ebenfalls sehr stark expandiert.
Die dortigen jungen Menschen bekamen all diejenigen Firmen in die Bearbeitung, die zu große Kredite bekommen hatten und das Ganze nicht mehr managen konnten und entweder kurz vor der Pleite standen oder bereits insolvent waren.
Hier musste jetzt diese zweite Abteilung eingreifen, um so viel zu retten wie noch zu retten war.
Und je mehr sie retten konnte – oder andersrum gesagt, je geringer am Ende der Verlust der Bank war – desto größer war der Bonus und das Ansehen dieser zweiten Abteilung.
All das hatte Herr Bartram in den letzten 30 Jahren ganz alleine entschieden, mit seinen Kunden abgestimmt und es wurde gemeinsam erfolgreich abgewickelt.
Etrusker
Thomas wusste, dass Herr Bartram nur noch 2 oder 3 Jahre in seiner traditionellen Art für die ABF Bank arbeiten würde.
Dann wollte er nach Italien ziehen.
Sein großes Hobby war die Geschichte der geheimnisvollen Etrusker, darüber wusste er mehr als das gesamte Hamburger Völkerkundemuseum zusammen.
Nach der persönlichen Meinung von Herrn Bartram würde diese neue Art der unpersönlichen Kundenbeziehung zwischen den hanseatischen Handelshäusern und den jungen Computer-Beratern in 10 Jahren bei allen Banken gleich sein.
Falsch
In dieser Voraussage lag er falsch.
Es war bereits nach 5 Jahren überall so, wie er es vorher gesehen hatte.
Statt auf gesunden Menschenverstand zu vertrauen, wurde ein großer Teil der späteren weltweiten Finanzkrisen aufgrund von Algorithmen und Computerentscheidungen verursacht.
Das alles wusste Thomas.
Aber ihm war auch klar, dass die Geschichte der burlesken Operation, die er vor einigen Minuten Herrn Bartram detailliert geschildert hatte, dass diese Geschichte einer Erklärung bedurfte.
Erklärung
Thomas wandte sich an seinen langjährigen Vertrauten.
„Ich weiß, dass ich mit dieser Haarschneide-Operations-Geschichte bei jedem Zuhörer eine Mischung von Unverständnis, Schmunzeln und Erwartung hervorrufe.
Ich habe mir das Ganze natürlich alles nur ausgedacht, aber es ist gleichzeitig für mich und auch für Sie, lieber Herr Bartram, ein Einstieg in das, was ich Ihnen jetzt dazu sagen werde.
Die Wirklichkeit ist manchmal schwerer zu verstehen oder zu ertragen als eine noch so gut ausgedachte Erzählung aus dem Reich der Fantasie.
Lassen Sie uns jetzt etwas Kleines zu Essen bestellen.
Dann nehmen wir uns noch eine halbe Stunde Zeit und ich werde Ihnen erklären, was ich mit meiner unsinnigen Krankenhaus-Geschichte gemeint habe.
Viertes Buch
Universal
Seit dem etwas aus dem Ruder gelaufenen Besuch von Frau König in China waren einige Jahre vergangen.
Thomas hatte gemerkt, dass keiner seiner deutschen Kunden ein wirkliches Interesse hatte, die großen Kapazitäten und günstigen Voraussetzungen einer Produktion in China zu nutzen.
Er hörte bei seinen Kunden-Besuchen immer wieder die Befürchtung, dass die Chinesen irgendwelche Schnitte oder Besonderheiten der jeweiligen Kundenproduktion kopieren und für sich selber ausnutzen könnten.
Diese Angst war vielleicht berechtigt bei technischen oder hochtechnischen Artikeln.
Aber auf keinen Fall bei einer einfachen Produktion von dummen dicken Lammfell-Autositzbezügen.
Sitze
Die Autohersteller in aller Welt hatten mit ihren großen Kenntnissen ihre Sitze bereits so durchdacht und in ihre jeweiligen Modelle eingebaut, dass jeder normale Mensch vernünftig in seinem Auto sitzen konnte.
Egal ob eine kleine zierliche Frau von knapp 1,60 m oder ein großgewachsener Mann von über 1, 90 m – alle mussten mit den Sitzen, die sie in den verschiedensten Wagen vorfanden, zurechtkommen.
Das war der Fall und das Thema war erledigt.
Thomas fing an, sich die wichtigsten Modelle genauer anzusehen und fand heraus, dass die Sitze in allen Autos maximal 2-3 cm unterschiedlich in der Länge und 1-2 cm in der Breite waren.
Das war alles. Und damit war die Entscheidung für Thomas gefallen, dass er es dann eben selber in die Hand nehmen würde, hier etwas zu produzieren.
Und genauso einfach wie dieser Gedanke war auch die Durchführung.
Eigenbau
In der Mitte der Autositze, dort, wo der Fahrer oder Beifahrer mit ihrem Rücken auf dem Sitz saßen, sollte jeder auf angenehm flauschigem und wärmenden Lammfell sitzen.
Die Seiten der Sitzflächen waren für diesen Zweck uninteressant.
Und damit alles sich gut um den jeweiligen Autositz herum schmiegte, kaufte er in China verschiedene Kunstfelle, die aus Acryl oder anderen chemischen Fasern waren.
Sie hatten alle die Eigenschaft, dass sie sehr dehnbar waren.
Das wiederum war ideal für Thomas, denn wenn in der Mitte ein Lammfellstreifen war und an den Seiten ein dehnbares Kunstfell-Material verarbeitet wurde, was sich in Farbe und Optik sehr genau dem Naturfell anpasste, dann sah der ganze Sitz aus wie ein kompletter Lammfellsitzbezug.
Gleichzeitig war durch die dehnbaren Seiten- und Rückteile gesichert, dass sich das ganze Produkt problemlos der Form des Sitzes anpasste – alles war einfach und mühelos zu produzieren.
Nach einigen Jahren hatte es geschafft, dass alle großen deutschen Supermärkte und Discounter diesen Artikel in ihr Programm führten.
Gigantisch
Allein für die beiden größten deutschen Discounter bekam er Aufträge in so gigantischen Mengen, dass er monatelang dafür produzierte.
Er vergrößerte seine Produktionsstätten in China von 4 auf 6 Fabriken und alles lief so reibungslos, wie er es in all seinen früheren Tätigkeiten nie geschafft oder erreicht hatte.
Verloren
Seine früheren deutschen Kunden hatte er verloren. Aber das empfand er nicht als sein Problem, sondern als das derjenigen, die keinen Mut hatten, mit ihm zusammen in China etwas auf die Beine zu stellen.
Der Front-Airbag
Der Airbag für Fahrer und Beifahrer ist heute Selbstverständlichkeit, egal aus welchem Land der Wagen kommt und um welche Marke es sich handelt.
1971 erhielt Mercedes das Patent für den Airbag.
1980 wurde er als teures Extra in der gehobenen Mercedesklasse angeboten.
1987 kam Volvo mit seiner ersten Airbag-Variante und seit 1990 ist der Einbau eines Airbags in Amerika Pflicht.
Dies alles interessierte Thomas überhaupt nicht.
Es ist davon auszugehen, dass er nicht einmal diese Details wusste.
Technik
Das änderte sich schlagartig, als die ersten Seitenairbags auftauchten.
Jetzt musste Thomas Folgendes lernen:
Ein Airbag, der bei einem Unfall aus dem Lenkrad oder dem Handschuhfach des Beifahrers herausschießt und sich mit Gas auffüllt, hat ein Volumen von durchschnittlich 50 Litern.
Er braucht von dem Moment des Crashs bis zu dem Moment, wo er sich voll entfaltet hat, ungefähr 30 Millisekunden.
Damit entfaltet sich in solch einem Crash-Moment der Airbag etwas schneller, als sich der Körper des Fahrers oder Beifahrers nach vorne in Richtung Frontscheibe und Lenkrad bewegt.
Der Front-Airbag kann also die Crash-Bewegung des Fahrers aufhalten und damit Leben retten.
Der Seiten-Airbag
Es ist unter Unfallexperten bekannt, dass 80% aller Unfälle an den Seiten passieren.
Egal ob man aus Versehen seitlich in ein anderes Auto hineinfährt oder ob man im Rahmen einer Kollision so geschleudert wird, dass es zu einer Seiten-Kollision kommt-
Seitliche Unfälle sind mit ungefähr 80% ein viel größeres Unfallrisiko als frontale Unfälle.
Nach Fertigstellung der normalen Frontairbags hatten die Techniker in aller Welt sofort das Thema Seitenairbag auf der Agenda.
Es hatte aber über 5 Jahre gedauert, bis ein Seiten-Airbag zum Schutz des Fahrers und des Beifahrers serienreif war.
Der Grund war ganz einfach: Die extrem kurze Distanz und die nötige Schnelligkeit.
Die Distanz bei einem Frontunfall vom Körper bis zum Lenkrad ist dreimal lang wie die Distanz, die der Kopf braucht, um beim Seitenaufprall gegen die Scheiben oder die Karosserie zu knallen.
Gleichzeitig darf die Zeitspanne zwischen Seitenaufprall und dem Entfalten eines Seitenairbags nicht mehr wie beim Front-Airbag 30 Milli-Sekunden betragen, sondern muss wegen der wesentlich geringen Entfernung zwischen Kopf und Auto-Seitenteil bereits in 10-11 Milli-Sekunden stattfinden.
Diese technischen Voraussetzungen waren so schwierig zu erfüllen, dass es mehrere Jahre gebraucht hatte, bis für alle diese Voraussetzungen eine technische Lösung gefunden wurde.
Als schließlich auch die letzten Hindernisse gelöst worden waren, konnte der Seitenairbag serienmäßig eingebaut werden – und zwar in den Sitz des Fahrers und des Beifahrers.
All diese Entwicklungen auf dem Gebiet der Sicherheit des Autofahrens gingen an Thomas vorbei, ohne dass er sich zu irgendeinem Zeitpunkt damit beschäftigte.
Neue Tatsachen
Alles änderte sich dann von einem Tag zum anderen.
Die ungefähr 15 Hersteller von Auto-Schonbezügen in Deutschland hatten jetzt das Problem, dass alle ihre Schonbezüge über einen normalen Autositz gestülpt wurden – und damit automatisch auch die Stelle überdeckten, wo bei einem Crash der Seiten-Airbag aus der Seite des Sitzes herausschießen sollte.
Vereinfacht gesagt muss jeder Seiten-Airbag bei einem Crash und der damit verbundenen Explosion erst einmal den Stoff und alle weiteren Materialien des eigentlichen Autositzes durchschlagen, bis er sich dann draußen im Freien voll entfalten kann.
Wenn jetzt aber der explodierende Seitenairbag auf diesem Weg vom Inneren des Autositzes hinaus ins Freie noch durch einen Autoschonbezug – sei er aus Textil oder aus Lammfell – daran behindert oder besser gesagt gebremst wird, dann muss nach dem Gesetz der Logik und der Physik noch weitere Zeit verstreichen, bis der Seitenairbag seine volle Schutzfunktion entfalten kann.
Und bei einem so extrem minimalen Zeitfenster von 10-11 Millisekunden war nach Meinung vieler Experten jeder Autositz-Bezug ein absolut gefährliches und vielleicht sogar tödliches Hindernis, um die Insassen vor schweren Kopfverletzungen zu schützen.
Panik
Unter den deutschen Auto-Schonbezugs-Herstellern brach Panik aus.
Niemand wusste, wie er mit dieser neuen Situation umgehen könnte, geschweige denn wie sie zu meistern wäre.
In den ersten beiden Jahren nach Einführung des Seitenairbags war die Anzahl der Neuwagen, die mit diesem Schutz ausgestattet waren, naturgemäß noch sehr gering. Alle Hersteller druckten daraufhin in ihre Verpackungen den Hinweis ein, dass dieser Bezug für Kraftfahrzeuge mit Seitenairbag nicht geeignet sei.
Aber jedem war klar, dass dies keine echte Lösung sein würde.
Besuche
Auch Thomas wurde ganz schnell mit diesem Thema konfrontiert.
Zuerst durch die wenigen deutschen Autoschonbezugshersteller, die er noch mit Lammfelle belieferte.
Diese speziellen Kunden arbeiteten Lammfell-Bezüge nach Maß.
Genau wie die Maßschneiderei bei Oberbekleidung oder Schuhen war die Maßanfertigung für ein ganz spezielles Automodell ein extrem aufwendiger und teurer Prozess, der nur einen sehr kleinen Kundenkreis ansprach.
Dann meldeten sich einige Einkäufer von Discountern und Warenhäusern, um Thomas zu fragen, wie er jetzt die Situation des Seitenairbags bei seinen Bezügen zu meistern gedenke.
Erst da wurde Thomas hellwach und fing an, sich sehr genau mit der gesamten Materie zu befassen.
Er beschloss, der ganzen Situation auf den Grund zu gehen.
Für Thomas fing das zu lösende Problem dort an, wo der wichtigste Teil eines Airbags produziert wurde – bei den Herstellern, welche die Explosionsmodule lieferten, die bei einem Aufprall sofort explodierten und den Airbag auffüllten.
Er fand heraus, dass diese Teile in Europa praktisch nur in 2 Fabriken hergestellt wurden: eine in Belgien und eine in Schweden.
Er besuchte umgehend diese beiden Firmen.
Schweden
In Schweden wurden ihm bereitwillig die wichtigsten Informationen über dieses Modul gegeben. Selbstverständlich konnte er keine Fabrikbesichtigung vornehmen, sondern er hatte zum Schluss eine Mischung aus Werbe-Material und Hintergrundgesprächen mit 2 Technikern, die sich freuten, dass sich endlich mal jemand auch für ihren Teil dieses Produkts interessierte.
Eine Lösung fand er bei diesem Besuch in Schweden jedoch nicht.
Glück
Dann hatte er mehr Glück.
In Belgien handelte es sich um eine relativ kleine Fabrik.
Der Inhaber sprach nicht nur sehr gut Deutsch, sondern sagte ganz offen, dass dies der erste Besuch eines Interessenten sei – und er bot seine Hilfe zur Lösung des Problems an.
Als Thomas ihm ausführlich seine Problematik im Bezug auf eine Seitenairbag-Explosion schilderte, sah ihn der Belgier ruhig an.
Dann lächelte er etwas und Thomas wusste, dass er hier die nötige Hilfe bekommen würde.
Der Belgier sagte nur ein Wort und Thomas war erleichtert.
Lächerlich
„Lächerlich“ – das war der Kommentar und das einzige Wort, mit dem der Chef dieser Firma den Befürchtungen von Thomas entgegnete.
Dann machte Arthur – so hieß der freundliche Belgier – eine kleine Kunstpause und nahm zwei Blatt Papier in die eine Hand.
Die andere Hand formte er zu einem kleinen Revolver, indem er den Zeigefinger lang ausstreckte, die anderen 3 Finger in die Handfläche reinkrümmte und den Daumen leicht nach oben bog.
Dann setzte er diesen Fingerrevolver mit dem ausgestreckten Zeigefinger kurz vor die beiden Blätter Papier.
„Sieh mal“, sagte er und fing Thomas einfach an zu duzen – „was ich hier habe.
Einen normalen Revolver, wie ihn heute die Polizei in den meisten europäischen Ländern verwendet – und 2 Blatt Papier. Ich könnte statt Papier auch Pappe nehmen oder Stoff oder irgendein anderes leichtes Material.
Das wäre völlig egal.
Denn“ – und hier hob er seine Stimme ein wenig und sah Thomas an – „die Revolverkugel durchschlägt beide Stück Papier oder was immer für Materialien du hast, in der gleichen Zeit.
Egal ob es sich um ein Blatt oder zwei Blätter handelt.
Die Energie des Schusses respektive der Kugel ist so groß, dass die Anzahl kleiner Hindernisse, welche die Kugel auf ihrem Weg zum Ziel durchschlägt, völlig unbedeutend ist.
Klartext
„Also lass mich einmal Klartext reden“, fuhr er fort.
„Ob dein Autositz-Bezug aus Baumwolle, Leder, Gardinenvorhängen oder Lammfell besteht – alles wird von meinem kleinen Geschoss, das ich hier fabriziere, durchschossen. Und zwar ohne Zeitverzögerung oder sonstige Hindernisse.
Thomas dankte seinem neuen Freund ganz herzlich, schickte ihm nach seiner Rückkehr eine kleine Kiste erlesenen Rotwein und fing an, sich einen Plan zu überlegen.
Dessert
Herr Bartram hatte bis jetzt intensiv zugehört.
Insgeheim war ihm inzwischen klar geworden, dass, wenn Thomas in diesem Tempo weiter erzählen würde, sowohl der Nachtisch als auch danach der Kaffee danach nicht ausreichen würden, um das Ende der Geschichte von Thomas zu hören zu bekommen.
Er bat deswegen seinen jüngeren Freund höflich, möglichst auf weitere technische Details zu verzichten und ihn mit dem eigentlichen Fortgang der Geschichte zu beglücken.
Thomas nahm diese kleine und sehr höfliche Zurechtweisung zur Kenntnis und versprach jetzt schneller und konzentrierter zu erzählen.
Er bat auch gleichzeitig um Entschuldigung und Verständnis, wenn er an einer einzigen kleinen Stelle doch noch etwas Technisches einfließen lassen wird.
Diese Stelle sei aber kurz und dann auch garantiert das Letzte, was mit Technik zusammenhängt.
Thomas schloss dann mit der Bemerkung, dass er hier die Technik der Mechanik meinte.
Die Technik der gepflegten Manipulation, die einen wesentlich größeren Teil seiner Geschichte ausmachen sollte, sei von diesem Versprechen ausgenommen.
Fünftes Buch
Bange machen
Der Plan von Thomas war fertig.
Er hatte mehrere Wochen darüber nachgedacht.
Er hatte in China mit einigen größeren Textilfabriken gesprochen, zu denen er über seine chinesischen Geschäftspartner Zutritt bekam.
Er hatte lange mit seinem chinesischen Freund und Partner Herrn Hang gesprochen und vieles durchdiskutiert.
Er hatte sich in die verschiedenen deutschen Grundeigenschaften reingedacht.
Schließlich musste er das ganze noch in eine für jeden nachvollziehbare und vernünftige Form bringen.
Und zwar für beide Gruppen, die für ihn so wichtig waren:
Für die Einkäufer in den Konzernen und für den Endverbraucher seiner Produkte.
Zum Schluss musste das ganze so durchgeführt werden, dass niemand außer ihm selbst die verschiedenen Puzzle-Teile dieser komplexen Operation erkennen konnte – selbst seine chinesischen Freunde wollte er in diesem Fall nur über den Teil informieren, der ihre Arbeit in China betraf – außer Herrn Hang.
Die ganze Konstruktion seines Plans beruhte auf der Tatsache, dass der deutsche Michel von Natur aus zwei Eigenschaften hat:
– Ein guter Deutscher glaubt an das, was die Obrigkeit sagt.
– Und er möchte gegen alle Risiken dieser Welt versichert sein.
Wenn das nicht möglich ist, bekommt er Angst.
Der Begriff der „deutschen Angst“ war inzwischen in viele anderen Sprachen als unübersetzbares Synonym eingeflossen.
Thomas brauchte also nur noch 2 Dinge:
Seine Partner bange machen – und ihnen dann mit seinem Plan die Angst wiedernehmen.
Probleme
Thomas brauchte für die Herstellung von Lammfell-Autositzbezügen einen Farbstoff, den es zu jener Zeit in China noch nicht gab.
Wenn man mit chinesischem Farbstoff die Lammfelle schwarz oder anthrazitgrau färbte, waren nach der Färbung immer noch große Reste von Farbpigmenten in der Wolle- und wer sich auf so ein Lammfell setzte, hatte nach wenigen Stunden eine Kleidung im hinteren Bereich, die genauso dunkel war wie das Lammfell, auf dem er vertrauensvoll gesessen hatte.
Das führte zu erheblichen Reklamationen und Problemen.
Er fand heraus, dass nur eine große deutsche Chemiefabrik einen Farbstoff herstellte, der so gut war, dass er nirgends abfärbte.
Diesen Farbstoff zu importieren war für die Fabriken, mit denen er zusammen produzierte, extrem schwierig.
Zum einen hatten sie kein Geld, zum anderen hatten sie keine Ahnung, wie man so etwas nach China importieren könnte, und zum Dritten konnte niemand dort irgendeine Fremdsprache, um sich überhaupt verständlich zu machen.
Thomas erkannte das Problem.
Er gründete zusammen mit einigen chinesischen Freunden eine kleine eigene Firma, seinerzeit eines der ersten Joint Ventures, die es in China gab.
Diese Firma importierte dann problemlos und sogar zollfrei den so dringend benötigten Farbstoff.
Herr Hang
Gleichzeitig meldete sich ein junger Chinese bei Thomas – sein Name war Hang.
Er hatte einige Jahre in Deutschland bei dieser Chemiefabrik gearbeitet, sprach deshalb neben Englisch auch sehr gut Deutsch und hatte beste Verbindungen innerhalb der chinesischen Gesellschaft. Bürokratie.
Er wurde zum Vizepräsidenten der Firma ernannt und leitete die kleine deutsch-chinesische Firma erfolgreich und gewissenhaft.
Glaube
Bei einem Besuch einer Fabrik, die ganz weit und ganz versteckt irgendwo in der Inneren Mongolei lag, begleitete Herr Hang seinen Geschäftspartner Thomas.
Irgendwann am Abend des ersten fröhlichen Festbanketts kamen sie alle ins verträumte Philosophieren.
Da Herr Hang fließend Deutsch sprach, ergab sich nach einiger Zeit eine kleine Runde, die anfing typisch chinesische Eigenschaften mit typisch deutschen zu vergleichen und zu kommentieren.
Und am Ende wurde festgestellt, dass der gute Deutsche – komme was wolle – an drei Sachen glaubt :
die Tageschau,
die Rente ist sicher
den TÜV.
Das Image
Obwohl der TÜV zu dieser Zeit schon eine private Organisation war, genoss er die uneingeschränkte Ehrfurcht des deutschen Normalverbrauchers.
Es wurde beim Kauf irgendeines Artikels nicht darauf geachtet, ob er hübsch oder hässlich, billig oder teuer war – das Hauptkriterium war, ob er ein TÜV-Zertifikat irgendwo aufgedruckt hatte oder nicht.
Von Krankenhäusern, deren Kreißsaal TÜV geprüft sein musste bis hin zum Beerdigungsunternehmer, der TÜV-zertifiziert die Sicherheit gab, dass der Verstorbene auch irgendwie richtig unter der Erde liegen würde – keine deutsche Institution hatte ein auch nur annähernd ähnliches Image.
Der Test
Thomas besorgte sich einen Original-Autositz eines Mittelklassewagens und ging damit zusammen mit einem seiner Autositzbezüge zum TÜV.
Er bat ihn damit, einen Seitenairbag-Test zu machen.
Er füllte einen Antrag aus, mit dem der TÜV feststellen sollte, ob der Seitenairbag im Autositz in der korrekten und benötigten Zeit sein vorgeschriebenes Volumen entfalten konnte – und zwar sowohl durch den Originalsitz als auch durch den Lammfellsitz-Bezug, der zu diesem Test über den Originalsitz gestülpt wurde.
Der Test war erfolgreich.
Er bestätigte Thomas genau das, was sein belgischer Freund Arthur ihm vor einiger Zeit klar und deutlich erklärt hatte.
Damit war für Thomas das Thema Seitenairbag abgeschlossen.
Er beantragte hier ein entsprechendes Testzertifikat, denn das ganze hatte fast 2.000 DM gekostet.
Er war wohl schon zu lange und zu oft in China gewesen und deshalb nicht mehr in dem nötigen Maße mit den grandiosen Tücken der deutschen Bürokratie vertraut.
Der TÜV
Die freundliche Sachbearbeiterin im TÜV erklärte ihm den Sachverhalt.
Und weil die nette ältere Dame ihr halbes Leben mit den Feinheiten des deutschen TÜV zu tun hatte, war ihre Auskunft noch überzeugender als die Weihnachtsansprache des Papstes.
„Sie haben“ – dozierte sie freundlich – „durch uns einen erfolgreichen Test machen lassen, aus dem hervorgeht, dass der Seitenairbag sich korrekt entfaltet- auch wenn vorher ein von ihnen produzierter Lammfell-Sitzbezug über diesen Autositz gestülpt wurde.
Dazu erst mal herzlichen Glückwunsch.
Aber sie müssen verstehen, dass dieses Zertifikat jetzt nur für einen Autositz gilt, der aus der gleichen Serie beim gleichen Hersteller und im gleichen Herstellungsjahr eingesetzt wurde.
Wir haben zurzeit in Deutschland ungefähr Autos von weltweit 60 verschiedenen Kfz-Herstellern.
Vom VW-Golf bis zum Rolls-Royce-Phantom – und alle haben unterschiedliche Sitze.
Jeder Hersteller hat im Schnitt nach unseren Unterlagen 15 verschiedene Modelle im Angebot.
Das sind also bereits 60 Herstellen mit jeweils 15 Varianten – und damit bereits 900 verschiedene Sitze.
Und da jeder Hersteller spätestens nach 2 Jahren seine Modelle verändert oder verbessert, kann man bei jedem Modell von 5 verschiedenen Produktionsphasen ausgehen.
Also sind wir jetzt schon bei ungefähr 4.500 unterschiedlichen Autositzen.
Wir als TÜV garantieren mit unserem Zertifikat, dass unsere technische Prüfung ein für den Verbraucher positives Ergebnis erbracht hat.
Und darauf basiert das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird.
Sie sollten sich also bemühen, möglichst viele von diesen 4.500 verschiedenen Autositzen zu bekommen.
Jedes dieser Modelle wird dann bei uns sorgfältig nach den gleichen Kriterien geprüft, wie wir es heute mit ihrem Sitz gemacht haben.
Die geschätzten Kosten von 4.500 mal 2.000 – also ca. 9 Millionen DM für dieses Projekt dürften im Anbetracht ihrer Produktion und sicherlich auch ihrer Gewinnmarge ein vernachlässigbarer Teil der Gesamtkalkulation sein.
Dann drehte sie sich freundlich lächelnd um, ging zur Fensterbank, ergriff die leicht verrostete kleine Metallgießkanne und fing an, die beiden bereits etwas verwelkten Zimmerpalmen hinter ihrem Schreibtisch zu begießen.
Vico Torriani
Der beliebte Fernsehshowmaster moderierte zusammen mit seinem Kollegen Lou van Burg eine der populärsten Fernsehsendungen der damaligen Zeit.
Sie hieß „der goldene Schuss“ und hatte in den Sechziger- und Siebzigerjahren großen Erfolg.
Thomas hatte in seiner Jugend häufig diese Sendungen gesehen.
Nach der deprimierenden Auskunft der freundlichen Dame beim TÜV dachte Thomas an diese Sendung. Er überlegte nächtelang, wie er mit einem goldenen Schuss aus dem Autositz sein Problem lösen könnte.
In der Fernsehsendung wurde mit einem einzigen Schuss jedes Problem gelöst und der Gewinner erhielt einen respektablen Preis.
Leider gab es diese Sendung schon lange nicht mehr.
Die Show
Thomas berichtete seinem Partner Herrn Hang von seinen Erlebnissen beim deutschen TÜV. Thomas hatte zwar eine recht hoch entwickelte Fantasie, die ihm auch bei skurrilen Gedankenspielen gelegentlich half.
Aber hier hatte man es mit einem ganz profanen technischen Problem zu tun.
Trotzdem erzählte er seinem Freund Hang einmal etwas über diese alte Fernsehshow, deren Titel er im Kopf hin und her drehte.
Was er brauchte war wirklich ein goldener Schuss, der alle Autositze, alle Autositzbezüge und damit auch alle Probleme mit einem einzigen Schuss lösen würde.
Logik
Thomas fuhr noch einmal nach Belgien zu seinem Freund Arthur.
Er brauchte konkrete Lösungsmöglichkeiten oder zumindest gedankliche Hilfen, um selber eine Lösung zu finden.
Arthur bedankte sich zuerst für das Geschenk, was Thomas ihm nach seinem letzten Besuch geschickt hatte – die kleine Kiste mit 6 Flaschen sehr guten Rotwein.
Er öffnete sorgfältig die vorletzte Flasche und meinte, sie würden schon irgendetwas gemeinsam finden.
Und dann war es so weit.
Arthur sprach mehr oder weniger zu sich selber:
„Meine Geschosse kommen durch alle Autositze hindurch. Das ist unbestritten und wird auch von jedem Hersteller bestätigt, der meine Produkte verwendet.
Wenn von meiner Seite also alle Voraussetzungen gegeben sind, dann brauchst du doch nur noch von deiner Seite auch eine Art Universalmethode oder Anwendung.
Diese muss so aussehen, dass man den logischen Schluss ziehen kann, dass dein Produkt ebenfalls immer gleich ist.
Und damit wären dann alle Voraussetzungen erfüllt.
Jetzt musste Thomas zugeben, dass die Lammfelle, die für diese Bezüge benutzt werden, mal aus Australien, mal aus Südafrika oder mal aus Südamerika stammen und die Tiere in diesen drei Kontinenten recht unterschiedliche Lederqualitäten haben.
Das bedeutet, dass ein Lammfell-Bezug mal aus etwas dickeren und mal aus etwas dünneren Leder bestehen kann.
Und deswegen – sprach Thomas jetzt auch mehr oder weniger zu sich selber – müsste ich es irgendwie schaffen, dass der Bereich, wo die Kugel oder das Geschoss von Arthur durchkommt, dieser Bereich immer gleich ist.
Arthur verstand nach einigen weiteren Erklärungen von Thomas die Problematik.
Und so hatten sie durch gemeinsames logisches Überlegen den Punkt gefunden, der Thomas Probleme lösen könnte.
Mohammed
Der islamische Prophet soll den berühmten Satz gesagt haben: „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen“.
Thomas war nicht gläubig, aber er hatte sich gelegentlich schon etwas intensiver mit vergleichender Religionswissenschaft beschäftigt.
Und da er wusste, dass die meisten Redewendungen auf menschlichen Erkenntnissen beruhten, fing er nach seiner Rückkehr nach Peking an, mit seinem Freund Hang über das Problem zu diskutieren.
„Wir haben es hier also vereinfacht gesagt mit dem Problem zu tun, dass der Airbag nicht zum Lammfell kommt und dass deswegen das Lammfell zum Airbag kommen sollte.“
Dieser Vergleich war selbst für Thomas nicht so einfach zu verstehen, aber Hang kannte seinen Freund inzwischen zur Genüge.
„Keine Fabrik in China“, fuhr Thomas fort, „ist in der Lage, die Leder der Lammfelle immer gleichmäßig dünn zu gerben.“
Was wir brauchen, erwiderte Hang, ist also eine Umkehr des Problems.
Die Brücke
Herr Hang war ein ausgesprochen sachlicher Mensch.
Aber wie die meisten Chinesen liebte er es, Probleme durch Vergleiche zu erklären und eventuell auch zu lösen.
„Nehmen wir an“ – sagte er eines Abends zu Thomas – „wir leben in einer Zeit ungefähr 100 Jahre zurück. In einer kleinen Stadt, durch die in der Mitte ein Fluss fließt, der uns allen das Wasser zum Trinken und Arbeiten spendet.
Im Winter ist der Fluss manchmal verreist.
Im Frühling ist er wild und bringt den ganzen geschmolzenen Schnee aus dem Gebirge, wo er entspringt, zu uns in unsere kleine Stadt.
Dann kann man auch mit guten Booten dieses wild gewordene Wasser kaum noch überqueren.
Im Sommer ist der Fluss dann ruhig und im Herbst gibt es gelegentlich Stürme, die das Wasser aufpeitschen, bis das Wasser des kleinen Flusses im Winter wieder einfriert.
Wir haben also nur eine Möglichkeit, mit diesem Fluss fertig zu werden, um unsere Familie auf der anderen Seite Ufers regelmäßig besuchen zu können.
Wir bauen eine große Brücke.
Sie ermöglicht uns das ganze Jahr über, den Fluss zu überqueren, egal wie er sich gerade gibt.
Thomas verstand zwar den Sinn dieser Worte, aber nicht das, was sein Freund Hang damit sagen wollte.
YUKI
Weltweit gibt es 2 große Nähmaschinen-Hersteller.
Eine in Deutschland und eine in Japan.
Herr Hang hatte nach seinen Gesprächen mit Thomas einige Textil-Fabriken in der Umgebung besucht.
Er hatte herausgefunden, dass die japanische Nähmaschine in einer sehr professionellen und entsprechend teuren Variante einige Eigenschaften hatte, die weltweit geschätzt wurden.
Diese Industrienähmaschine konnte sich selber kontrollieren.
Herr Hang war als Techniker und Industriekaufmann durchaus in der Lage, die damit verbundenen Eigenschaften zu erkennen und zu begreifen.
Aber er war sich ebenfalls ziemlich sicher, dass er dies alles seinem Freund Thomas nicht in der entsprechenden Form mitteilen konnte – dazu fehlte Thomas schlicht das technische Grundverständnis.
Die Voraussetzung zur Lösung des Problems war für Herrn Hang jetzt ersichtlich.
Einfach
Er erklärte es Thomas auf ganz einfache Art und Weise.
„Wenn ihr in Deutschland im Büro am Tag 10 Briefe schreibt, so müssen die Briefumschläge mit verschiedenen Briefmarken beklebt sein, je nachdem, wie schwer der Brief ist und wohin er gehen soll.
Ihr kauft bei der Post einen Bogen mit Briefmarken. Man kann jede Briefmarke einzeln aus dem Bogen heraustrennen, weil sie an allen Seiten kleine Perforationslöcher haben.
Jeder in eurem Büro kann so viele Briefmarken daraus entnehmen wie nötig und die restlichen Briefmarken bleiben durch ihre Perforation miteinander verbunden, so lange, bis sie selber gebraucht werden.
Das ist der Grundgedanken für die Lösung unseres Problems.
Wir wissen, dass bei jedem Autositz der Airbag alles durchschlägt, wenn er ausgelöst wird.
Wir müssen also jetzt nur dafür sorgen, dass der Airbag ein vorher präpariertes und – wenn du es so nennen willst – perforiertes Teil aus irgendwelchen Materialien durchschlägt.
Das kann Stoff sein, das kann Lammfell sein, das kann Leder sein – egal was.
Oder noch einfacher gesagt: Wir schneiden aus jedem Sitzbezug an der Stelle, wo der Airbag rauskommt, ein großes rundes Stück Material raus.
Jetzt können wir aus ästhetischen Gründen unseren Sitzbezug an dieser Stelle nicht offenlassen, wie würde es dann aussehen.
Also nähen wir ihn wieder ein.
Briefmarken
„Aber jetzt“, fuhr Herr Hang fort, „nähen wir so, wie die Briefmarken perforiert sind.
Und das machen wir mit unserer YUKI-Nähmaschine.
Diese Nähmaschine arbeitet im Prinzip genau wie jede andere normale Nähmaschine, die man im Haushalt hat. Aber wie gesagt, sie kontrolliert sich selber.
Ohne hier jetzt in technische Einzelheiten gehen zu wollen, kann ich dir nur so viel verraten: Beim professionellen Nähen kommt es darauf an, wie lang die Stichlänge ist, wie groß der Stichabstand ist, wie stark der Faden ist und noch einige andere Komponenten.
Kontrolle
„Und mit so einer Yuki passiert dann Folgendes:
Ich nähe das vorher herausgeschnittene runde Stück Material wieder an der gleichen Stelle ein. Die technischen Details für diesen kleinen Näh-Prozess gebe ich vor.
Gleichzeitig kontrolliert ein eingebauter Computer in der YUKI-Nähmaschine, ob diese technischen Einzelheiten auch alle eingehalten wurden.
Du kannst also – um es mit einem ganz primitiven Beispiel zu sagen – eine Stichlänge, die du auf Stufe 6 einstellst, nicht automatisch beim Nähen auf Stufe 7 oder 4 verändern, die Nähmaschine wird das nicht machen.
Gleichzeitig erhältst du, wenn der Näh-Prozess abgeschlossen ist, eine Computerbestätigung, dass diese Naht – angefangen von Punkt A durchgehend bis zum Endpunkt B – mit der vorgegebenen Stichlänge von 5 und den anderen Parametern erfolgreich durchgeführt wurde.
Schließlich kann man einstellen, dass diese Naht, die soeben erfolgreich genäht wurde, vom Computer eine einmalige Code-Nummer bekommt.
Und zum Schluss ist es möglich, dass der angeschlossene Computer ein Etikett ausdruckt mit der gleichen Code-Nummer, die soeben erfolgreich durchgeführt wurde.
Resümee
Also, vereinfacht gesagt:
– die Yuki näht etwas nach deiner Vorgabe.
– die Yuki kontrolliert, dass alles korrekt durchgeführt wurde.
– die Yuki protokolliert alles im eigenen Computer.
– die Yuli druckt ein Etikett zum Einnähen aus und speichert alles ab.
Über einen angeschlossenen Drucker wird zum Schluss für jeden auf diese Weise genähten Sitzbezug eine kleine Postkarte gedruckt.
Darauf steht neben einem kleinen Text für den Endkunden auch die Code-Nummer.
Wenn jetzt irgendwo auf der Welt dieses Produkt eingesetzt wird, weiß derjenige, der es benutzt, dass alle Arbeit korrekt durchgeführt und alle erforderlichen Parameter eingehalten wurden.
Kopfschmerzen
Thomas rauchte schon nach der Hälfte der Erklärungen von Herrn Hang den Kopf.
Ok, sagte Thomas, also was ich verstanden hab bis jetzt kurz Folgendes:
Wir schneiden ein Stück an der Seite raus und nähen das gleiche Stück mit einer Yuki wieder ein. Ich verstehe zwar noch nicht ganz, was das jetzt zur Lösung des Problems beitragen soll, aber zumindest glaube ich, dass ich diesen ersten Schritt jetzt verstanden habe.
Herr Schulze
Die nächste Besprechung wurde vertagt auf kommenden Sonnabend, weil Freitag der leitende Techniker Hans-Peter Schulze in China eintreffen würde.
Hans-Peter war seit vielen Jahren der Chef der Computer-Abteilung in der hamburger Firma von Thomas.
Ihm unterstand alles, was in der Firma mit EDV, Logistik und den Schreibcomputern der Angestellten zu tun hatte. Er sollte sich jetzt in das neue Projekt „Produktion mit Näh-Computern zur Lösung der Seitenairbagproblematik“ einarbeiten.
Er war vorgesehen als Bindeglied zwischen der neuen chinesischen Technik und dem deutschen TÜV.
Die Besprechung am kommenden Sonnabend dauerte nur knapp 1 Stunde.
Thomas war selber erstaunt, wie elegant man jetzt alle Probleme lösen konnte.
Der Test
Einige Wochen später waren Thomas und Hans-Peter wieder beim TÜV in der Nähe von Köln. Sie hatten wie zuvor einen Original-Autositz einer bekannten Automarke mitgebracht.
Sie hatten den Antrag zu dem Testversuch genauso ausgefüllt wie beim letzten Mal – aber einen kleinen entscheidenden Satz hinzugefügt.
Dieser Satz lautete:
„Gegenstand des Tests soll sein, festzustellen, dass die vom Antragsteller in den Schonbezug eingearbeitete runde Sollbruch-Stelle so funktioniert, dass der Seitenairbag problemlos innerhalb der vorgegebenen Zeit von 14 Millisekunden durch diese Sollbruch-Stelle hindurchschießt, um sich korrekt zu einem Luftsack von 32 Litern zu entfalten.
Hans-Peter Schulze hatte vorher mit den beiden Technikern, die bei diesem Versuch die Versuchsanordnung vorbereiteten, ausführlich über das neue Kriterium dieses Versuchs gesprochen.
Man hatte dargelegt, dass es jetzt völlig egal sei, aus welchem Material der Schonbezug sein würde – Baumwolle, Lammfell oder Leder.
Es kommt nur darauf an, dass die Nähte und die ganzen damit verbundenen nähtechnischen Kontrollen so funktionieren, dass der Airbag korrekt austreten kann.
Wenn der Test dieses bestätigen sollte, würde man in Zukunft die Beweislast umkehren können. Dann muss Thomas als Hersteller dieses speziellen neuen Systems beweisen, dass jedes Stück, an dem nach diesem System gearbeitet wird, nach den gleichen Kriterien technisch sauber produziert wurde.
Also genau so wie in dem Test, der jetzt durchgeführt wird.
Die Techniker beim TÜV waren beeindruckt von dieser neuen Idee und der Test verlief erfolgreich.
Neu
Thomas hatte etwas völlig Neues präsentiert – was ihm die Möglichkeit gab, die nächsten Jahre ein Produkt auf den Markt zu bringen, welches es in dieser Form weltweit noch nicht gab.
Sechstes Buch
Der Abteilungsleiter
Er war erregt und verärgert.
„Das haben wir noch nie gemacht „, sagte der Abteilungsleiter im Einkaufsbereich Automobilzubehör des größten deutschen Discounters.
Er war sichtlich empört über die Vorschläge und Forderungen, die sein Gegenüber gerade geäußert hatte.
„Sie fordern also wirklich von uns, dass Sie als kleine Firma eine Beilage zu ihrem Produkt hinzufügen dürfen, die unsere Kunden dann ausfüllen sollen, um es als Rückantwort an Sie zurückzuschicken?“
Herr Diekmann – so hieß der große, sportlich durchtrainierte und sehr intelligente Leiter dieses Einkaufsbereichs bei AMI, dem größten deutschen Discounter – sah Thomas durchdringend und leicht kopfschüttelnd an.
Sie saßen sich an diesem Vormittag wieder einmal in der Zentrale in Westdeutschland gegenüber und Thomas hatte gerade sein neuestes Projekt vorgestellt.
Die beiden kannten sich jetzt seit über 10 Jahren.
Davon waren die ersten 5 Jahre auf ein einziges, sich jährlich wiederholendes Gespräch beschränkt, in dem Thomas jedes Jahr das gleiche erzählte.
Und Herr Diekmann jedes Jahr das Gleiche antwortete.
Das Ritual
Es wurde im Laufe dieser ersten 5 Jahre eine Art Ritual.
Thomas hatte nach Ablauf der ersten Jahre schon jede Hoffnung aufgegeben, Herrn Diekmann doch noch von den Vorzügen eines seiner Meinung nach guten und typisch deutschen Artikels zu überzeugen.
Er zeigte Herrn Diekmann jedes Jahr den gleichen Lammfell-Autositz-Bezug in der Universalversion.
Einfach gearbeitet, nur in 2 Farben lieferbar.
Mit guter und gleichmäßig dichter Wolle.
Leicht zu montieren, indem man es einfach über den Fahrer- oder Beifahrersitz rüberstülpt.
Das war der Artikel, von dem Thomas hoffte, dass er in diesem Leben Herrn Diekmann doch noch einmal überzeugen könnte.
Der Entschluss
Nach 5 Jahren und absolut gleichem jährlichen Ritual empfing ihn Herr Diekmann beim sechsten Besuch etwas anders.
„Mein lieber Freund“, begann Herr Diekmann diesmal die Unterhaltung, „wir sind beides erwachsene und intelligente Menschen. Ich denke weder Sie noch ich haben Lust und Zeit, unser jährliches Spielchen bis zu meiner Pensionierung fortzuführen.
Ich habe mir deswegen gestern bei unserer internen Konferenz die Meinung einiger meiner Mitarbeiter zu ihrem Artikel angehört.
Die Vorstellung, dass wir irgendwann demnächst so einen Spezial-Artikel für deutsche Taxis und Seniorenwagen im Angebot haben könnten, hat allgemeine Heiterkeit ausgelöst.
Da wir aber von Heiterkeit alleine nicht leben können und insbesondere mit reiner Heiterkeit kein Umsatz generiert werden kann, haben wir beschlossen, einen Test zu machen.
Thomas erstarrte innerlich.
Aber er hatte durch langjährige Verhandlungen in Südamerika und China gelernt, seine Gesichtszüge immer unter Kontrolle zu haben.
Herr Diekmann fuhr dann fort und Thomas lauschte gebannt. „Normalerweise machen wir bei einem komplett neuen Artikel immer erst zwei Dinge: Zuerst wird bei einem neuen Artikel in einem Testgebiet geprüft, wie er beim Verbraucher ankommt.
Jeder Einkäufer eines neuen Artikels ist bei uns angewiesen, vorher ausreichende und sorgfältige Marktstudien durchzuführen, insbesondere im Bezug auf Vergleiche mit Konkurrenzangeboten.
Ihr komisches Taxi-Produkt – er benutzte wohl absichtlich diese leicht abschätzende Formulierung, um sein persönliches Missfallen zu diesem Artikel zum Ausdruck zu bringen – wollte aber keiner meiner Mitarbeiter hier in seinen Entscheidungsbereich mit einfügen.
Deswegen habe ich beschlossen, dass wir im nächsten Oktober einen bundesweiten Test machen werden.
Ich habe hier den Kaufschein, mit dem wir alle unsere Einkäufe bei allen Lieferanten bestätigen. Ich habe mir erlaubt, ihren Angebotspreis nur ein klein bisschen zu korrigieren.
Ich habe – offen gesprochen – überhaupt keine Ahnung, ob ihr Preis marktgerecht ist oder nicht, aber ich gehe einfach mal davon aus.
Als Testmenge habe ich mich entschieden, 60.000 Einheiten in diesen Kaufschein einzutragen.
Liefertermin ist der 12. Oktober, also in 8 Monaten. Am 12. Oktober muss die gesamte Menge innerhalb von 48 Stunden an unsere 14 Zentrallager angeliefert werden. Die weitere Verteilung von dort an unsere aktuell 2.400 Filialen übernehmen danach wir.
Wir beide – fuhr Herr Dieckmann fort – beherrschen mit Sicherheit die Grundrechenarten im Kopf. Dieser Test bedeutet also, dass jede Filiale eine Testmenge von 25 Stück bekommt.
Bitte sorgen Sie dafür, dass es sich dabei um eine einzige Verpackungseinheit handelt mit genau 25 Stück, sortiert in 15 Mal Anthrazit und 10 Mal Beige.
Alles Weitere wird Ihnen mein Sekretariat in den nächsten Tagen zusenden.
Ich selber bin ehrlich gesagt auch gespannt, was der mobile Rentner mit angeschlossenem Gebrauchtwagen zu meiner Entscheidung sagen wird.
Blumen
Als Thomas kurz vor Mitternacht an diesem denkwürdigen Tag wieder in Hamburg eintraf, stellte er den großen Blumenstrauß, den er noch im letzten Moment vor Schließung der Bahnhofsblumenhandlung ergattern konnte, in seine Vase.
Er hatte überlegt und vergessen, wo in ihrer Wohnung die Blumenvasen von seiner Frau aufbewahrt wurden.
Um dieses Problem zu lösen, stellte er den schönen Strauß in die große und absolut geschmacklose Vase, die er dafür ebenfalls im Blumenladen mit gekauft hatte.
Unterkiefer
Als Thomas am nächsten Vormittag seinen leitenden Mitarbeitern von dem Testkauf von AMI berichtete, fiel allen gleichzeitig der Unterkiefer runter.
Der größte einzelne Auftrag, den sie bisher von irgendeinem Kunden erhielten, war die Menge von 6.000 Stück, verteilt auf Teillieferungen von 500 pro Monat.
Und jetzt die zehnfache Menge als Test.
Frage
Als er in der nächsten Woche den Banktermin hatte und seinem langjährigen Bankberater Herrn Bartram über diesen Auftrag berichtete, erhielt er nach Ende all seiner Ausführungen von seinem Gegenüber nur eine einzige Frage.
„Schaffen Sie das?“
Thomas konnte nur mit Ja oder Nein antworten.
Er hatte diese Frage erwartet und sich mit vielen Einzelheiten, Plänen, Grafiken und Statistiken darauf vorbereitet.
Herrn Bartram interessierte das alles nicht im Geringsten.
Herr Bartram hatte Thomas vor einigen Jahren schon einmal sein persönliches Prinzip erläutert, wie er für seine Bank bei größeren Kundenwünschen argumentierte und entschied.
Er meinte nur: Es gibt im Leben manchmal ganz einfache Entscheidungen.
Ein bisschen schwanger gibt es nicht.
Entweder ja oder nein.
Und deswegen höre er sich die Vorstellung seiner Kunden an und zum Schluss stellt er seine einzige Frage.
Schaffen Sie es- ja oder nein?
Und nachdem Herr Bartram jetzt Thomas diese einzige Frage gestellt hatte, musste Thomas sich entscheiden.
Seine Antwort war genauso kurz, wie es Herr Bartram liebte.
„Ja“.
Australien
In Australien kaufte Thomas innerhalb von 2 Wochen die für diesen Auftrag nötigen Mengen von rohen Lammfellen, inklusive einer von Thomas eingeplanten Reserve.
Er besuchte dafür die verschiedenen Auktionen in Victoria, New South Wales und Westaustralien.
Auf diese Art und Weise hat er zum einen schnellstmöglich die benötigten Rohware für China und zum anderen konnte er einen Anstieg des Rohfellpreises vermeiden, denn untereinander waren die Schlachthöfe und Auktionshäuser in Australien zu jener Zeit noch nicht so gut vernetzt wie heute.
Kopfschmerzen
Es gab einen einzigen Punkt, der Thomas wirklich Kopfschmerzen bereitete.
Das war die Frage, wie pünktlich seine 4 Fabriken in Nord- und Zentral-China die alleine für diesen Testauftrag nötigen Mengen produzieren könnten.
Vom Zeitplan her hatte er nur ungefähr 2 Monate, um in China alles zu produzieren.
Den Rest der insgesamt acht Monate Vorlaufzeit benötigte Thomas mit dem Transport der Rohware von Australien nach China, dem Weitertransport quer durch China zu den Fabriken, dem Rücktransport der Fertigware zu den chinesischen Hafenstädten, der Laufzeit der Schiffe von China nach Europa und der Zwischenlagerung in Hamburg bis zum Auslieferungstermin. Jeder Teil dieser Kette brauchte seine Zeit und somit verblieben nur 8, maximal 9 Wochen reine Produktionszeit in China.
Thomas war sich völlig im Klaren darüber, dass er diesen Testauftrag absolut 100% genau und korrekt erfüllen musste.
Gewicht
Wenn auch nur ein einziger Container aus irgendeinem Grund auf dem Schiff feucht wurde und die Ladung nicht mehr verkaufsfähig war, hatte er schon ein Problem.
Thomas wusste, dass die Container mit seiner Ware im Vergleich zu den allermeisten anderen Containern sehr leicht waren.
Und jede Reederei versuchte, die schweren und ganz schweren Container tief unten im Rumpf des Schiffes zu stapeln.
Das sorgte für eine gute Stabilität während der Stürme oder Taifune auf der Seereise von Asien nach Nordeuropa.
Und entsprechend bekamen die leichten und sehr leichten Container ihren Stauplatz oberhalb der Deck-Linie – je leichter, desto weiter nach oben.
Und Container, die so weit oben gestaut wurden, waren für Regen und Spritzwasser während eines Sturmes eine ideale Angriffsfläche.
Thomas hatte im Schnitt unter 20-25 Containern aus China immer einen, der innen feucht geworden war und dessen Inhalt vernichtet werden musste.
Er war zwar dagegen versichert, aber das würde Herrn Diekmann bei AMI überhaupt nicht interessieren.
Reserve
Er hatte diesen Punkt ausführlich mit Herrn Bartram besprochen und ihm zum Schluss seinen Plan erklärt, wie er das Risiko so gering wie möglich halten wollte.
Dann kann im Ernstfall mal irgendwo auf der Lieferkette ein Problem entstehen und somit am Ende weniger als die vorgegebenen 100.000 in Hamburg in seinem Lager ankommen.
Aber durch die extreme Überproduktion war auf alle Fälle gesichert, dass die bestellten 60.000 immer abrufbar und lieferbar sein würden.
Er hatte Herrn Bartram auch erklärt, dass er fest damit rechnet, dass der Artikel gut anspricht und dass man dann die überproduzierte Menge problemlos beim nächsten Auftrag mit einfließen lassen kann.
Der menschliche Körper ist gleich, der menschliche Rücken ist gleich, die Autos sind gleich, die Farben sind gleich – es ist bei diesem Artikel praktisch völlig egal, wann er produziert wurde.
Es gibt kein Verfalldatum wie auf Joghurt-Bechern und keine Modeschauen, die heute Mini und morgen Maxi ausrufen oder umgekehrt.
Der Artikel von Thomas war einfach und dumm wie eine Rolle Küchenpapier – und immer gleich.
Die Ankündigung
Herr Bartram war einverstanden und stellte den Kredit für insgesamt ca. 100.000 Einheiten zur Verfügung.
Die 4 Fabriken in China stellten sehr große und sehr bunte Tafeln und Schaubilder an den wichtigsten Stellen ihrer Fabriken auf.
Das gehörte zum Ritual der neuen Ordnung, die ab dem Ende der chinesischen Kulturrevolution 1977 Teil des neuen chinesischen Selbstverständnisses wurde.
Als Thomas am Anfang seiner Reisetätigkeit in China in vielen Provinzen die unterschiedlichsten Fabriken besuchte, fand er bei fast allen Fabriken solche großen Ankündigungen vor.
Ihm wurde das dann jedes Mal wie folgt übersetzt:
Der Rat der Arbeiter und Direktoren war stolz darauf, jetzt mitteilen zu können, dass sich das Ergebnis im letzten Jahr um – zum Beispiel – 600.000 Yuan (Landeswährung) verbessert hatte.
Das stimmte, wenn auch nur indirekt.
Alle Fabriken machten in jenen Jahren nur Verluste, weil sie mit den neuen von der Regierung ausgerufenen Produktion-Vorgaben nicht zurechtkamen.
Aber man fand schnell eine Variante, diese Tatsache auch positiv darzustellen.
Hatte eine Fabrik im vorletzten Jahr als Beispiel 1,7 Millionen Yuan Verlust gemacht und im letzten Jahr nur noch einen Verlust von 1,1 Millionen Yuan, so war nach der neuen chinesischen Logik dieser Betrieb ein Musterbetrieb, weil er seine Verluste innerhalb eines Jahres um 600.000 Yuan verringert hatte.
Und diese Tatsache wurde dann den Mitarbeitern und der Öffentlichkeit so dargestellt, dass sich das Ergebnis im letzten Jahr um 600.000 Yuan verbessert hatte.
Thomas hatte auch am Anfang bei den 4 Fabriken, in denen er jetzt produzierte, solche Tafeln gesehen.
Er bat, dass diese entfernt werden.
Er meinte, wenn er zufällig mit europäischen oder anderen ausländischen Gästen die Fabrik besuchen wird, dann wolle man den Schwerpunkt auf die aktuelle Produktion und nicht auf die Vergangenheit setzen.
Die Direktoren verstanden diesen diskreten Hinweis und es wurde so gemacht.
Die Produktion
Mit dem ersten großen Probeauftrag von AMI konnte Thomas jetzt auf volle Produktion umschalten. Er erklärte kurz, was auf dem Spiel stehen würde und man verstand ihn.
Mitte September hatte Thomas bereits 102.000 Einheiten in seinem beiden Hamburger Lagern.
Alle Fabriken hatten korrekt produziert, alles konnte problemlos transportiert werden.
Thomas schloss von da ab seinen Geschäftspartner Herrn Diekmann in sein tägliches Nachtgebet mit ein, in der Hoffnung, dass all das, was er in diesem Jahr auf die Beine gestellt hatte, von einem gewissen Erfolg gekrönt wurde, der für ihn nur aus einem einzigen Wort bestand: Anschlussauftrag.
Das Inserat
Am 15. Oktober erschien in allen Zeitungen die wöchentliche ganzseitige Anzeige von AMI – und hier war der firmeneigenen Werbeabteilung etwas gelungen, mit dem Thomas nie gerechnet hatte.
Statt zum wiederholten Male einen Mix von Bohrmaschinen, Büstenhaltern, Blattsalat, Buntstiften und Bratwürsten über die ganzseitige Anzeige zu verteilen, hatte man oben als großen Blickfang seinen Lammfell-Autositz-Bezug abgebildet.
In der erstklassigen Werbe-Qualität, die diese Agentur immer ablieferte.
Ein kurzer und informativer Text erklärte dieses neue Produkt und der Preis war so kalkuliert wie immer bei AMI.
Während die Kaufhäuser normalerweise 80-100% auf ihren Einkaufspreis aufschlugen und die größeren Discounter knapp 50%, war es die absolute Stärke von AMI, dass man dort ausschließlich mit einem Faktor 35 operierte – und somit im Preis-Leistung-Verhältnis schon seit Jahrzehnten absoluter Marktführer war.
Thomas und seine kleine Mannschaft hatten sich an diesem Morgen je ein Exemplar der beiden Hamburger Boulevard-Blätter sowie der altbackenen, aber noch seriösen Hamburger Abendzeitung gekauft.
Überall war das gleiche Inserat und überall war ihr Artikel in dieser hervorgehobenen Position zu sehen.
Telefonate
Zwischen 10 und 11 Uhr morgens riefen die Einkäufer der größten deutschen Baumärkte in der Firma von Thomas an und wollten diesen Artikel ebenfalls bestellen. Und zwar zur sofortigen Lieferung.
Es gehörte zu ihren Aufgaben, in allem lieferfähig zu sein, was die Konkurrenz anbot.
Thomas wusste von diesen Vorgaben der Konkurrenz von AMI nichts, und nachdem er die ersten beiden Gespräche noch persönlich geführt hatte und zusagte, sich darum zu kümmern, ließ er ab 11:00 Uhr diese Anrufe nur noch von seiner Sekretärin beantworten mit der Auskunft, dass ihr Chef zurzeit auf dem Flug in der Mongolei sei.
Sie nahm Name und Telefonnummer der Interessenten auf und sagte zu, alles an Thomas schnellstmöglich zu übermitteln.
Der Anruf
Am frühen Nachmittag rief Herr Diekmann an.
Er verlor kein einziges Wort über den Artikel und darüber, dass Thomas alle vertraglichen Vereinbarungen absolut korrekt erfüllt hatte.
Der Konzern AMI hatte zu dieser Zeit in seinen 2400 Filialen noch kein elektronisches Kassensystem.
Jeder Artikel, der in großen Mengen im Rahmen einer wöchentlichen Sonderaktion verkauft wurde, bekam eine Codenummer und wenn die gelieferte Menge im Laden verkauft war, musste der Filialleiter in der Bezirkszentrale anrufen, um neue Ware zu bestellen.
Herr Diekmann informierte Thomas, dass seit dem späten Vormittag alle Filialen ausverkauft waren.
Er fragte, ob und wenn ja, wie viel Thomas sofort nachliefern kann.
Thomas wusste, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen war. Er verlor kein Wort über den Artikel selber und über alles, was damit zusammenhängt, sondern bat Herrn Diekmann am Telefon um einen Moment Geduld.
Er deckte das Mikrophon seines Telefonhörers mit einer Hand zu und zählte stumm und langsam bis acht.
Acht war die Glückszahl in China.
Dann meldet er sich wieder bei Herrn Dickmann. und sagte, laut Bericht seines Lagers ist von diesem Artikel zurzeit noch ein Bestand von 1.600 Kartons mit insgesamt 40.000 Einheiten vorhanden.
Damit hatte er recht subtil seinem Hauptkunden gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass es sich hier um einen Feld-, Wald- und Wiesen-Artikel handeln würde, wo man eben auf die Schnelle auch noch solche Mengen liefern könne.
Herr Diekmann sagte nur o. k. Die sind gekauft.
Den Kaufschein und die Einteilung, was wohin transportiert werden soll, wird seine Sekretärin in 1 Stunde per Fax senden.
Da normalerweise der Lieferant dafür verantwortlich ist, dass alle Waren an die verschiedenen Regionallager geliefert werden und es jetzt in dieser Situation nicht genau vorhersehbar sei, ob der Spediteur, mit dem Thomas arbeitet, von heute auf morgen die benötigte Menge von 13 Lkws organisieren kann, wird die Transportabteilung von AMI in diesem Fall die Sache übernehmen und dafür sorgen, dass morgen früh um 7 Uhr 13 Jumbo-Transporter vor dem Lager von Thomas Firma stehen, um die Ware abzuholen.
Er dankte Thomas kurz für seine Lieferfähigkeit und beendete das Gespräch.
Das Fax kam pünktlich, ebenso die Aufstellung, was wohin geliefert werden soll.
Die Nachlieferung
Im Lager von Thomas arbeiteten die beiden Gabelstapel-Fahrer bis kurz nach Mitternacht daran, die genauen Mengen für jeden Empfangsort zurechtzustellen, damit sie am nächsten Morgen sofort verladen werden konnten.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr standen 13 Jumbo-LKW vor der Einfahrt des Lagers von Thomas und verstopften damit die gesamte Zufahrtsstraße zu seinem Lager.
AMI ist dafür bekannt, dass man das perfekteste Logistiksystem aller europäischen Discounter hat.
Am darauf folgenden Morgen waren sämtliche Nachlieferungswaren in den Filialen von AMI eingetroffen und wie Thomas später erfuhr, war auch diese zweite Lieferung innerhalb von Stunden ausverkauft.
Das Gespräch
Drei Monate später saßen sich Herr Diekmann und Thomas im Büro des Leiters der Einkaufsabteilung gegenüber.
Herr Diekmann ließ sich mit keinem Wort und keiner Mimik anmerken, dass Thomas mit seinen jahrelangen Versuchen, den Artikel vorzustellen, am Ende so einen großen Erfolg hatte.
Er meinte zu Thomas, dass man sich aufgrund der Erfahrung des letzten Oktobers entschlossen hat, diesen Artikel jetzt als einen Schwerpunkt-Artikel für die Herbstwerbung ins Programm aufzunehmen.
Das würde bedeuten, dass man, nach Rücksprache mit den einzelnen Bezirksniederlassungen, auf eine Gesamtmenge von 240.000 Stück kommt – also 100 Teile pro Filiale.
Lieferzeit wieder der gleiche Dienstag in der zweiten Oktoberwoche, die Werbung wird dann entsprechend aufgemacht.
Herr Diekmann griff in seine Schreibtischschublade und holte einen fertig ausgefüllten Kaufschein hervor. Er schob ihn zu Thomas rüber und bat ihn zu unterschreiben.
Realität
Thomas unterschrieb und war nach 20 Minuten wieder in seinem Auto, was er auf dem riesigen Parkplatz neben der Zentrale von AMI geparkt hatte.
Er drehte den Rückenteil seines Fahrersitzes soweit es ging nach hinten in eine horizontale Position, streifte seine Schuhe ab, legte sich auf diese provisorische Liegefläche, schloss seine Augen und wartete darauf, dass ihn irgendjemand anpickt, um ihm freundlich mitzuteilen, dass sein Traum jetzt zu Ende sei.
Thomas wartete eine Viertelstunde.
Als niemand kam, kurbelte er seinen Sitz wieder in die normale Position, griff in seinen kleinen Aktenkoffer und öffnete das Fach, wo der Kaufschein lag.
Er zog ihn vorsichtig heraus, überflog ihn noch einmal und machte einen Knistertest.
Er hatte irgendwo mal gelesen, dass man im Traum keine Geräusche hört.
Als er den Kaufschein in seinen Händen etwas hin und her bewegte und das Papier zu knistern anfing, wusste Thomas, dass sich sein Leben ab sofort geändert hat.
Normal
Die nächsten 5 Jahre vergingen in der Kommunikation mit AMI nach dem gleichen Ritual wie zu jener Zeit, als er jahrelang sein Produkt erfolglos anpries.
Nur dass er diesmal statt der obligatorischen Absage jedes Mal einen neuen Kaufschein für ungefähr die gleiche Menge erhielt.
Er hatte inzwischen in China noch 2 weitere Fabriken für seine Produktion gewinnen können und mit dieser Kapazität war er in der Lage, jedes Jahr korrekt und pünktlich alles abzuliefern.
Die Tatsache, dass er jetzt über 70 Prozent seiner Menge und seiner Zeit für einen einzigen Kunden arbeitete, machte ihn manchmal etwas nachdenklich.
Aber die Sache war so wie sie ist- und ändern wollte und konnte er sie nicht.
Das Ende
Und das alles sollte jetzt zu Ende sein?
Herr Diekmann war wirklich ungehalten und empört über das, was Thomas ihm gerade mitteilte. Er war es gewohnt, seine Lieferanten korrekt und fair zu behandeln.
Aber er wusste auch, dass er und sein Haus jederzeit am längeren Hebel saßen.
Wer gut und korrekt lieferte, wurde gut und korrekt behandelt.
Wer sich Fehler leistete, wurde in kürzester Zeit ausgemustert.
Das waren die Spielregeln in dieser Branche und alle kannten sie.
Und jetzt kam dieser Thomas Deckel aus Hamburg, um ihm nach 5 Jahren bester Zusammenarbeit etwas vorzuschlagen, was sich Herr Dickmann nie hätte vorstellen können.
Siebtes Buch
Das Resümee
„Ich fasse also zusammen.
Herr Diekmann war es gewohnt, analytisch zu denken und seine Gedanken in präzisen Formulierungen zum Ausdruck zu bringen.
Er hatte einen längeren Augenblick geschwiegen, nachdem Thomas seine Ausführungen beendet hatte. Er versuchte, das Gehörte und die Zusammenhänge einzuordnen.
Er war verantwortlich für den gesamten Bereich Automobil-Zubehör – und darin war dieser Artikel, den Thomas lieferte, ein ausgesprochener Exot.
Er hatte nichts mit Technik, mit Geschwindigkeit, mit Schutz für irgendwelche Teile oder mit der Pflege zu tun.
Der Artikel von Thomas war für Herrn Diekmann die ganzen letzten Jahre ein weißer Rabe geblieben, der zugegebenermaßen immer noch in den erstaunlichen Mengen von älteren deutschen Fahrern, einigen Gesundheitsfreaks und vielen Taxifahrern gekauft wurde.
Dann fing Herr Dickmann an zu reden.
„Vor 2 Jahren sprachen wir beide zum ersten Mal über das Thema Airbag. In diesem Fall den neuen Seitenairbag.
Ich stimmte mit Ihnen überein, dass dies zu jener Zeit ein vernachlässigbarer Argumentationsbereich für ihren Artikel war.
Nur ganz wenige Autohersteller hatten vor 2 Jahren schon den Seitenairbag serienmäßig in ihrem Programm. Dann aber auch nur für die sehr teuren Modelle der Oberklasse.
Und dass dort ein Kunde sich ausgerechnet einen Lammfell-Sitzbezug in seinen Premium-Wagen montieren lässt, war so unwahrscheinlich, dass wir vor 2 Jahren dieses Thema nicht weiter zu beachten brauchten.
Vor einem Jahr hatte schon ein Großteil der deutschen und internationalen Autohersteller den Seitenairbag im Programm ihrer Modellpalette.
Um jedes Risiko auszuschließen, hatten wir beide uns dann darauf geeinigt, dass in Ihrer Produktion und entsprechend in unserem Herbstangebot ein Hinweis sowohl auf der Verpackung als auch in unserer Werbung eingefügt wird.
Wir hatten ein kleines grafisches Symbol entworfen, um den Kunden darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Artikel nicht für Pkw mit Seitenairbag geeignet ist.
Außerdem war sowohl in unserer Werbung als auch auf der Verpackung ein Hinweis in Kurzform: „Für Pkw mit Seitenairbag nicht geeignet.“
Bei unserer letzten Besprechung vor einem Jahr sagten Sie mir, dass Sie intensiv an einer Lösung dieses Seitenairbag-Problems für Ihre Lammfell-Autositzbezüge arbeiten.
Ich hatte das zur Kenntnis genommen und mir persönlich war auch klar, dass in der nächsten Herbstaktion ein Artikel von uns angeboten werden muss, der dieses Problem gelöst hat.
Mitbewerber
Herr Diekmann machte eine Pause und sah sein Gegenüber leicht fragend an.
„Ich war ehrlich gesagt gespannt, in welcher Form Sie dieses Problem lösen würden. Wie Sie wissen, haben wir neben ihrem Lammfell-Autositzbezug auch noch eine Reihe von Textil-Autoschon-Bezügen in unserem Jahresprogramm.
Die beiden Lieferanten, von denen wir normalerweise unsere Textilbezüge beziehen, haben mir bereits ihre Ergebnisse vorgestellt und ich denke, dass die Lösung des einen Mitbewerbers unseren Zuspruch finden wird.
Thomas war innerlich geschockt, als er dies hörte.
Er fragte sich sofort, ob irgendein anderer Hersteller inzwischen seine Lösung kopiert hatte oder etwas gefunden hatte, was einfacher und weniger aufwendig funktionieren würde als seine eigene Lösung.
Thomas fragte Herrn Diekmann, ob es möglich sei, ihm die beiden Varianten der Textilbezugshersteller zu zeigen.
Schließlich habe er selber ja keine Absichten in das Textilgeschäft einzusteigen, aber ihn interessiere natürlich, welche Varianten diese beiden Hersteller gefunden und angeboten hatten.
So ein offenes Wort machte bei Herrn Diekmann einen guten Eindruck. Er überlegte einen Augenblick und ging dann aus dem Zimmer. Als er zurückkam, hatte er zwei Stoffbeutel unter dem Arm und legte sie auf den Tisch.
„Dies sind die Referenzmuster der beiden Textil-Anbieter. Beide haben mir versichert, dass sie den Anforderungen bei einer Seitenairbag-Explosion genügen würden und beide warten jetzt auf meine Entscheidung.
Lösungen
Herr Diekmann packte den ersten Artikel aus seiner Stofffülle, suchte einen Vordersitzbezug heraus und gab ihn Thomas.
Thomas erhob sich von seinem Sitz, nahm den Sitzbezug und stülpte ihn über die Lehne seines Besucher-Stuhls.
Auf diese Art und Weise hatte er beide Hände frei, um sich mit der Stelle in diesem Bezug zu beschäftigen, wo der Airbag normalerweise rauskommen würde.
Der Bezug war aus Baumwolle und mit einem ziemlich grellen Design bedruckt.
Und dann sah Thomas, wie hier die Lösung aussehen würde:
An der Stelle, wo der Seitenairbag aus dem Sitz herauskommen würde, hatte man einfach ein großes rundes Loch in den Sitzbezug geschnitten.
Der Airbag würde auf diese Weise ungehalten dort durchdringen.
Ungehalten dürfte aber auch der Kunde sein, der so etwas später in seinem Auto sah.
Herr Diekmann beobachtete Thomas, als dieser die Stelle mit dem großen Loch in die Hand nahm und es ein bisschen in Längs- und Querrichtung zog.
Dann murmelte Thomas leise, aber bewusst noch so laut, dass Herr Diekmann es hören musste:
„Ok, the emergency solution“
Herr Diekmann konnte natürlich fließend Englisch, war aber verwundert, dass Thomas erste Reaktion auf diese Loch-Variante ein kleiner Satz auf Englisch war.
Dann bat Thomas um einen Vordersitz-Bezug aus dem Paket des anderen Lieferanten.
Thomas meinte zu Herrn Diekmann, wenn er beide nebeneinander sehen könne, würde er seine persönliche Meinung selbstverständlich mitteilen.
Um den Besprechungstisch im Büro von Herrn Diekmann waren 4 Stühle gestellt und nachdem Herr Diekmann das Muster aus dem Textil-Beutel des zweiten Anbieters rausgeholt hatte, streifte Thomas diesen Vordersitz über einen anderen Stuhl.
Hier war der Eindruck schon etwas freundlicher.
Auf den ersten Blick war an der Stelle, wo der Airbag rauskommen sollte, alles mit dem gleichen Textil-Material gearbeitet wie die gesamte restliche Fläche des Bezugs.
Bei genauerem Hinsehen merkte man aber, dass an der Stelle, wo der Airbag rauskommen sollte, das Muster des Textilbezugs irgendwie nicht mehr genau passte.
Und als Thomas dann diese Stelle des Airbag-Austritts ebenfalls mit beiden Händen ergriff und das Material an dieser Stelle leicht auseinanderzog, öffnete sich ein ca. 10-12 cm breiter Schlitz, der durchgehend von oben nach unter verlief.
Der Hersteller hatte hier eine Art Gardinenlösung erfunden.
Die linke Hälfte des Schutzes war etwas breiter als die Rechte.
Die Linke überdeckte in der Mitte den Bereich der anderen Seite, sodass kein Hohlraum zu sehen war.
Man kann es am einfachsten beschreiben und vergleichen, wenn man sich zwei Gardinen-Vorhänge vorstellt, die zusammengezogen werden und wo der linke Vorhang leicht über den rechten Vorhang reicht, so dass das Fenster auf jeden Fall komplett von den Gardinen bedeckt und verdunkelt wird.
Wenn man jetzt mit der Hand die beiden Gardinenteile auseinanderzieht, öffnet sich ein offener Schlitz in der Mitte.
Thomas ließ dieses Muster wieder los, nachdem er es an dieser Stelle erst vorsichtig und dann etwas kräftiger auseinandergezogen hatte.
Die beiden Hälften klappten wieder leicht übereinander und nur das etwas unregelmäßige Design an dieser Stelle verriet, dass an dieser Stelle gearbeitet worden war.
Dann murmelte Thomas in genau der gleichen Lautstärke wie bei seinem vorherigen Kommentar:
„Aha, die Donnerbalken-Variante.“
Herr Diekmann konnte auch mit diesem speziell für ihn gemurmelten Kommentar nichts anfangen.
Kommentar
Herr Dieckmann kannte Thomas inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sein Gegenüber gelegentlich gerne ein bisschen psychologische Kriegsführung spielte – und deshalb wartete er in aller Ruhe auf die Erklärungen von Thomas.
„Wissen Sie, sehr geehrter Herr Diekmann,“ fing Thomas an, „wir sind in China inzwischen über 5.000 Leute, die in 6 großen Fabriken arbeiten.
Wie Sie sich vorstellen können, zum allergrößten Teil für Ihre Bestellungen.
Diese Menschen haben noch nie ein Auto besessen.
Sie wissen aber aus Erzählungen, Bildern und kleinen Videos, was mit dem passiert, was sie dort erarbeiten.
Seit vielen Monaten haben meine eigenen Mitarbeiter, die Fabrikdirektoren, aber auch vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter, alle wesentlichen Informationen zu dem Thema Seitenairbag bekommen.
Es wurden Diskussionsrunden eröffnet, nicht so formell wie bei uns, sondern in der chinesischen „Free-talking“-Variante – das ist die meiner Erfahrung nach beste Möglichkeit, eine Schwarm-Intelligenz zu entwickeln.
Dabei waren die beiden Textilvarianten, die Sie mir eben gezeigt haben, auch unter den Lösungen, die sich unsere chinesischen Freunde überlegt hatten und die alle gründlich durchdiskutiert wurden.
Der Notausgang
Die Variante mit dem großen runden Loch erhielt einen chinesischen Namen, an den ich mich nicht mehr erinnere.
In der Übersetzung dort in der Fabrik war es die „emergeny“-Variante – also auf Deutsch gesagt, der Notausgang.
Ich selber habe seinerzeit ehrlich gesagt sehr geschmunzelt, als mir sowohl diese Variante als auch die chinesische Bezeichnung dafür übersetzt wurden.
Es ist ja tatsächlich die wohl einfachste und simpelste Form einer Gefahrenabwehr.
Aber wer möchte schon in einem Kino einen Film genießen, wenn an den Seiten des Kinos alle sechs oder acht Notausgänge permanent sperrangelweit geöffnet sind?
Man braucht sich nur vorzustellen, wenn bei einer stillen und anrührenden Liebesszene auf der Leinwand der Lärm und das Geschrei der draußen auf der Straße vorbeiziehenden schwer beladenen Eselskarren durch diese permanent offenen Notausgänge dringt – andere Beispiele brauche ich hier nicht nennen, die Situation ist immer die gleiche.
Diese Variante hätte wahrscheinlich den Vorteil, dass sie sofort vom TÜV zertifiziert wird.
Der Nachteil wäre mit Sicherheit die Verbitterung des Kunden, wenn er so ein Produkt mit TÜV-Stempel bei AMI kauft, um dann zu Hause festzustellen, dass es sich um einen Artikel handelt, der im wahrsten Sinne des Wortes als löchrig beschrieben werden kann.
Herr Diekmann lächelte ein bisschen über diese typische Erzählweise von Thomas.
Er versuchte, sich den Ausdrucksweisen von Thomas in diesem Fall etwas anzupassen und meinte nur, diese Variante hat sicherlich ihre etwas spezielle Eigenschaft.
Aber er persönlich neige dazu, der anderen Variante den vorletzten Platz zu geben.
Thomas stutzte ein wenig – um dann zu erkennen, dass bei einem Vergleich von zwei Bewerbern der Vorletzte immer der Erste und damit der Sieger ist.
Als er das erkannte, musste auch er ein bisschen lächeln.
Der Donnerbalken
„Und die andere Variante?“ Fragte Herr Diekmann und zeigte auf das andere Muster über dem anderen Stuhl.
Er wartete innerlich gespannt auf die Erklärung zu dem, was Thomas zu dieser Variante gemurmelt hatte.
Das Wort selber, was Thomas als Kommentar gerade laut genug gemurmelt hatte, war für ihn so ungewöhnlich, dass er es wohl nicht in seinem aktiven Wortschatz hatte.
Thomas wiederholte leise: „Ach ja, die Donnerbalken-Variante.“
Er überlegte einen Augenblick, wie er seinem Gegenüber den Hintergrund dieses ungewöhnlichen Wortes und die damit im Zusammenhang stehende Variante erklären sollte.
„Ich bitte um ein klein bisschen Nachsicht“, begann er, „wenn ich hier mit einigen Sätzen ausholen muss.
Diese Variante war in China unter den ersten und häufigsten Vorschlägen der Arbeiter fast aller Fabriken.
Sie wurde mit einer Mischung aus Ernst, Heiterkeit und chinesischer Freude an der Lösung unseres Problems in den verschiedensten Varianten diskutiert.
Die Chinesen sind, wie ich immer wieder festgestellt habe, ein äußerst reinliches Volk.
Sie haben wohl seit Jahrtausenden Erfahrung in Sauberkeit und Hygiene, ohne dass sie wissen, dass es hier bei uns dafür diese speziellen Begriffe gibt.
Das fängt schon bei ganz kleinen Kindern an.
Und ich denke, dort fange auch ich jetzt an mit meiner kurzen Erklärung.
Ich hatte bei meinen ersten Besuchen vor vielen Jahren in China zwei Dinge festgestellt, die für mich als Ausländer wirklich überraschend waren.
Zum einen war es die Fähigkeit der allermeisten Chinesen, in einer Hock-Stellung so lange zu verweilen, wie sie es wollten.
Die Füße sind dabei nicht angewinkelt, sondern komplett platt auf dem Boden, die Beine sehr stark angewinkelt und das Gewicht des Körpers ruht praktisch direkt auf den Füßen.
Die Beine dazwischen werden nur als eine Art Polster benutzt.
Für so eine Grundhaltung muss ein Mensch sehr gelenkig sein, er sollte nicht übergewichtig und auch nicht unsportlich sein.
Man kann diese Haltung vielleicht vergleichen mit der Sitz-Haltung der Flamingos und einiger anderer großer Vögel, welche die Fähigkeit haben, sich auszuruhen, indem sie die Beine nach vorne einknicken lassen.
Diese kleinen Kinder lernen schon in ihren ersten Jahren – kaum dass sie stehen und laufen können – sich in dieser Form hinzuhocken und dabei auch noch zu spielen.
Und alle Kinder haben seit diesem Moment eine Hose an, die hinten über dem Popo einen großen Schlitz hat. Dieser Schlitz ist leicht übereinander genäht, so ähnlich wie hier bei der zweiten Textilvariante.
Wenn ein Kind jetzt das Bedürfnis hat, sich zu erleichtern – und dieses Erleichtern solle mehr sein als ein kleiner Kinderpups – so hockt es sich hin, um das zu machen, was die Natur fordert.
Dabei strafft sich die Hose über dem kleinen Kinderpopo und durch die Spannung und die neue Körperhaltung öffnet sich der Schlitz.
Zwar nur ein wenig, aber genug, um zu erlauben, dass das kleine Wesen seine hygienischen Arbeiten verrichten kann, ohne dass dabei etwas in oder an der Hose hängen bleibt.
Windeln in irgendeiner Form gibt es für diese kleinen Kinder nicht. Es ist alles so natürlich, dass man nichts Zusätzliches braucht.
Wenn die Kinder dann größer geworden sind, haben sie natürlich ganz normale Hosen an. Aber unter der nach außen sichtbaren Hose ist in den allermeisten Fällen noch eine etwas größere Variante dieser mit einem großen, hinteren Schlitz versehenen Unterhose.
Die Chinesen sind ein geselliges Volk.
In allen Fabriken, wo ich jetzt arbeite und auch in vielen anderen Fabriken, die ich irgendwann früher besucht habe, sind die Toiletten der Arbeiter ein größerer Raum, wo sich die Männer nebeneinander auf einen langen Balken oder eine kleine Mauer hinhochklettern, um sich dort durch ihre Schlitz-Unterhosen hindurch in der gleichen Art und Weise zu erleichtern, wie sie es bereits als kleine Kinder gemacht haben.
Dabei wird erzählt, gescherzt und angeregt kommuniziert – dieser Ort gehört auf ganz natürliche Weise zum gemeinsamen Umfeld.
Der Begriff Donnerbalken stammt zwar nach meinem Wissen aus dem Altdeutschen und bedeutet in der Funktion in etwa das Gleiche, was ich Ihnen über China berichtet habe.
Nur wurde er hier immer in der Einzelsitz-Variante benutzt.
Ein kleines einsames Häuschen, ein kleines Herz in der Eingangstür als Ventilation und zum Schauen, ob gerade jemand drin ist, ein kleiner Balken für eine Person – und das war ́s dann.
Und mit Sicherheit ohne irgendeinen Schlitz in der Unterwäsche der Benutzer.
Mit diesem Satz beendete Thomas seine kleine Exkursion über die Donnerbalken-Variante.
Unsichtbar
Nachdem Thomas die beiden Textilmuster wieder von ihren Stuhllehnen abgestreift und Herr Diekmann sie in die jeweiligen Stoffbeutel zurück gestopft hatte, ging Thomas zu seiner Tasche und holte den Lammfell-Sitzbezug heraus, den er für diese Besprechung mitgebracht hatte.
Er streifte ihn über die Lehne eines Stuhls genauso wie er vorher die Textilbezüge darüber gestreift hatte.
Dann zog er mit beiden Händen an die Stelle, wo der Seitenairbag herauskommen sollte. Erst sanft und dann kräftiger.
Er zog nach links und rechts, nach oben und nach unten.
Es passierte nichts.
Der Lammfellbezug blieb so wie er war – ohne irgendwelche sichtbaren Veränderungen.
Er war auch optisch an dieser Stelle völlig genauso bearbeitet wie im gesamten anderen Teil des Bezuges.
„Sehen Sie hier einen Unterschied?“ fragte Thomas Diekmann und zeigte auf die Stelle.
Herr Diekmann verneinte.
„Da ist auch keiner“, antwortete Thomas – „dann werde ich Ihnen jetzt einmal die Innenseite dieses Bezuges zeigen“.
Er stülpte den Bezug von außen nach innen und zeigte Herrn Dieckmann die Stelle, wo der Seitenairbag herauskommen sollte.
Es war dort eine runde Naht zu sehen, ungefähr so groß im Durchmesser wie bei der ersten Textilvariante das dortige große Loch.
Kryptisch
Außerdem war an der kreisrunden Naht an einer Stelle ein kleines längliches Etikett eingenäht worden.
Jetzt ging Thomas wieder zu seinem Aktenkoffer und holte ein TÜV-Zertifikat heraus.
Dort stand, dass der Austrittsbereich des Seitenairbags vom TÜV geprüft wurde und dass keinerlei Beanstandungen gemacht wurden in Bezug auf die Durchschlagskraft des Seitenairbags und die Zeit, die er zum Aufblasen benötigte.
„So, Herr Diekmann, jetzt zu meiner Lösung. Ich will versuchen, es wirklich kurz zu machen. Auch wir haben an der Stelle, wo der Seitenairbag herauskommen soll, zuerst ein Loch geschnitten.
Das herausgeschnittene kleine runde Teil wurde dann aber mit einer speziellen, sehr teuren und äußerst genauen, computergesteuerten Industrie-Nähmaschine genau dort wieder eingenäht.
Computer
„Ich möchte Ihnen ersparen, die Einzelheiten der Technik zu erklären. Stellen Sie sich nur einfach vor, dass zum Beispiel kein Chip in irgendeinem Elektronikteil von einem Menschen gebaut werden kann. Keine Platine und kein elektronisches Steuerteil wird heute noch von Menschen zusammengesetzt.
Alles machen Computer und Roboter und alles wird komplett computergesteuert und gleichzeitig von Computern kontrolliert.
Sowohl der Fabrikant als auch der Kunde müssen sich hundertprozentig darauf verlassen, dass jeder Arbeitsschritt in der Herstellung dieser elektronischen Teile zu 100% stimmt.
Und dass auch das nächste und das übernächste Teil wieder 100% stimmen wird.
Und genauso ist es hier bei unserem Ausschnitt, der elektronisch und computergesteuert wieder zusammengenäht wurde.
Jeder Stich und jede technische Einzelheit, die damit zu tun hat, wird vorgegeben und elektronisch und computerüberwacht so ausgeführt, wie der Computer programmiert ist.
Auf diese Art und Weise ist sichergestellt, dass die gesamte Naht an dieser Stelle in diesem Lammfell-Sitzbezug genauso gearbeitet ist wie das Referenz-Stück, welches der TÜV bei sich geprüft hat.
Das hatte der TÜV hiermit bestätigt – und das ist meine Lösung.
Herr Diekmann war beeindruckt.
Das Etikett
„Und was bedeutet dieses kleine Etikett dort an der Stelle?“ fragte Herr Dieckmann.
Thomas erklärte ihm, dass jeder Prozess ein einmaliger Vorgang ist.
Er wird durchgeführt und kontrolliert und wenn er erfolgreich abgeschlossen ist, bekommt er eine einmalige Produktionsnummer.
Diese wird während des Nähprozesses automatisch mit eingenäht und gleichzeitig auch auf eine Karte gedruckt.
Außerdem bleibt sie als Kontrollnummer im Listenformat im Näh-Computer gespeichert.
Geduld
Herr Diekmann verstand nicht ganz, was der eigentliche Sinn dieser Nummerierung und dieser sehr aufwendigen Kontrolle mit Naht, Postkarte und Computerspeicher konkret bedeutet.
Thomas bat Herrn Diekmann jetzt noch einmal um etwas Geduld, weil er auch dies leider etwas ausführlicher erklären müsse.
„Ich möchte versuchen, es Ihnen so zu erklären, wie ich es auch in China den Fabrikdirektoren erklärt habe – damit alle wissen, in welcher Verantwortung sie bei der Produktion dieses Teiles stehen.
Gelöst
Dann wechselte Thomas bewusst die Stimmlage und seine Ausdrucksform und begann ganz gelöst wie beim Kaffeetrinken, seinem Gegenüber eine kleine Geschichte zu erzählen.
„Eines meiner Hobbys ist Hockey spielen.
In meiner Mannschaft in Hamburg spielt auch ein Zwillingspaar. Niemand würde von alleine drauf kommen, dass diese beiden Männer Zwillinge sind.
Weder von der Statur noch insbesondere von ihrer Erscheinungsform und Ausdrucksweise haben sie irgendeine größere Ähnlichkeit.
Die Familie der beiden heißt Maler, also ein ganz normaler Name.
Aber wir haben uns angewöhnt, beide entsprechend ihrer unterschiedlichen Charaktere zu benennen.
Der eine ist der Stürmer, er ist auch sonst recht ungestüm und Gott sei Dank immer wieder meistens derjenige, der es schafft, dass wir auch mal ein Tor schießen. Das war bei uns der Weiß-Maler, der irgendwann den Spitznamen Jonny bekam, ein bisschen auch in Assoziation zu dem berühmten Tarzan-Darsteller Jonny Weissmüller.
Sein Zwillingsbruder ist der geborene Verteidiger. Er steht am liebsten ganz hinten im eigenen Strafraum vor dem eigenen Torwart und hofft immer nur, dass die Gegner in seinem Strafraum kein Tor schießen würden, für das er verantwortlich gemacht werden könnte.
Wir nannten ihn mit seinem Familiennamen und fügten dann hinzu, wofür er stand – und daraus wurde dann der Schwarzmaler.
Die Versicherung
„Dieser gute Schwarzmaler ergriff dann den einzigen Beruf, der zu ihm passte.
Er gründete eine Versicherungsagentur.
Und weil er sämtliche menschlichen Risiken so schwarzmalen konnte, bis auch der letzte seiner Kunden, Freunde und Bekannten alle erdenklichen Versicherungen bei ihm abgeschlossen hatten, sorgte seine permanente Schwarzmalerei für ein für ihn und seine Familie recht angenehmes Leben.
Als ich meinem Freund Schwarzmaler irgendwann einmal meine Idee mit dem Seitenairbag und dem ganzen System erklärte, hörte er sich alles in Ruhe an.
Einige Tage später bat er um ein Treffen und wir trafen uns in einem gemütlichen Café an der Alster. Und dann begann der Schwarzmaler mit dem, was er am besten konnte.
Er hatte in der Zwischenzeit so viel und so intensiv darüber nachgedacht, dass mir fast die Spucke wegblieb.
Ich will hier nur einen kleinen, aber wichtigen Extrakt aus den Worten von unserem Schwarzmaler zitieren.
„Thomas“, sagte er, „ich gehe davon aus, dass es in Deutschland im nächsten Jahr rund dreieinhalb Millionen neue Autos geben wird. Alle werden Seitenairbag-Systeme haben.
60% dieser Autos werden in Deutschland verkauft, der Rest im europäischen oder weltweiten Ausland. Und jetzt nehmen wir einen ganz klassischen Fall als Beispiel.»
Der Unfall
„Ein Neuwagen Besitzer eines Klein- oder Mittelklassewagens kauft sich im Supermarkt für sein neues Auto irgendeinen Autositz-Bezug, sagen wir einen Lammfell-Sitzbezug, weil es deinen Bereich betrifft.
Der Käufer hat natürlich von der ganzen Problematik Seitenairbag usw. überhaupt keine Ahnung.
Er genießt ein neues Auto, fährt glücklich damit auf der Autobahn und übersieht aus lauter Freunde einen Stau, der sich sehr schnell vor ihm aufgebaut hat.
Seine Frau auf dem Beifahrersitz schreit noch im letzten Moment „Vorsicht!“ – aber es ist schon zu spät.
Es kommt zu einem Unfall mit einem gehörigen Crash.
Seine Frau und er selbst werden verletzt. Sein Wagen ist hinten in einen Tankwagen rein gekracht. Dieser Tankwagen hat durch den Aufprall ein Leck bekommen und es kommt zu einem Feuer.
Seine Frau und er können gerade noch aus dem Auto rauskommen, bevor das nächste Auto von hinten auf ihren Wagen raufkracht.
Und jetzt brennt sein Wagen aus.
Die Ablehnung
Einige Monate später reicht der Fahrer die Krankenhausrechnungen für seine Frau und sich selber bei seiner Versicherung ein.
Wie bei jeder Versicherung erhält er erst mal eine Ablehnung mit irgendeiner Begründung nach irgendwelchen Paragrafen, die er nicht versteht und die genau deswegen so formuliert waren.
Er besteht auf Übernahme der Krankenhauskosten und auf sonstige Zahlungen, von denen er glaubt, einen Anspruch zu haben.
Die Versicherung weigert sich, es kommt zum typischen Versicherungsgerichtsprozess und der Vertreter der Versicherung argumentiert:
„Nach Aussage des Verunglückten hatte er in seinem Wagen auf beiden Vordersitzen Lammfellsitzbezüge. Diese Sitzbezüge verhinderten ein korrektes Austreten des Seiten-Airbags und damit ist nach Paragraf XY eine Eigenverantwortung des Fahrers gegeben.
Man sei bereit, durch Gutachter dem Gericht glaubhaft darzustellen, dass ein Schonbezug über einem Airbag-Ausgang ein so großes Risiko – verursacht durch den Kläger – darstellt, das deswegen in diesem Fall kein Versicherungsschutz mehr gegeben ist.
Das Gericht folgt im Wesentlichen den Angaben der Versicherung.
Die Versicherung erklärt aus Kulanzgründen, dass sie einen minimalen Betrag von einigen Prozent des Gesamtschadens auszahlen wird, aber nur, weil der Kunde schon so lange Mitglied bei dieser Versicherung sei.
In der Sache selber hat die Versicherung gewonnen und das ist entscheidend.
Ratlos
Der Schwarzmaler lächelte, weil es ihm gelungen war, Thomas eine so traurige und niederschmetternde Geschichte zu erzählen.
Und als Höhepunkt seiner Schwarzmalerei erklärte er noch, dass er selber im Rahmen seiner diversen Versicherungsmöglichkeiten nichts gefunden hat, womit sich der Fahrer und seine Frau vorher versicherungstechnisch hätten schützen können.
Herr Diekmann hörte Thomas die ganze Zeit aufmerksam zu, obwohl er zuerst von der Langartigkeit der Geschichte etwas genervt war.
Am Ende sah er Thomas fragend an.
„Wenn es also so ist, wie Sie jetzt selber gesagt haben, wie soll dann unser Fahrer in unserem Beispiel geschützt sein respektive sich überhaupt schützen können?“
Die Lösung
„Das will ich ihm gerne sagen, lieber Herr Diekmann,“ fing Thomas jetzt an, seine Position aufzubauen, auf die er sich so lange vorbereitet hatte.
„indem er genau das tut, wozu wir ihm mit unserem elektronischen Fertigungsprozess die Möglichkeit geben.
Natürlich ist der Kunde normalerweise – wie unser Freund Schwarzmaler es so richtig pessimistisch geschildert hat – rechtlich machtlos.
Wenn er aber einen Lammfell-Schonbezug in seinem Auto gehabt hätte, der sowohl TÜV zertifiziert und nachweislich völlig korrekt produziert wurde, dann hätte er vor jedem Gericht der Welt damit gegen jede Versicherung gewonnen.
Die Sache ist also nur, dass der Kunde in die Lage versetzt werden muss, dies zu beweisen.
Natürlich wissen wir alle, dass kein Kunde sich beim Kauf eines solchen Lammfellsitzbezugs irgendwelche Gedanken macht über eventuelle spätere Schadensprozesse und so weiter.
Das braucht er auch nicht, denn in meinem System ist dafür gesorgt, dass alles von alleine funktioniert.
Die Karte
Und hier schließlich kommt diese kleine Antwortkarte ins Spiel, über die Sie sich bisher so – ich will mal sagen ehrlich und fulminant – aufgeregt haben.
Das einzige, was der Kunde machen muss, ist diese Karte auszufüllen. Und zwar nur mit seinem Namen und seiner Adresse – weiter nichts.
Den Inhalt seiner Karte braucht er überhaupt nicht aufbewahren oder zur Kenntnis nehmen. Wenn er diese Karte zurückschickt, ist dort die Codenummer eingedruckt, die in China bei der Produktion vergeben wurde.
Er schickt sie jetzt nicht an AMI zurück – Sie haben mit der ganzen Sache organisatorisch überhaupt nichts zu tun- – sondern direkt an uns.
Wir haben in den drei Monaten nach Ihrer Herbst-Verkaufsaktion bei uns in Hamburg zwei Extra-Schreibkräfte, die nichts weiter machen als die zurückgesendeten Karten in eine Computerliste einzutragen. Und zwar mit Namen, Adresse und dem Produktionscode.
Dann ist eindeutig und unverwechselbar festgestellt, dass unser Kunde – nennen wir ihn hier einfach mal Herrn Schwarzmaler – unter seinem Namen und seiner Adresse ein Produkt gekauft hat, das nachweislich alle Vorgaben des TÜV erfüllt hat.
Geprüft
„In diesem Falle hätten wir jetzt nichts weiter machen müssen als das Protokoll der Näh-Daten aus unseren chinesischen Computern herauszuholen.
Da steht dann drin, dass an dem und dem Tag, zu welcher Zeit und an welcher Maschine diese computerkontrollierte einwandfreie Naht genäht wurde, die von dem Punkt A zum Punkt B – also einmal im Kreis herum – völlig identisch ist mit einer vom TÜV freigegebenen Vergleichsvariante.
Und damit ist Herr Schwarzmaler dann so abgesichert, dass er sich ab sofort auch gerne wieder Weißmaler nennen könnte.
Amerika
Herr Diekmann hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht und schwieg auch jetzt noch, als Thomas seine Erklärungen beendet hatte.
„Wenn Sie“ – fragte er dann Thomas – „sich schon so einen in meinen Augen irrsinnigen und überproportionalen Aufwand leisten, um ihr Produkt in dieser aufwendigen Form abzusichern, dann bitte sagen Sie mir jetzt noch zum Schluss, wo es noch eventuelle Knackpunkte oder Möglichkeiten gibt, wo also unser Kunde trotz allem nicht völlig im abgesicherten grünen Bereich liegt.
Thomas erhob sich, streifte den Lammfell-Bezug wieder von seiner Stuhllehne und rollte ihn ein.
„Die Antwort will ich ihm gerne geben, sehr verehrter Herr Diekmann.
„Es gibt in diesem System keine Schwachstellen mehr.
Wir haben alles durchdacht und unser Ergebnis ist zwar ein zugegebenermaßen sehr komplexer, kostenaufwendiger und für den Laien unverständlicher Produktionsprozess – aber ich bin sicher, selbst in Amerika mit den dortigen extremen Kundenschutzgesetzen wird man mein System problemlos und mit anerkennendem Kopfnicken durchwinken.
Da musste Herr Diekmann wieder etwas lächeln, denn Thomas würde nie zuerst die gesamte Problematik auf den Tisch legen und hinterher seine Lösung aller Probleme präsentieren, wenn er nicht wirklich absolut sicher wäre, dass das System funktioniert.
Die Aktion
Nachdem im Oktober die große Herbst-Aktion bei AMI beendet war, erhielt das Hamburger Büro im Laufe der nächsten Wochen und Monate um die 30.000 Antwortkarten.
Thomas und Herr Diekmann hatten am Schluss ihres Gesprächs noch etwas gewettet, wie viel Prozent der Käufer die beigefügte Registrierkarte wirklich zurückschicken würden, auch wenn es für den Kunden portofrei war.
Herr Diekmann meinte 10 Prozent, Thomas bei maximal 20 Prozent und irgendwo in der Mitte lag dann später die Wirklichkeit.
Fünf Jahre
Im zweiten Jahr hatte sich die Anschaffung der sehr teuren YUKI-Spezialmaschinen schon amortisiert.
Herr Diekmann akzeptierte einen kleinen Preisaufschlag für das neue, sichere Seitenairbagsystem und Thomas konnte, nachdem er 5 Jahre lang das alte Universalsystem für AMI hergestellt hatte, dann in die Geschichte eingehen als derjenige, der in den nächsten fünf Jahren ein narrensicheres Produkt lieferte, das TÜV geprüft war.
Und dass damit der deutsche Verbraucher irgendwo zwischen Bibel und Lebensversicherung eingeordnet wurde.
Achtes Buch
Kalt
Das leichte Bauernfrühstück, für welches dieses Café berühmt ist, war kalt geworden.
Das leichte Dessert probierte er nur mit einem kleinen Gabel-Biss, danach wurde diese hübsche Schale genauso in gepflegte Tischdekoration umfunktioniert wie auch die halbleere Mokkatasse, die er zwischendurch bestellt und nicht ausgetrunken hatte.
Die halbe Stunde, die Thomas am Anfang ihres Treffens als voraussichtliche Zeit angab, die er brauchen würde, um einiges kurz zu erklären – aus diesen 30 Minuten waren inzwischen mehr als 2 Stunden vergangen.
Und es schien, als ob Thomas immer noch nicht ganz zu Ende erzählt hatte.
Termine
Herr Bartram hatte in weiser Voraussicht bereits gestern die beiden folgenden Termine abgesagt, die für diesen Nachmittag noch in seinem Kalender eingetragen waren.
Er kannte Thomas schon so lange und er war mit all seiner Erfahrung in der Lage, sicher zu beurteilen, ob das, was ein Kunde besprechen wollte, wichtig war oder nicht.
Bei Thomas war er sich sicher, dass es sich um etwas handeln würde, was seine ganze Aufmerksamkeit verlangen würde. Deshalb konzentrierte er sich jetzt schon über 2 Stunden auf all das, was Thomas ihm heute erzählte.
Leer
Nachdem Thomas seinem langjährigen Freund und Bankberater alles über den glücklichen Ausgang der Geschichte von AMI und Seitenairbags erzählt hatte, machte er eine längere Pause.
Herr Bartram versuchte gar nicht erst, das Gespräch in irgendeiner Form jetzt von seiner Seite aus zu führen. Er schwieg mit Thomas und er hatte damit meistens Recht.
Thomas blickte durch die große Scheibe auf das bunte, sommerliche Treiben auf der Alster. Dann wechselte er die Blickrichtung und sah seinen Gegenüber direkt ins Gesicht.
„Irgendwie bin ich jetzt richtig leer“, begann er mehr oder weniger zu sich selbst sprechend. „Was für ein Wahnsinn, was für ein Aufwand, was für eine Verschwendung von Energie, Gedanken, Geld und Mühe – für nichts und wieder nichts.
Wir alle hätten das Ganze, was ich Ihnen jetzt seit mehr als einer Stunde erzählt habe, mit einem einzigen Satz erledigen und beenden können.
Potemkin
„Das war der Satz meines Freundes Arthur in Belgien, der ganz nüchtern feststellte, dass sein Airbag immer rauskommt – und damit wäre die ganze Sache erledigt.
Aber nein, wir mussten hier eine so gewaltige Geschichte erfinden, durchführen und erklären – nur um uns danach in verschiedenen Kontinenten daran abzuarbeiten.
Irgendwie bin ich jetzt auf der einen Seite etwas stolz, dass ich das Ganze geschafft habe. Auf der anderen Seite ist es für mich aber auch gleichzeitig eine Ressourcenverschwendung der dritten Art.
„Wissen Sie, Herr Bartram“ – und damit wandte er sich jetzt direkt an seinen Gegenüber – „ich denke, in all dieser Zeit hätte man wesentlich Besseres mehr und wesentlich Sinnvolleres machen können.
Ich will ihm nur zwei Sachen hierzu noch sagen:
Unter den inzwischen weit über 100.000 Postkarten, die wir im Laufe der Jahre bekommen haben, waren nur zwei oder drei, die einfach gefragt hatten: „Warum?“
Sie wollten den Hintergrund wissen.
Alle anderen haben treu und brav ihre Daten aufgeschrieben und auf das deutsche Sicherheits- und Obrigkeitssystem vertraut.
Und wissen Sie, wie viele Male es zu irgendeinem Unfall gekommen ist, bei dem eine Versicherung geklagt hatte und wir die korrekte Produktion nachweisen sollten?
Nicht ein einziges Mal.
Ich denke, dass man das Ganze, was sich hier so viele Menschen ausgedacht, umgesetzt und durchgeführt haben, mit einem einzigen Wort bezeichnen sollte – ein potemkinsches Dorf.
Wir beide kennen diesen Begriff und würden ihn wahrscheinlich auch als Titel einsetzen, sollte einer darüber irgendwann mal einen Bericht schreiben.
Burleske
„Apropos Titel“, fuhr Thomas fort, „ich hatte mir natürlich auch Gedanken gemacht, wie ich Sie in diese ganze Geschichte einführen kann, ohne dass es von vornherein stumpfsinnig und langweilig wird.
Ich hatte mir deswegen erlaubt, Ihnen ganz am Anfang eine dort völlig aus dem Zusammenhang gerissene kleine burleske Geschichte zu erzählen.
Sie erinnern sich an den Chefarzt, der im Rahmen einer großen Krankenhausoperation regelmäßig nichts weiter tut als zum Schluss seinem ihm anvertrauten Schützling ganz profan die Haare zu schneiden, und das noch mit seinem schärfsten Skalpell.
Wenn Sie sich jetzt vielleicht noch einen Kaffee bestellen und diese Geschichte reflektieren lassen, dann werden Sie sehen, dass genau wie in der Krankenhausburleske auch in meiner Seiten-Airbag-Story alles von allen Beteiligten unternommen wurde, um eine ganz einfache Tatsache so gut und so tief zu verschleiern wie nur irgend möglich.
Der Leiter der Krankenhauschirurgie könnte ganz einfach durch den kleinen Herren-Friseur an der Ecke hier unten ersetzt werden.
Und der gesamte Mitarbeiterstab von TÜV, Gutachter, Nähmaschinenherstellern, Postkarten-Aufschreibern und Versicherung-Schwarzsehern – all das könnte durch die einfache Tatsache ersetzt werden, dass der Seitenairbag immer gewinnt.
Aber es ist wie es ist – und ehrlich gesagt fühle ich mich jetzt auch etwas besser.
Damit schloss Thomas endgültig dieses Kapitel und er bat Herrn Bartram in Ruhe seinen Kaffee auszutrinken.
Nachwuchs
Thomas erwartete nicht von Herrn Bartram, dass er sich in irgendeiner Form zu den geschilderten Sachverhalten äußern würde.
Es genügte Thomas, wenn Herr Bartram jetzt wusste, dass er voll ins Vertrauen einbezogen wurde – und das wiederum war eine der wichtigsten Voraussetzungen für das, was Thomas noch im Hinterkopf hatte.
Daran hatte er seit Wochen und Monaten gearbeitet, rumgefeilt und es jetzt endlich in eine Form gebracht, die man verstehen und besprechen konnte.
„Ich weiß“, schloss Thomas jetzt den großen Bogen dieses Nachmittags, „dass ihre reizende Frau hochschwanger ist und dass Sie selber, wie Sie mir beim letzten Gespräch mitgeteilt hatten, gerne bei der Geburt dabei sein wollen.
Ich möchte deswegen dieses Gespräch jetzt hier beenden, bevor Sie irgendeinen ganz wichtigen Anruf erhalten und wir uns dann Hals über Kopf trennen müssten.
Ich möchte aber trotzdem die Gelegenheit nutzen, um mich zu einem weiteren Gespräch bei Ihnen anzumelden. Das kann auch gerne in Ihrem schönen Büro sein, wir brauchen hier nicht zu Dauergästen avancieren.
Herr Bartram schluckte.
Es blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als dieser freundlichen Selbsteinladung, die Thomas gerade ausgesprochen hatte, Folge zu leisten.
„Gut“, erhob er sich, „ich werde sehen, was ich machen kann, und ich denke, dass wir in Kürze dann das nächste von Ihnen gewünschte Gespräch haben werden.“
Dann blickte er auf sein inzwischen sehr kaltes Bauernfrühstück, auf das fast noch komplette Dessert und schließlich in das jetzt leicht grinsende aber trotzdem dankbare Gesicht von Thomas.
Dann fuhr er direkt in das Marien-Krankenhaus, wo seine Frau sich bereits aufhielt.
Dachgeschoss
Eine Woche später gratulierte Thomas seinem Freund Herrn Bartram zur glücklichen Geburt ihrer kleinen Tochter.
Eine weitere Woche später war das nächste Gespräch dieser beiden so unterschiedlichen Charaktere.
Herr Bartram hatte den Wunsch seines Assistenten abgeschlagen, der gerne bei der jetzt angesetzten Besprechung mit Thomas dabei sein wollte. Begründen konnte er dies mit einer Bemerkung, die sogar stimmen hätte können.
Er meinte, er sei der Einzige in der ganzen Bank, der die wirklichen Vermögensverhältnisse von Thomas, seiner Firma und seiner Familie ziemlich genau kennt. Falls es während des Gesprächs auf einen dieser Punkte kommen sollte, wäre es besser, wenn es hier keine weiteren Zeugen geben würde.
Und zwar besser sowohl für Thomas als auch für die Bank.
Mit diesen etwas sehr wolkigen Erklärungen blockte er die Anwesenheit seines jungen Assistenten erfolgreich ab und reservierte das kleine Besprechungszimmer im obersten Stockwerk der Bank.
Es gab dort zwei relativ kleine Räume, beide schon leicht unter der Dachschräge.
Cöllns Austernstuben
Diese Besprechungszimmer wurden von der Leitung der Bank gebaut, als das ganz in der Nähe befindliche Hamburger Traditions-Restaurant Cöllns Austernstuben geschlossen wurde.
Dieses Restaurant war nicht nur seit über 200 Jahren das beste deutsche Austern-Restaurant, sondern hatte auch noch etwas anderes, was es in dieser Form sonst nirgendwo mehr gab.
Man buchte nicht wie in jedem anderen Restaurant einen Tisch, sondern hier bei Cöllns Austernstuben einen Raum.
Das Restaurant bestand aus einer Handvoll kleinerer und größerer Räume, alle mit einer schweren Eichentür vor jedem Raum und alle mit einer kleinen elektrischen Klingel auf dem Tisch.
Diese Klingel hatte zwei Knöpfe.
Mit dem einen Knopf bat man darum, dass die Bedienung ins Zimmer kommen möge, um die Bestellung oder Nachbestellungen aufzunehmen.
Mit dem Drücken des anderen Knopfes leuchtete draußen vor der Eingangstür kurz ein kleines grünes Licht auf, und man beantwortete somit das diskrete Klopfen, mit dem einer der fünf Kellner, die seit ungezählten Jahren dort arbeiteten, und um Einlass baten, um Essen oder Getränke auf den Tisch zu stellen.
Ansonsten war man in diesem Restaurant-Zimmer die gesamte Zeit komplett unter sich.
Es kursierten in der Hamburger Gesellschaft unzählige Geschichten, wer was wem wann hier alles erzählt hatte.
Rudolf Augstein soll sich den kompletten neuen Roman des ansonsten extrem scheuen Patrick Süsskind während ungezählter Begegnungen im Cölln angehört haben, den ihm der Autor Folge für Folge vorgelesen haben soll.
Die Liste der Damen der oberen Hamburger Gesellschaft, die immer montags zu später Stunde in kleinen Gruppen ins Café Keese auf die Reeperbahn gingen, um sich dort den Gepflogenheiten dieses Cafés entsprechend ihre Tänzer auszusuchen – diese Liste kursierte in den Separees von Cölln genauso wie die Umsturzpläne von Hubert Fichte, wenn er mal nicht gerade in der Palette war – oder wie die letzten Zettel, die Arno Schmidt für seine gut 11 Kilo schwere Ausgabe von „Zettels Traum“ erschuf.
Gestrichen
Thomas hatte seinem Freund Herrn Bartram bereits gleich am Anfang die erfreuliche Mitteilung gemacht, dass er von seiner Seite aus heute wirklich nur recht wenig Zeit benötigen würde, um seinem Gegenüber das zu erzählen, was er sich für dieses Gespräch überlegt hatte.
Herrn Bartram war nach dieser Einleitung klar, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen frommen Wunsch seines Gegenübers handeln würde.
Er ging davon aus, dass die Gedanken und der Redefluss von Thomas wie immer dem Zuhörer einiges abverlangen würden.
„Ich will versuchen“, fing Thomas so forsch und trocken an, wie es ihm möglich war, „es so zu machen, wie es die jungen Leute in Ihrer Bank gelernt haben und wie es wahrscheinlich die Vorgaben auf ihren Tablets und Computern gar nicht anders ermöglichen.
Alles kurz, knapp und präzise.
Also fassen wir zusammen:
– Der Zeitraum von vor 1975, also 10 Jahre Südamerika mit allem, was passierte – gestrichen.
– Die ersten Jahre in China – gestrichen.
– Die Anfänge einer Produktion für einige deutsche Kunden – gestrichen.
– die ersten fünf Jahre erfolgreiche Universalproduktion für AMI – gestrichen.
– Die folgenden Jahre jeweils Jahresproduktion für AMI mit Seitenairbag- gestrichen.
Thomas macht eine Pause und war selbst verwundert, wie kurz und prägnant man tatsächlich Lebensabschnitte schildern kann, wenn sie nicht zum Thema gehören sollten.
„Die letzten 2 bis 3 Jahre mit der exotischen Konstellation einer Lieferanten-Gruppe in Nordkorea mit Transport über China nach Berlin und Veredelung in der Tschechei, dann die Produktion unter griechischer Leitung in Vietnam und das alles für den Endverbraucher in Sibirien – über dieses Kapitel hatte ich Ihnen bereits vor längerer Zeit ausführlich berichtet.
Was sich dabei so exotisch anhörte, entpuppte sich nach und nach als ganz normaler Businessplan, für den man vielleicht etwas über den normalen Tellerrand hinaus schauen musste, um ihn zu realisieren.
Aber auch das hat sich inzwischen so weit normalisiert, dass ich es ebenfalls jetzt in die Rubrik „gestrichen“ einfügen möchte.
Und damit bin ich auch faktisch schon am Ende.
Unentschieden
Thomas macht eine Kunstpause und Herr Bartram wusste in diesem Moment wirklich nicht genau, ob Thomas tatsächlich mit seinen Ausführungen am Ende war – oder ob jetzt noch irgendein Gedanke kommen würde, auf den Thomas mit dieser Einführung die ganze Zeit hingearbeitet haben könnte.
Also schwieg er.
Thomas ergriff die Kaffeetasse, die vor ihm stand, genoss das herrliche Aroma und wickelte eine der kleinen Schweizer Pralinen aus, die in einer kleinen, silbernen Schale vor ihm stand.
Dann trank er, genoss die Schokolade und schwieg weiter.
Herr Bartram kannte Thomas lange genug, um auch mal die Sprachgewohnheiten von Thomas etwas zu imitieren.
„Wir können hier natürlich so lange uns freundlich schweigend gegenübersitzen, bis meine Frau wieder zu einer kurzfristigen Entbindung ins Krankenhaus muss. Aber vielleicht können wir das Ganze ja auch noch etwas abkürzen.
Ich bin sicher, dass Sie mir, mein lieber Thomas, noch irgendeine kleine Sache erzählen wollen und ich bitte Sie, wenn möglich, damit anzufangen.
Kaffee ist genügend da, draußen ist es auch noch hell und so warte ich wirklich einigermaßen gespannt auf das, was jetzt kommt.
Denn dass Sie etwas vorhaben, das wissen nicht nur Sie, sondern das wissen wir beide.
Damit war der gepflegte Kampf um den Gewinner der Stille entschieden, das Ergebnis war ein gerechtes Unentschieden.
Gegenfrage
„Was hätten sie an meiner Stelle jetzt gemacht“, fragte Thomas.
Er wusste, dass dies eine recht plumpe und an sich dem Niveau und der Situation nicht angemessene Einleitung zu einem neuen Gesprächspunkt war. Aber er wusste auch, dass sein Gegenüber ihm das nicht übel nehmen würde.
„Ich hab zwar nichts Besseres gelernt und wäre nie in meinem Leben Bankberater geworden – oder ein Mensch in einem Beruf, der eine ähnliche Vertrauensstellung beinhaltet.
Ich muss mich also jetzt irgendwann entscheiden, ob ich mit dem weitermache, was ich inzwischen gelernt habe und wo ich mich auch einigermaßen erfolgreich durchsetzen konnte.
Oder ich kann jetzt auch mit allem aufhören und mich zwischen deutschen Klassikern und der Gründung einer Briefmarkensammlung entscheiden.
„Und zu was haben Sie sich entschieden?“ – fragte Herr Bartram, um Thomas jetzt ein bisschen in die Enge zu treiben.
Halbbildung
„Wissen Sie“, antwortete Thomas diesmal mit einer Mischung aus Lässigkeit und Traurigkeit in der Stimme, „ich habe in meinem Leben sehr viele Menschen kennengelernt.
Ich kann mit Fug und Recht sagen: Da waren die unterschiedlichsten Charaktere dabei.
Richtig positiv war ich überrascht über die Zusammenarbeit in den verschiedenen chinesischen Fabriken. Alle Menschen dort – ich möchte ausdrücklich betonen, alle – hatten im Grunde genommen nur ein Ziel. Und das war mit einem einfachen Satz gesagt: Sie wollten kooperieren und mir helfen.
Das hat geklappt und sowohl meine chinesischen Freunde als auch ich selber sind darüber froh und stolz.
Ich sehe aber in China keine weitere Verwendungsmöglichkeit für mich und meine Arbeit. Die jungen Leute dort, die inzwischen mehr oder weniger die Führung übernommen haben, treffen nur noch jeden Tag die Entscheidung, mit welchem ihrer drei oder vier Handys sie gerade telefonieren oder im Internet surfen sollen.
Fachwissen, verbunden oder ergänzt mit einer gepflegten Halbbildung, so wie ich es bei meinen Geschäftspartnern und bei mir als Voraussetzung angesehen hatte, gibt es immer weniger.
Deswegen habe ich China innerlich irgendwie abgeschrieben.
Veränderung
„Außerdem haben sich die Autos in der ganzen Welt in den letzten 20 Jahren so stark verändert, wie es vorher nicht abzusehen war.
Das wichtigste im Innenbereich des Autos ist Platz.
Genauso wie im Flugzeug.
Gab es früher im Flieger auch in der Economy noch einigermaßen gut gepolsterte Sitze, so sind es heute nur noch ganz dünne Metallkonstruktionen – mit einer kleinen und meist sehr harten Auflage, über die sich nur noch der Bund deutscher Orthopäden freuen kann.
Und beim Auto ist es genau das Gleiche.
Die Sitze werden immer dünner, schalenförmiger und für meine – um es mal mit den Worten meines größten Kunden zu sagen – Taxiproduktion ist das alles nichts mehr.“
Herr Bartram hatte aufmerksam zugehört.
Er wusste, dass nach so einer Einleitung sein Gegenüber jetzt in Kürze zum eigentlichen Thema kommen würde.
„Wissen Sie, mein lieber Herr Bartram, natürlich ist der Mensch ein Gewohnheitstier.
Und das, was gerade erst vor Kurzem passierte, nimmt naturgemäß den größten Teil der Erinnerung ein.
Das ist in meinem Fall die exotische Vorbereitung und Durchführung dessen, was nötig war, um in Sibirien Pelzmäntel zu verkaufen.
Unruhe
„Auch hier war es am Anfang eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die mich in bewundernswerter Weise und mit großer Geduld und Ausdauer unterstützt haben.
Ich habe bei meinen letzten Besuchen in Nordkorea gesehen, wie diese kleine Gruppe von Menschen – oder vielleicht jetzt schon besser gesagt Freunden – stiller geworden ist. Auch ihnen ist irgendwie klar, dass sich das Rad, das dort von uns in Gang gebracht wurde, nicht ewig wird drehen können.
Es dreht sich zwar noch, aber „– und hier machte er eine kleine Pause, um die richtige Warte zu finden –“ ich denke, bei den Uhrmachern heißt es Unruhe, dieser wichtigste Teil einer mechanischen Uhr ist nach meinem Gefühl langsamer geworden.
Und ich weiß leider nicht, wie man so eine Unruhe wieder aufziehen kann.
Meine Freunde in Nordkorea sind viel zu höflich, um mir ihre Sorgen und vielleicht sogar Ängste – für sich persönlich und für ihre Firma – zu schildern.
Sie haben mit mir zusammen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, wie es ihn dort nur ganz selten gegeben hat.
Und ich bin sicher, sie hoffen alle, dass ich jetzt irgendwann noch mal mit einer neuen Idee komme, die man aufbauen und entwickeln kann.
Aufbruch
„Und jetzt habe ich, nach wirklich langem Nachdenken und Herumspielen mit den verschiedensten und extremsten Möglichkeiten, etwas gefunden, was mir selber auch noch einmal Spaß machen würde.
Sie kennen mich, ich kann nur das realisieren, was mir persönlich wirklich Spaß macht. Ich bin in meinem Leben noch nicht ein einziges Mal morgens aufgewacht und habe gestöhnt, dass ich wieder zur Arbeit gehen muss.
Nur mit dieser Mentalität glaube ich, kann man etwas schaffen.
Jetzt wusste Herr Bartram in etwa, um was es gehen würde.
Thomas war erkennbar müde von all dem, was er in den letzten 15 Jahren geschaffen und gestaltet hatte.
Er wollte sich noch einmal beweisen – und das wohl in einer Art und Weise, die für ihn typisch war.
Herr Bartram hatte keine Ahnung, was das sein könnte.
Aber er wusste, dass es etwas sein würde, was es in dieser Art wohl noch nie gegeben hat.
Und in dieser Gewissheit nahm auch er jetzt einen Schluck Kaffee, suchte sich vom kleinen Silbertablett ebenfalls eine exquisite Praline aus und sah lange aus dem Fenster, wo man in der Ferne die weißen Segel der kleinen Jollen auf der Außenalster erkennen konnte.
Zusammenfassung
Thomas hatte wirklich bisher nur knapp 30 Minuten gebraucht, um seine kurze Zusammenfassung zu geben und einige Gedanken zu formulieren zu dem Thema, dass er im Moment offensichtlich zu nichts mehr so richtig große Lust gehabt hatte.
Dass Thomas jetzt in diesem Moment schon groß und breit über seine neuen Pläne berichten würde, davon ging Herr Bartram nicht aus.
Limit
Das war auch nicht nötig, denn was immer Thomas ihm vorschlagen würde, es wäre mit Sicherheit eine Konstruktion, die er in seiner Funktion als Bankberater bei keiner Abteilungsleiter-Konferenz in seiner Bank hätte erklären können – geschweige denn eine Zustimmung für damit im Zusammenhang stehende neue Kredite.
Deswegen entschloss sich Herr Bartram jetzt etwas Konkretes zu sagen.
„Mein lieber Thomas, mir ist völlig klar, dass Sie zwar ein paar neue Sachen im Kopf haben. Und ich gehe ferner davon aus, dass diese Dinge wahrscheinlich auch schon einigermaßen ausgereift sind, aber dass Sie mir hier und heute darüber noch nicht viel erklären können, ohne dass danach einer von uns – oder vielleicht sogar wir beide – in Schwierigkeiten kommen könnten.
Deswegen hier nur die pauschale Antwort, die sie wahrscheinlich erwarten und auf die sie aufbauen können:
Solange Sie aktiv Ihre Firma leiten, haben sie von mir ein Kreditvolumen von 1,5 Millionen Euro. Davon können Sie 500.000 € abrufen für Verwendungszwecke, die sie ganz alleine bestimmen können.
Sollten es Investitionen sein, die höher als diese halbe Million liegen, bin ich auch bereit bis zum Limit von 1,5 Millionen Euro dies in unseren entsprechenden Gremien mitzuentscheiden, nur bräuchte ich in so einem Fall eine Art Plan, wie es heute ja zum Leidwesen vieler älterer Kunden und auch Bankberater obligatorisch ist.
Damit war für Herrn Bartram dieser Punkt geklärt und Thomas dankte ihm mit der Bemerkung, dass er hoffe, das nächste Gespräch mit Herrn Bartram noch vor der nächsten Niederkunft seiner bezaubernden Gattin führen zu dürfen.
Neuntes Buch
Erschrocken
Alle tot?
Keine Überlebenden?
Über eine Milliarde?
Alle vier sprachen jetzt durcheinander – und das entsprach überhaupt nicht ihrer Mentalität, ihrer Erziehung und all dem, was sie in ihrem Leben an Disziplin und Respekt gelernt hatten.
Sie waren von dem, was sie eben gehört hatten, so erschrocken, dass jeder seine eigenen Fragen und Gedanken heraussprudelte.
Sora, Yang, Kwong und Minho saßen um den alten und wie immer etwas wackeligen Konferenztisch herum, der in der Mitte des Besucherzimmers in der alten Fabrik in Pjöngjang stand.
Sie hatten Thomas aufmerksam zugehört und waren über seine Schlussfolgerungen wirklich erschrocken.
„Wenn alle Chinesen“, begann Thomas etwas theatralisch, „ab morgen nur noch Lederschuhe tragen würden, dann müssten dafür sämtliche Rinder dieser Welt geschlachtet werden. Dann würde es zwar genügend Lederschuhe für die aktuell bereits weit über eine Milliarde Chinesen geben.
Aber keine Milch mehr, kein Fleisch und nichts mehr von all den Sachen, welche die Menschen ansonsten von ihren Kühen, Ochsen, Rindern und Kälbern benötigen und herstellen.“
Thomas hatte diesen Satz vor vielen Jahren einmal in Brasilien gehört, als er in einer dortigen sehr großen Leder-Gerberei war, um Rinderfelle für Marokko, Tunesien, Algerien und die anderen Staaten Nordafrikas zu übernehmen und sie danach an seinen französischen Geschäftspartner Ali abzuliefern.
Ob diese Aussage des deutschstämmigen Direktors in der Sache richtig war oder nicht, das konnte Thomas nicht beurteilen.
Aber der Satz war so klar und eindeutig definiert, dass Thomas es einfach glaubte. Außerdem waren deutschstämmige Fabrikdirektoren in Süd-Brasilien für ihre ruhige und korrekte Arbeitsweise bekannt.
Das Thema
Thomas war vor einigen Tagen zu seinem halbjährigen Besuch in Nordkorea eingetroffen. Er hatte die Übernahme der auf sie wartenden Ware zusammen mit seinem Freund Jurek ebenfalls wie immer recht problemlos durchführen können und da es noch 2 Tage waren, bis das einmal wöchentlich zwischen Pjöngjang und Peking verkehrende kleine chinesische Flugzeug ihn zurück nach China bringen würde, hatte er jetzt noch etwas Zeit.
Und er beschloss, diese restlichen 2 Tage gut auszunutzen.
Er wollte seine vier nordkoreanischen Freunde langsam an das Thema heranführen, an dem er die letzten Wochen und Monate gearbeitet hatte.
Jetzt, direkt am Ende der Übernahme, saßen sie, etwas erschöpft von der körperlichen Arbeit des Tages, in der Fabrik zusammen und warteten auf den obligatorischen kleinen Teller mit leicht gewürztem Kohl.
Danach würde er nicht mehr in die Fabrik zurückkommen.
Sein Plan war, die nächsten Gespräche in seinem Hotel zu führen und zum Schluss eventuell noch in dem Büro der staatlichen Im- und Exportgesellschaft, die auf dem Papier immer noch sein offizieller Vertragspartner war.
Drastisch
Er wusste, dass man am Anfang einer Unterhaltung das Interesse am einfachsten gewinnt, wenn man drastisch war.
Und zwar so drastisch, dass man seinen Gegenüber damit automatisch auf die Diskussionsebene lenkt, in der man selber die kommenden Verhandlungen führen möchte.
Er hatte auch dies von seinem leider inzwischen verstorbenen französischen Freund und Mentor Boris gelernt.
Je drastischer ein Gespräch angefangen wird, desto einfacher ist es für den Diskussionsleiter, das aufgeworfene Thema als Grundlage aller weiteren Überlegungen fortzuführen.
„Diese Zahlen“, meinte Thomas – und damit bezog er sich auf die Anzahl der Schuhe und Rinder, „stammen von vor ungefähr 20 Jahren, als ich sie zum ersten Mal von einem Experten gehört hatte – und ich gehe davon aus, dass sie auch heute noch gültig sind.
Aber um euch vier jetzt gleich zu beruhigen: Ich habe weder vor, alle Chinesen mit Lederschuhen auszustatten noch alle Rinder dieser Welt abzuschaffen.
Schwerpunkte
Ich wollte euch mit diesem Beispiel nur zeigen, dass es auf der Welt einige Schwerpunkte gibt, über die man sich normalerweise überhaupt keine Gedanken macht.
Aber wenn man solche Schwerpunkt-Themen kennt, dann ist es nicht verkehrt, sich damit zu beschäftigen. Und sei es nur, um seine Gesprächspartner mit etwas zu konfrontieren, was diese vorher so noch nicht bedacht hatten.
Er machte eine kleine Pause, um sicher zu sein, dass Thora, der jüngste dieser vier Nordkoreaner, seine wie immer in Englisch gesprochenen Formulierungen verstanden und entsprechend an seine drei anderen nordkoreanischen Kollegen übersetzt hatte.
„Einige der anderen Themen, die man auf dieser Welt oftmals nicht so ernst nimmt, sind zum Beispiel die Energie.
Das Erdöl wird in ungefähr 20 bis 30 Jahren restlos aus der Erde gezogen sein und wie und womit man dann auf dieser Welt alles das, was mit Energie zu tun hat, ersetzen wird – das weiß heute niemand.
Oder nehmen wir Getreide.
Brot ist eines der wenigen Nahrungsmittel, welches praktisch überall auf der Welt in irgendeiner Form verzehrt wird.
Das Getreide ist aber heute schon so knapp, dass nur mit sehr großen Mengen an Kunstdünger genügend Getreide angebaut werden kann.
Dieser künstliche Dünger ist teuer, in größeren Mengen giftig und stellt ein ganz großes Problem dar.
Oder nehmen wir schließlich Wasser – etwas, was es Jahrtausende im Überfluss gegeben hat.
Heute warnt die Wissenschaft, dass es in 30 oder 40 Jahren Kriege um die letzten reinen Wasserreserven dieser Welt geben wird.
Das Beispiel mit den Lederschuhen und der damit verbundenen Ausrottung der Rinderbestände auf dieser Welt ist auch nur ein Beispiel von mir, um darüber nachzudenken, ob es wirklich ein Fortschritt für uns alle sein würde, wenn morgen jeder in China komplett in Lederschuhen laufen würde.
Außerdem habe ich dieses Beispiel gewählt, um euch auf das vorzubereiten, was ich mir in der letzten Zeit überlegt habe.
Vertragsende
Wir alle wissen, dass diese Übernahmen hier in der Fabrik irgendwann vorbei sein werden. Der Vertrag wird in einem Jahr auslaufen und ob es dann wieder einen neuen Fünfjahresvertrag gibt oder wie immer man sich dann entscheidet – das weiß niemand von uns.
Ich bin mein ganzes Leben lang jemand gewesen, der gerne selber entscheidet, wie es in der absehbaren Zukunft weitergeht.
Sei es mit mir persönlich, sei es mit der Firma, sei es mit den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite und die genauso von meiner Arbeit abhängen wie ich von ihrer.
Damit leitete Thomas das Gespräch jetzt schon etwas direkter auf das hin, was das Ziel seiner vielen Überlegungen der letzten Wochen geworden war.
Isoliert
„Ihr lebt hier in einem Land, das sich total und hermetisch abgeschlossen hat.
Nur wirklich ganz wenige eurer Landsleute sind jemals im Ausland gewesen und, so wie es aussieht, wird sich dies auch in absehbarer Zukunft kaum ändern.
Meine persönliche Meinung ist – und das meine ich wirklich ernst und ich weiß, dass es von der Führung eures Landes nicht gern gehört wird – also nach meiner persönlichen Meinung kann man in diesem Jahrhundert kein Land mehr so führen, dass es völlig autark und isoliert existieren und überleben kann.
Wir haben in verschiedenen Teilen der Welt erlebt, wozu dies führt.
In Kambodscha konnte der Steinzeitkommunismus von Pol Plot nicht überleben.
In Kuba sind die Vorstellungen von Fidel Castro, dass man auf einer Insel völlig autark überleben kann, zusammengebrochen – und man hängt schon seit Jahren am Tropf der sowjetischen Hilfen.
Im Südamerika sind alle Militärdiktaturen in Brasilien, Argentinien und zum Schluss jetzt auch in Chile daran gescheitert, dass man nicht mehr genügend Geld hatte, um das im Ausland kaufen zu können, was man für den Aufbau und Fortbestand des eigenen Landes benötigt.
Und schließlich gab es in Europa die wahnwitzigen Vorstellungen von Hitler und Stalin, die jeder für sich glaubten, dass ihr Land ganz alleine überleben wird.
In beiden Fällen wurde diese Ideologie dann noch verstärkt – und zwar dadurch, dass man andere Länder überfallen und ausgebeutet hatte.
Gegenteil
„Das Gegenteil dieser ganzen Entwicklung kann man in England sehen.
Das geografisch relativ kleine Inselreich hatte es im Lauf der letzten Jahrhunderte geschafft, sich überall auf der Welt an Regierungen zu beteiligen, sie teilweise mitzuführen – aber immer an der langen Leine.
Australien, Indien, Pakistan und das gesamte Commonwealth wurden immer von England aus verwaltet.
Es ging den Engländern in dieser Zeit besser als jemals zuvor – und mit so einer klugen Politik des „ein bisschen geben und viel nehmen“ hatte man Jahrhunderte lang die besten Erfahrungen gemacht.
Ich weiß nicht, ob ihr in der Schule überhaupt solche Themen gelernt habt – ich gehe einfach mal davon aus, dass einiges davon euch vier durchaus bekannt ist.
Bis morgen
„Und jetzt sollten wir unseren Tee austrinken und den Kohl genießen und morgen haben wir alle frei, weil unsere Arbeit hier in der Fabrik heute Mittag mit einem guten Ergebnis beendet werden konnte.
Ich würde mich freuen, wenn ihr morgen Vormittag zu mir ins Hotel kommen könnt, ich will versuchen euch dann etwas über meine Ideen zu erzählen.
Abends
Ob es an diesem Abend noch irgendwelche weiteren Konferenzen zwischen diesen vier Geschäftspartnern gab, das wusste Thomas nicht.
In China wäre so etwas durchaus denkbar gewesen, denn wenn die Chinesen eine Sache perfekt beherrschen, dann ist es die Vorbereitung auf Geschäftsgespräche.
Er wusste, dass man in China jeden Abend nach dem obligatorischen großen Essen noch im kleinen Kreis zusammen saß, um das zu besprechen und zu diskutieren, was man am nächsten Tag verhandeln wollte.
Im Hotel
„Ich möchte einfach dort weitermachen, wo wir gestern Nachmittag in der Fabrik aufgehört haben“, eröffnete Thomas das Gespräch, zu dem seine vier Freunde pünktlich am nächsten Morgen bei ihm in seiner kleinen Suite in dem großen und wie immer leeren Hotel erschienen waren.
Ich habe euch gestern bewusst von den wichtigen und großen Projekten erzählt, die auf dieser Welt auf uns alle warten.
Ich habe auch das Thema „Schuhe“ dabei erwähnt, und das nicht ohne Grund.
Wie ihr alle wisst, kaufen Jurek und ich hier bei euch die Häute und Felle der Hunde auf, die bei euch so gehalten werden wie bei uns die Rinder, Hühner und Schweine.
Aber es sind in unseren europäischen Augen immer noch Pelzfelle, und Pelz ist heutzutage ein absolut unwichtiges Produkt.
Das, was wir mit dem produzieren, was Jurek und ich hier übernehmen, ist also zum einen nicht wirklich nötig, und es ist abhängig von vielen anderen Faktoren, die wir zwar kennen müssen und kennen sollten – aber wie gesagt, das alles ist wirtschaftlich unwichtig.
Mörderisch
Und wenn wir diesen Gedanken uns noch etwas weiter überlegen, dann ergibt sich Folgendes:
Die Bekleidung der Menschen ist wichtig und hat, wenn man es vielleicht einmal mathematisch ausdrücken möchte, einen Faktor von 99 Prozent.
Pelze und einige andere Schmuckartikel machen dagegen nicht einmal 1% aus.
Das bedeutet, wir haben uns in all den Jahren mit etwas beschäftigt, was die Menschen zu weniger als einem Prozent benötigen – und was entsprechend keine besondere Beachtung verdient.
Jetzt aber habe ich Ideen für unsere gemeinsame wirtschaftliche Zukunft, die überhaupt nichts mehr mit dem einen Prozent zu tun haben, sondern die voll zu den 99 Prozent gehören.
Und ich sage euch – egal ob es sich dabei um Textilien, Leder, Baumwolle oder irgendetwas anderes handelt, was mit der menschlichen Bekleidung zu tun hat – überall dort ist der weltweite Konkurrenzkampf mörderisch.
Ich sage hier jetzt einfach mörderisch, weil mir im Moment kein anderes Wort einfällt, um diese Wichtigkeit so drastisch hervorzuheben, wie sie es verdient.
Versuchen
Ich habe mir vorgenommen, dass wir unseren nächsten gemeinsamen Kampf auf dem Gebiet der Lederwaren und der Schuhe versuchen zu gewinnen.
Ich möchte hier ausdrücklich betonen „versuchen“- denn ich weiß von vielen Menschen, die bei dem Versuch, sich von diesem großen internationalen Kuchen ein kleines Stückchen abzuschneiden, glorreich gescheitert sind.
Thomas merkte, wie auf der einen Seite das Interesse seiner vier Zuhörer stieg.
Auf der anderen Seite merkte er aber auch, wie sie jetzt etwas müde wurden, weil Thomas immer nur allgemein sprach und bis jetzt noch mit keinem einzigen Wort irgendetwas Konkretes erklärt hatte.
Thomas wusste das und sagte darum jetzt den für seine vier Freunde erlösenden Satz:
„Heute Nachmittag möchte ich euch mit den Einzelheiten meines Plans vertraut machen.“
Dann ging man zum gemeinsamen Kohl-Essen und Sora, Yang, Kwong und Ninho verließen danach das Hotel zu Fuß, ihr Büro war nicht weit entfernt.
Siesta
Thomas ging eine kurze Runde schwimmen, das Schwimmbad war noch genauso, wie er es vor vielen Jahren hier im Keller des Hotels vorgefunden hatte.
Er zollte seinem bereits etwas fortgeschrittenen Alter Tribut und legte nach dem Schwimmen eine längere Siesta ein, um sich danach auf das Gespräch am Nachmittag vorzubereiten.
Partner
„Ich habe euch heute Vormittag erklärt, warum ich der Meinung bin, dass man heutzutage in dieser Welt alleine nichts mehr unternehmen kann.
Man braucht einen Partner, wenn man überleben will. Aber diese Partner fallen nicht vom Himmel. Jeder Partner wird sich die andere Seite sehr genau ansehen und dann entscheiden, ob er mit ihm zusammen etwas unternehmen möchte oder nicht.
Im Klartext: Wer sich starke Partner suchen möchte, muss erst mal selber stark sein.
Wir hier sind sicherlich in einer gewissen Position der Stärke, aber leider nur innerhalb eures Landes. Außerhalb der Grenzen ist euer Land unbekannt – und bei den wenigen, die sich einmal mit Nordkorea beschäftigt haben, ist das Image auch mit Sicherheit nicht so, wie ihr es euch gerne wünschen würdet.
Daraus wiederum folgt die Tatsache „– und jetzt wurde seine Stimme etwas leiser und eindringlicher –“ dass unsere erste Aufgabe sein muss, uns selber wesentlich größer zu machen. Wir müssen uns der Welt darstellen in einer Form, wie es heute normal und international üblich ist.
Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können wir uns Partner suchen für das Projekt, das wir gemeinsam durchführen wollen.
Präsenz
„Wie aber können wir uns jetzt größer darstellen respektive in einer größeren und stärkeren Art und Weise auftreten?
Die Antwort ist an sich ganz einfach: Wir müssen an verschiedenen Punkten der Welt Präsenz zeigen.
Das hört sich einfach an, ist aber in unserer gemeinsamen jetzigen Situation sicherlich bereits eine erste große Aufgabe. Ich will deswegen zu diesem Punkt klar sagen, was in meinem Plan als Nächstes vorgesehen ist:
Wir müssen Präsenz zeigen – und zwar in verschiedenen Ländern und Städten dieser Welt. Wir machen Folgendes „, und hier überlegte er ein wenig, um dann an seinen Fingern abzuzählen:
„Wir brauchen eine Niederlassung in China, zuerst in Peking dann vielleicht an einem anderen Ort, den ich euch später sagen werde.
Dann eine Niederlassung in Deutschland. Dort würde es im Moment reichen, dies in der DDR durchzuführen, denn eure Botschaft befindet sich in der DDR.
Und dann in Australien.
Er machte eine längere Pause, denn Thora kam kaum mit dem Übersetzen hinterher.
„Die nächste Stufe besteht dann darin, dass wir uns in der Branche bekannt machen. Das macht man heutzutage über die Presse, über persönliche Gespräche und am einfachsten auf Fachausstellungen – und hier wieder auf den großen internationalen Ausstellungen.
Auf dem Gebiet, wo ich denke, dass wir zuerst aktiv werden, wäre das in unserem Fall Paris. Und zwar dort auf der internationalen Pariser Ledermesse.
Diese Pariser Messe ist die größte Leder-Messe der Welt und sie findet jedes Jahr im Oktober statt.
Erst wenn wir dies alles einigermaßen geschafft haben, können wir uns als dritten Schritt damit beschäftigen, was wir überhaupt produzieren wollen, wie wir es machen und wohin wir liefern wollen.
Damit beendete er diese kleine Ansprache und wartete wieder, bis Thora mit ihren Übersetzungen fertig war.
Fragen
Jeder der vier hatte jetzt Fragen – und Thomas versuchte, sie so gut es ging zu beantworten.
Nach einer guten weiteren Stunde waren viele Fragen gestellt.
Die vier hatten alles vom Inhalt her verstanden, aber natürlich konnte im jetzigen Stadium keine der vielen Fragen bereits konkret beantwortet werden.
Thomas merkte, dass allein die Gründung von Filialen irgendwo auf der Welt und der Besuch irgendeiner Messe für seine Freunde schon sehr abstrakt war.
Deswegen blickte er in sein kleines Notizbuch, blätterte einige Seiten zurück und tat so, als ob er etwas suchen würde.
Natürlich wusste er, was er jetzt als Nächstes erklären würde – aber hier der allwissende Lehrer zu sein, das war nicht die Art, in der Thomas mit seinen Freunden reden wollte.
„Natürlich werden wir am Schluss versuchen, uns mit irgendeinem Produkt auf dem Weltmarkt durchzusetzen“.
Markenname
„Und hierfür ist es absolut notwendig, dass wir von vornherein eine eigene Marke haben oder ein Symbol kreieren für das, was wir produzieren werden.
Dieses Symbol soll in keiner Weise direkt irgendetwas mit eurem Land zu tun haben.
Es handelt sich einzig und alleine um einen Markennamen oder eine Symbol-Bezeichnung.
Hier in eurer schönen Hauptstadt fahrt ihr meistens mit Volvos. Diese schwedischen Autos heißen überall auf der Welt nur Volvo – nirgends steht an oder im Auto etwas von Schweden.
Genauso ist es bei allen anderen großen Automarken.
VW heißt einfach nur VW VW
Toyota heißt Toyota
General Motors nur General Motors – gedanklich ohne irgendeinen Bezug auf das Land, wo das Produkt gebaut wird.
Wir müssen also jetzt schon anfangen, uns einen Namen für unsere Firma respektive für das Produkt, das wir herstellen wollen, zu überlegen.
Auf der ganzen Welt sind hierfür Bezeichnungen aus der Natur beliebt.
Es kann sich um Tiernamen handeln, um Pflanzen oder Blumen, um irgendetwas, was sympathisch, vielleicht etwas exotisch und vor allem positiv ist.
Da ich selber einige Erfahrung im internationalen Marketing habe – gedanklich, so nennt man das, was ich hier versuche zu erklären – habe ich mir einen Begriff ausgesucht, den ich euch jetzt vorschlagen möchte.
Magnolie
Als Thora dies übersetzt hatte, sahen alle vier ihn erwartungsvoll an.
Endlich etwas Konkretes, auch wenn es nur ein Name sein würde.
Ihr habt hier in eurem Land eine Pflanze, die ihr in Tausenden von Jahren immer weiter gepflegt und entwickelt habt.
Es ist heute eure National-Blume und sie ist wunderschön.
Ich rede hier, die ihr euch natürlich vorstellen könnt, von der weißen Magnolie.
Diese Blume ist sicherlich auch so schön, weil sie so einfach zu erkennen ist.
Sie hat drei wunderschöne Farben. Außen herum strahlend weiß. In der Mitte einen dunkelroten Kern und darauf eine hellgelbe, wie eine Sonne leuchtende, gelbe Erhebung.
Ich bin kein Botaniker und weiß nicht, wie diese Teile biologisch richtig genannt werden, aber ihr kennt alle diese drei Farben eurer Nationalblume.
Ich würde deswegen gern sowohl unsere Firma, die wir jetzt irgendwann gründen müssen, so nennen.
Ebenfalls die Niederlassungen, die folgen müssen – alles soll sich auf diese wunderschöne Blume beziehen und unser Produkt wird sich später hoffentlich automatisch damit verbinden.
Ich bin sicher, dass es irgendwann später eine positive Resonanz geben wird – sowohl beim Endkunden als auch bei den Personen und Firmen, denen wir unsere Produkte verkaufen wollen.
Durcheinander
Jetzt waren die Vier richtig elektrisiert.
Sie fingen an, alle zugleich zu reden und Thomas ließ sie erst mal in aller Ruhe diskutieren.
Schließlich verstummte einer nach dem anderen und Thora übersetzte das Ergebnis:
„Wir finden diese Idee großartig.
Die Magnolie ist unsere Nationalblume – und wenn wir damit in der Welt etwas besser betrachtet werden können, so soll uns das mehr als recht sein.
Thora wusste nicht, dass es im Deutschen auch die Formulierung „durch die Blume gesagt“ gab.
Tradition
Am nächsten Tag kamen alle vier mit neuen Notizheften, in denen sie all das aufschreiben wollten, was jetzt zu tun sei.
Thomas musste sich Mühe geben, ihren Tatendrang etwas zu bremsen, denn außer einem ziemlich allgemeinen Plan hatte er keine konkreten Einzelheiten in seinem Kopf.
Er war gewohnt, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Und jetzt war der Moment gekommen, den nächsten Schritt vorzubereiten.
„Bitte vergesst nicht“, erklärte Thomas seinen Freunden, „dass alles, was ich jetzt sage, nur dazu dient, dass ihr – oder vielleicht besser gesagt wir gemeinsam – in der großen Branche, mit der wir es zu tun haben werden, erst mal bekannt werden muss.
Und wir dürfen auch nicht als jemand auftreten, der ganz plötzlich ganz neu ist.
Besser ist es, sich so zu geben, als ob man schon eine große Tradition hat, dass man jetzt aber vielleicht zum ersten Mal damit an eine breitere Öffentlichkeit oder in unserem Fall an eine Branche herantritt, die auf der ganzen Welt vertreten ist.
Niemand auf der Welt weiß, welche Strukturen hier bei euch in den Wirtschaftsabteilungen eurer Import-Export-Firmen herrschen.
Das ist für uns der große Vorteil, denn damit sind Nachprüfungen von dritter Seite so gut wie unmöglich. Wir müssen also im ersten Schritt gleichzeitig als jemand auftreten, der die demokratische Republik Nordkorea vertritt und gleichzeitig auch die Firma Magnolia.
Es ist wichtig, dass die Leute wissen, dass es jetzt einen neuen Mitspieler gibt – und zwar euer Land.
Das bedeutet für die Publicity, für die ganzen Eintragungen und für alles, was damit zu tun hat, es muss immer ein möglichst offizieller Name benutzt werden.
Also bitte jetzt in der ersten Phase nicht nur Magnolia, sondern immer schön die komplette Bezeichnung unter Erwähnung eures Landes.
Das halte ich für sehr wichtig und das sollte bei der Gründung von Niederlassungen in Peking, Ost-Berlin und Australien auf jeden Fall so durchgeführt werden.
Namensschild
Thomas ahnte, dass Herr Young, der mit Abstand älteste und ranghöchste seiner vier Gesprächspartner, eine sehr gehobene Stellung in seinem Ministerium innehat.
Weitere Details wusste Thomas nicht und wollte es ehrlich gesagt auch nicht wissen, denn alles, was mit irgendwelchen Behörden zu tun hatte, war allein Sache von Herrn Young.
Zwischen Nordkorea und China gab es zu jener Zeit die berühmte Eisenbahnverbindung und zwischen beiden Ländern konnten die Personen mit ihrem Personalausweis hin und her reisen, es gab keine Visumspflicht.
Dieser Umstand erleichterte es sehr, dass innerhalb von 2 Monaten an der Eingangstür eines kleinen Büros im dritten Bezirk von Peking ein neues Namensschild montiert wurde.
Frau Li, die fürsorgliche und äußerst agile Leiterin dieses Büros, schraubte ein kleines, bronzefarbenes Emaille-Schild neben das Firmenschild ihrer eigenen Firma.
Und somit war dieses Büro ab sofort der offizielle Sitz für zwei Firmen.
Man hatte sich darauf geeinigt, nur die Bezeichnung Magnolia als Titel zu wählen.
Darunter stand etwas kleiner „Democratic People Republic of Korea ( DPRK)“ – das war die offizielle englische Bezeichnung für das chinesische Nachbarland.
Auf einem kleinen Empfang, der in den Räumen der neuen Niederlassung gegeben wurde, erschien der Leiter der Wirtschaftsabteilung der nordkoreanischen Botschaft in Peking zusammen mit seiner hübschen Sekretärin und zwei anderen Mitgliedern der Botschaft, die hofften, hier etwas Gutes zu essen und zu trinken zu bekommen.
Es wurden die obligatorischen Fotos gemacht, man stellte sich dabei in den Technik-Raum des kleinen Büros, wo die ganze Technik der Niederlassung an einer Wand stand- also Faxgeräte, Computer, Drucker, Scanner und einige Telefone.
Berlin
Mit diesen Fotos ging Thomas nach seinem Rückflug nach Deutschland zur nordkoreanischen Botschaft in Ost-Berlin.
Er war dort inzwischen der wohl häufigste Besucher, den die Botschaft zu verzeichnen hatte. Alle paar Monate bekam er ein neues Visum für seine nächste Reise nach Pjöngjang.
Ein Dauervisum, wie es in China schon lange möglich war, blieb ihm verwehrt.
Wahrscheinlich gab es so etwas auch gar nicht, denn die Anzahl der Menschen, die freiwillig davon Gebrauch machen würden, war mit Sicherheit sehr begrenzt.
Thomas kannte sowohl den Botschafter als auch seine 3 Mitarbeiter – mehr gab es in dieser Botschaft nicht.
Er zeigte dem Botschafter die Fotos von der Gründung der Niederlassung von Magnolia in Peking und einige kleine chinesische Zeitungsausschnitte, die darüber berichteten.
Das war für den Botschafter Ansporn genug, um selber in allerkürzester Zeit das Gleiche auf die Beine zu stellen.
Er hatte über irgendwelche Kanäle aus dem Ministerium, wo Herr Yuang Direktor war, schon die Order bekommen, dafür zu sorgen, dass jetzt Berlin mit der Gründung einer kleinen Dependance an der Reihe sein würde.
Da es aber bis zu diesem Moment keine einzige nordkoreanische Firma in der gesamten DDR gab, wusste er nicht genau, wie er so etwas anstellen sollte.
Thomas griff in seine kleine Aktentasche, holte zwei Sachen raus, die er vorbereitet hatte und gab sie ihm.
Neu
Innerhalb von wenigen Tagen war das ganze Problem gelöst.
Das kleine bronzene Metall-Türschild, das er in Peking angefertigt hatte und wovon bereits ein Exemplar hell und schön leuchtend an der Eingangstür ihres kleinen Pekinger Büros angeschraubt war – von diesem Türschild hatte er in Peking gleich 5 Exemplare machen lassen.
Das zweite Exemplar davon gab er jetzt dem Botschafter zusammen mit einem kleinen Umschlag.
In dem Umschlag waren 10 westdeutsche 50 DM-Scheine und eine Visitenkarte von Herrn Yuang. Von diesen Visitenkarten hatte Thomas sich in Pjöngjang eine kleine Menge auf Vorrat geben lassen.
„Ich denke, sehr geehrter Botschafter„, sagte Thomas zu seinem Gegenüber, „Sie können es ganz einfach so machen, wie es auch in Peking gemacht wurde.
Sie brauchen hier in Berlin nicht extra ein Büro anzumieten und einzurichten. Ich würde vorschlagen, es genügt, wenn sie dieses kleine Schild neben ihr eigenes Namensschild an der Eingangstür zu ihrer Privatwohnung befestigen.
Dann ist die Firma Magnolia in guten Händen.
Aktivitäten irgendwelcher Art sind in nächster Zeit nicht zu erwarten. Alles ist in Hinblick auf eine hoffentlich erfolgreiche Zukunft geplant.
Und damit gleichzeitig die Einweihung dieses kleinen neuen Büros von Magnolia in dieser schönen Stadt etwas gefeiert werden kann, hat mich Herr Young gebeten, Ihnen diesen Umschlag zu überbringen.
Sie wissen, dass es etwas umständlich ist, wenn man den Inhalt offiziell von Pjöngjang nach Berlin transferiert, auf diesem Wege ist alles einfacher und schneller. Es würde uns freuen, wenn Sie damit einen kleinen Empfang in einem Restaurant hier in der Nähe organisieren könnten.
Vielleicht laden sie noch irgendjemand aus dem hiesigen Wirtschaftsministerium ein, zusammen mit seinem Assistenten. Und jemand von der lokalen Presse.
Dann sollte von Ihnen allen ein kleines Foto gemacht werden – dieses Foto sollte Ihr Sekretär dann bitte an meine Adresse nach Hamburg senden.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und danke für Ihre Kooperation, auch im Namen von Magnolia und deren internationalen Mitarbeitern.
Der Botschafter verstand, was Thomas sagen wollte, lächelte und meinte, das ganze sei für ihn kein großes Problem.
Fotos
Drei Wochen später erhielt Thomas Post von der koreanischen Botschaft in Ostberlin zusammen mit zwei Zeitungsausschnitten, die die Mitglieder der nordkoreanischen Botschaft zusammen mit irgendwelchen Herren aus einer Wirtschaft-Abteilung der Regierung der DDR bei der Eröffnung von Magnolia in Berlin zeigten.
Thomas lächelte ebenfalls und ging mit den beiden Zeitungsausschnitten zu einer Werbeagentur, die darauf spezialisiert war, großflächige Hochglanzaufnahmen aus alten Zeitungsfotos herzustellen.
Diese Foto-Firma saß zusammen mit vielen anderen Unternehmen dieser Branche im größten und ältesten Luftschutzbunker von Hamburg, direkt auf dem Heiligen-Geist-Feld.
Dieser Bunker hatte mit 5-6 Meter dicken Wänden jeglichen Versuch überstanden, ihn nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprengen und war somit ein Relikt und eine Erinnerung aus jener Zeit.
Da es in diesen Bunkern absolut dunkel war, hatten sich im Laufe der Zeit viele Firmen aus der Foto- und Werbebranche dort angesiedelt, um bei idealen Lichtverhältnissen ihrem Beruf nachzugehen.
Paris
Als er einige Tage später die Abzüge in Großformat 60 × 100 cm erhielt, war er zufrieden.
Er rollte die jeweils 4 Exemplare, die er von den Zeitungsausschnitten aus Beijing und Berlin hatte anfertigen lassen, zusammen und legte sie in eine Schublade seines Schreibtisches.
Dann schrieb er außen auf die Schreibtisch-Schublade mit Filzstift „PARIS“.
Die internationale Ledermesse oder wie sie offiziell hieß „Semaine de Cuir- Paris“ und war die weltweit größte Messe ihrer Branche.
Seit 1928 fand sie jährlich im Ausstellungsgelände Porte de Versaille am Rand von Paris statt.
Thomas hatte über sein Büro in Peking bei der Messeleitung im Namen von Magnolia eine kleine Messekabine gebucht.
Sein Pekinger Büro erklärte am Anfang des Fax-Wechsels mit der Pariser Messe-Leitung, dass die Kommunikations-Möglichkeiten zwischen Pjöngjang und Paris bekanntermaßen äußerst schwierig sind.
Deswegen hat man Peking autorisiert, diese Anmietung auf der Messe vorzunehmen und alles damit in Verbindung stehende zu unterschreiben, durchzuführen und zu bezahlen.
Es wurde die kleinstmögliche Kabinengröße gebucht, nur 4 Meter breit und 2 Meter tief. Wie bei jeder großen Messe gab es auch hier die Möglichkeit, den Standaufbau durch Messebau-Firmen durchführen zu lassen.
Thomas suchte sich die einfachste Variante aus. Ein Tisch, vier Stühle, zwei Schaukästen an den Seiten und im Hintergrund nur der große Schriftzug von Magnolia in Verbindung mit dem offiziellen Namen von Nordkorea in großen goldenen Buchstaben.
An den beiden Seiten sollten nur jeweils zwei größere Schaukästen an der Wand hängen, darin wollte Thomas die Fotos der Eröffnungen in Beijing und Berlin präsentieren.
Am Eingang zu diesem kleinen Messe-Stand ließ er auf der jeweils linken und rechten Seite zwei kleine Proteste instellen.
Dort, auf diesen beiden kleinen Podesten, sollte die Ware präsentiert werden, mit der man auf dieser Messe auftreten würde.
Und die nichts mit dem zu tun haben würde, was Thomas vorhatte zu produzieren.
Hostess
Außerdem buchte er bei einer Agentur eine Messe-Hostess, die neben Französisch noch Englisch und Koreanisch sprach.
Es kam dann daraufhin eine koreanische Studentin, die sehr freundlich und hilfsbereit war. Sie begrüßte alle interessierten Besucher in den verschiedenen Sprachen und versorgte sie mit Kaffee, Tee, kleinen Keksen und einem Lächeln.
Sie war etwas überrascht, dass die Menschen, die hier ihre Produkte ausstellten, offensichtlich mehr über die Fotos in den Show-Kästen und die Firmennamen sprachen als über ihre ausgestellten Produkte.
Aber sie wurde für ihr Lächeln und den guten Kaffee bezahlt – und die Bezahlung stimmte. Nach Nordkorea zu ihren dortigen Verwandte aus sehr lang zurückliegenden Zeiten würde sie sowieso wohl niemals reisen können.
Macao
Hans Becker war Inhaber einer kleinen, aber durchaus meist seriösen Hamburger Im- und Exportfirma.
Durch Umstände, die nie wirklich aufgeklärt wurden, hatte er den Wunsch und das Bedürfnis, Anfang der Fünfzigerjahre Deutschland zu verlassen.
Er ließ sich in Hongkong nieder und arbeitet dort weiter.
Auf ebenso jetzt nicht mehr nachvollziehbare Art und Weise ergab sich einige Jahre später eine erst geschäftliche und dann auch private Verbindung zwischen Hans Becker und Detlef Deckel, dem Vater von Thomas.
Heinz Becker kooperierte gut und freundschaftlich mit der Firma Deckel in Hamburg und nach einigen Jahren war er der erfolgreiche Leiter der Niederlassung Hongkong der Firma Deckel.
Herr Becker versuchte trotz der Vorkommnisse Anfang der Fünfzigerjahre seine Ausgaben in Hongkong so gering wie möglich zu halten.
Als Anfang der Siebzigerjahre die Preise für Mieten, Kommunikation und das gesamte Leben der Ausländer in Hongkong anfingen zu explodieren, beschloss er kurzerhand sein Büro auf die andere Seite des Pearl-Flusses zu verlagern – auf die seinerzeit kleine portugiesische Kolonie Macao.
Dort gab es außer Casinos und Bordellen nichts, über das man hätte berichten können.
Er fand einen jungen Mitarbeiter, der schon länger in Macao lebte und dort an einer privaten Universität Wirtschaftswissenschaft studiert hatte. Er hieß Pierre und kam aus Antananarivo, der Hauptstadt von Madagaskar.
Er war wahrscheinlich der einzige Mensch aus Madagaskar, der jemals einen Fuß auf diese merkwürdige, alte portugiesische Kolonie gegenüber von Hongkong gesetzt hat.
Madagaskar war eine ehemalige französische Kolonie, man sprach dort Französisch.
Pierre wiederum verliebte sich in eine Makaka, so wurden in Macao die wenigen jungen Mädchen genannt, die aus einer der alten portugiesischen Familien stammten, die es in Macao noch gab.
In der Schule und im täglichen Leben sprachen alle neben dem offiziellen Portugiesisch auch fließend Kantonesisch. Cantoniese ist eine von dem ansonsten in China überwiegend gesprochenen Mandarin völlig unabhängige chinesische Sprache, die in der gesamten Provinz Guangdong – früher Canton – gesprochen wurde und somit auch in Hongkong und Macao.
Pierre und seine nette Frau kommunizierten in diesem Sprachwirrwarr intern meistens auf Englisch – und das war wiederum Herrn Becker sehr recht.
Mit Pierre hatte Heinz Becker jetzt Eintritt in die alte traditionelle portugiesische Gesellschaft dieser kleinen anachronistischen Kolonie gegenüber von Hongkong.
Und über die Familien von Pierre und seiner Frau verschaffte sich Herr Becker den für seine Geschäfte nötigen Zutritt zu chinesischen Kreisen, ohne die es dort kaum möglich war, erfolgreich zu arbeiten.
Da es in Macao zu jener Zeit weniger als eine Handvoll Deutsche gab, die dort permanent lebten, hatte Hans Becker keine Befürchtung, dass irgendwelche Schriftstücke, Telefonate oder sonstige Dokumente, die er alle in Deutsch führte und aufbewahrte, irgendwann einmal gegen ihn verwandt werden könnten.
Das war Anfang der Fünfzigerjahre in Hamburg nicht der Fall und so, wie er gelegentlich zu verstehen gab, auch einer der Gründe, weshalb er diese schöne Stadt mehr oder weniger Hals über Kopf verlassen musste.
In den Kreisen der Hamburger Privatbanken jener Zeit schüttelte man noch lange den Kopf über die Leichtsinnigkeit, mit der einer ihrer Kollegen der Firma von Hans Becker so große Kredite gegeben hatte.
Sie wurden am Ende notleidend erklärt und alles, was danach geschah, wurde unter dem Mantel der hanseatischen Verschwiegenheit vergraben.
Muster
Heinz Becker blickte noch mal auf das Fax, was er heute Morgen von Thomas erhalten hatte. Im ersten Augenblick nichts Besonderes, nur eine Anforderung einiger Muster, die Thomas gerne in Macao angefertigt haben wollte.
Herr Becker war es gewohnt, von seinen Kunden immer wieder irgendwelche Anregungen zu neuen Geschäften zu erhalten.
Für viele seiner Geschäftsfreunde war Hongkong und jetzt besonders Macao ein seltsames und mysteriöses Gebilde, wo so ziemlich alles möglich schien, wenn man etwas haben wollte.
Dadurch, dass Macao eine direkte Landesgrenze mit China hatte, war der Warenaustausch wesentlich einfacher als in Hongkong, wo oftmals kleine Schiffe und Fähren eingesetzt werden mussten und wo vor allen Dingen die britische Grenzpolizei sehr effizient und genau ihr königlich-britisches Kolonialgebiet gegenüber China abschirmte.
Zwischen Hongkong und Macao lag zwar das große Flussdelta des Perlflusses, aber es gab zwischen diesen beiden ca. 80 km auseinander liegenden Gebieten eine unübersehbare Menge von Fähren aller Art.
Alles, was man in dem kleinen Macao nicht so richtig oder auch nur so richtig schnell fabrizieren konnte, wurde in Hongkong erledigt.
Berühmt und berüchtigt war die Schnelligkeit der Hongkong-Chinesen besonders in der Modebranche.
Wenn am Nachmittag in Paris die exklusive Modenschau eines führenden Pariser Haute Couture Unternehmens durchgeführt wurde, so waren am nächsten Mittag in Hongkong schon die ersten Billigkopien der Exklusiv-Modelle verfügbar.
Hans Becker hatte zwar mit diesem Geschäftszweig nichts direkt zu tun, aber es gab gelegentlich immer mal wieder die Notwendigkeit, von dem einen oder anderen Artikel schnell eine Kopie anzufertigen oder eine Kleinserie in Auftrag zu geben.
Relief
Und das, was Thomas in diesem Fax schrieb, gehörte mit Sicherheit auch dazu.
Der Text war kurz und lakonisch.
Bitte folgende Schuhmodelle besorgen:
Markenimitation aktueller modisch hochwertiger europäischer Schuhmarken gewünscht.
Herren zweimal braun 44
zweimal schwarz 44
Damenschuhe, elegant sportlicher Typ
zweimal Größe 39, dunkle Farbe
zweimal Größe 39, helle Farbe.
Instruktion für die Spezialbehandlung aller Laufsohlen folgt separat.
Dann blickte Herr Becker auf das zweite Fax, das vor wenigen Minuten bei ihm eingetroffen war. Es bestand aus 2 Seiten.
Auf einer Textseite waren kurze Instruktionen aufgeschrieben:
Schuhmuster- – Lederunterseite auf alle Teile einbrennen, Logo laut Anlage.
Relieflogo
Relief Farbe Außenbereich Silber Innenbereich goldfarbig.
Prototypenmuster bitte abfotografieren und per Fax schicken.
Und auf der zweiten Seite war ein Blumenmuster in einfacher Form irgendwo abfotografiert oder abgezeichnet worden.
Hans Becker verstand von modischen Schuhen so viel wie ein Regenwurm vom Stabhochsprung.
Deswegen beschloss er in diesem Fall, das Ganze Pierre zu übergeben. Pierre würde schon die entsprechenden Quellen ausfindig machen, um sowohl die Schuhe zu kaufen als auch auf den Schuhsohlen das gewünschte Relief einzubrennen und auszugestalten.
Pierre wiederum nahm noch die Hilfe seiner lieben Frau hinzu, denn mit modischen Damenschuhen kannte er sich genauso wenig aus wie sein Chef.
Das Fax
Eine Woche später erhielt Thomas ein Fax aus Macao.
Da die Faxe zu jener Zeit ausschließlich in Schwarz-Weiß arbeiteten, konnte er aus dem beigefügten Foto nur erahnen, wie es sich farblich darstellen würde.
Er fragte sicherheitshalber noch mal bei Herrn Becker nach, ob die Farbwünsche im Relief der Schuhsohlen berücksichtigt werden konnten. Und als Herr Becker dies bejahte, bat Thomas Frau Li, eine kurze Reise nach Macao zu unternehmen.
Alle Post – und insbesondere alle Muster von Hongkong oder Macao nach Europa – wurden sehr argwöhnisch bei jeder europäischen Zollstelle geprüft, im Zweifelsfalle bekam sie keinen Freigabestempel und das Paket musste zurück nach Hongkong geflogen werden.
Post
Der Post- und Paketdienst zwischen Macao und Peking war genauso eine Glücksache wie das eigentliche Glückspiel selber, von dem Macao lebte.
Mal klappt es, mal ging alles schief.
Das Sicherste war, wenn Frau Li einen billigen Inlandsflug nach Canton buchte. Von dort war sie in kurzer Zeit mit der Eisenbahn in Macao.
Wenige Tage später hatte Thomas die Muster bei sich in Peking auf dem Schreibtisch.
Geschenkpapier
Jedes Paar Schuhe wurde in knallbuntes chinesisches Geschenkpapier eingewickelt. Dann klebte er auf jedes dieser Geschenke einen Sticker, auf dem er mit der Hand irgendwelche Vornamen seiner Familie aufschrieb.
Auf diese Art und Weise waren aus den Mustern, die Frau Li aus Macao geholt hatte, jetzt persönliche Geschenke für seine deutschen Familienmitglieder geworden, die er zum Abschluss einer kleinen China-Reise als Geschenk mitbrachte.
Thomas wusste, wie vorsichtig man mit allem sein musste, was den Anschein erwecken könnte, dass es sich um kommerzielle Muster handeln könnte.
Geschmack
Das Relief, das in Macao von geschickten Händen in die Sohle aller Schuhmuster eingebrannt wurde, war eine professionelle Arbeit.
Die Magnolie, die es darstellen sollte, war zwar nur für wirkliche Magnolien-Experten als solche erkennbar, aber dass es sich um ein hübsches Blumendesign handeln würde, stand außer Frage.
Das Reliefmuster war 1 mm tief in die Sohle rein gebrannt und nach den Wünschen von Thomas dann ausgemalt worden.
Und hier konnten die chinesischen Experten ihrem überbordenden Geschmack freien Lauf lassen.
Das Blumenmuster war dermaßen generell und kitschig mit Silber und Gold in allen Reliefbereichen verziert, dass einem beim Anblick schon fast die Augen schmerzten.
Der dezente europäische Geschmack, die filigrane italienische oder französische Linienführung im Design der Blume – all das war hier nicht vorhanden.
Thomas war stolz und glücklich, als er diese Musterexemplare in ihrem überbordenden Kitsch zum ersten Mal sah.
Er kannte die chinesischen und jetzt sicherlich auch nordkoreanischen Vorstellungen von Design und Geschmack. Das konnte man überall täglich in jedem mittelgroßen chinesischen Kaufhaus sehen.
Es gab nichts, was nicht in den wildesten Farben angepriesen wurde. Die Leute liebten so etwas und hätten ein normales mitteleuropäisches Design auf einem der wenigen und sehr teuren importierten Artikel wahrscheinlich schlicht übersehen.
Sahara
Die Schuhmuster selber waren eine perfekte Imitation neuester europäischer Schuhmode.
Die dezente Qualität der Schuhe und die auf der Schuhsohle eingedruckten grellen Logos passten zusammen wie ein Eskimo, der mit seinem Hundeschlitten konzentriert durch die Sahara gleitet.
Thomas war sich sicher, dass jetzt nichts mehr schiefgehen kann.
Schmunzeln
Die Messe in Paris verlief genauso, wie Thomas es sich vorgestellt hatte.
Der erste Blick der am Stand vorbeilaufenden Besucher galt dem Firmennamen Magnolia, mit dem niemand etwas anfangen konnte.
Die darunter befindlichen Worte, dass es sich offensichtlich um einen Aussteller aus der demokratischen Republik Korea, also vereinfacht gesagt aus Nordkorea handeln würde, erregten Erstaunen. Niemand hatte vorher irgendetwas von einer Leder- oder Schuhproduktion aus diesem Land gehört.
Die beiden an den Seiten aufgehängten großen Schwarz-Weiß-Fotos von den Eröffnungen in Peking und in Berlin, versehen mit dem Namen der entsprechenden Stadt, waren schon aufschlussreicher für die Fachbesucher.
Hier schien sich also etwas zu entwickeln, was man später vielleicht mal in seine eigenen Überlegungen miteinbeziehen könnte.
Dass es auf diesem kleinen und unscheinbaren Messestand zwei kleine Tische gab, wo jeweils zwei Paar Schuhe ausgestellt waren – das weckte das Interesse aller Fachbesucher, die an diesem kleinen Messestand kurz verweilten.
Alle Fachbesucher erkannten sofort, dass es sich um sehr moderne europäische Designs handelte, sowohl bei den Herren- als auch bei den Damenschuhen.
Und als man dann einen der Schuhe in die Hand nahm und auf der Unterseite das extrem kitschige und grelle Logo eingebrannt sah, da ging ein Schmunzeln über die Gesichter der allermeisten Besucher.
Thomas konnte darin immer den gleichen Satz herauslesen:
Hier will also wieder einmal jemand in unser großes internationales Geschäft einsteigen.
Nordkorea also – okay, warum nicht.
Ob es da überhaupt Leder gibt – keine Ahnung.
Aber mit Sicherheit sind diese Modelle hier geklont oder geklaut.
Und das extrem hässliche dicke Logo auf der Unterseite der Schuhsohle ist der sichere Beweis, dass dieses Land – oder zumindest diese Firma – noch Jahrzehnte brauchen wird, bis man vielleicht eines Tages dort ankommt, was bei uns alltäglicher Standard ist.
Also wieder ein kleiner Exot, dessen Verfalldatum absehbar ist und den wir zwar registrieren, aber nicht ernst nehmen müssen.
Das war alle vier Messe-Tage über der Tenor der Besucher auf ihrem kleinen Messestand – und genau das hatte Thomas bezweckt.
Zirkus
Am vorletzten Tag kam die offizielle Messedelegation an seinem Stand vorbei.
Sie bestand wie bei jeder Messe aus irgendwelchen Präsidenten von Fachverbänden, von Industrie- und Handelskammern, von Wirtschaftsbossen und weiteren Mitgliedern, die viel sprachen und wenig zu sagen hatten.
Die ersten beiden Tage hatte man bei den großen Ausstellern verbracht, es sich dort gut gehen lassen und bis tief in die Nacht auf Kosten der Aussteller in den feinsten Pariser Restaurants und Etablissements gefeiert.
Thomas hatte ihre koreanische Messe-Hostess bereits rechtzeitig instruiert.
Sobald er sah, dass diese Delegation kommen würde, würde er den Stand verlassen.
Dann ist sie alleine mit den beiden Koreanern, die auf ihrem Stand herumsaßen und sich das Treiben angucken, ohne irgendwelche Reaktion zu zeigen. Das ging auch schlecht, denn diese beiden Nordkoreaner sprachen weder ein Wort Französisch noch Englisch und hatten auch sonst von nichts eine Ahnung.
Die freundliche junge Dame sollte dann die Delegation respektive die erkennbaren Delegationsleiter bitten, kurz für ein Foto zur Verfügung zu stehen.
Die Hostess sollte dann zwei Fotos machen.
Die Hälfte der großen Delegation auf der einen Seite zwischen dem Bild an der Wand, wo die Eröffnung Peking demonstriert war.
Und ein anderes Foto zwischen dem Bild der anderen Wand, wo die Eröffnung in Berlin gezeigt wurde.
Was Thomas nicht sagte, war die Tatsache, dass er nur wegen dieser Fotos den ganzen Zirkus in Paris und auf der Messe organisiert hatte.
Erledigt
Der Charme der hübschen und freundlichen koreanischen Hostess hatte gesiegt.
Die Delegationsleiter waren froh, endlich mal auf einem Messestand zu sein, wo sie kein Wort oder Small -Talk mit irgendwelchen Leuten wechseln mussten.
Sie konnten kein Wort Koreanisch und die beiden Koreaner, die hier wohl zu diesem kleinen Stand gehörten, konnten mit Sicherheit nicht fließend Französisch.
Es gab zwar auf diesem Messestand nichts Besonderes zu Essen und Trinken, aber so eine kleine Pause während ihrer anstrengenden Rundgänge wurde allgemein begrüßt.
Und natürlich siegte die Eitelkeit, sodass man sich gerne mit diesen exotischen und offensichtlich wohl neuen Messeausstellern fotografieren ließ.
Die freundliche koreanische Studentin erhielt am Ende des letzten Messetages als Anerkennung für ihre gute Arbeit einen kleinen Lederbeutel, den Thomas auf einem Nachbarstand ebenfalls am letzten Messetag erworben hatte.
Es war hier – genau wie auf vielen anderen Messen – üblich, dass man zum Schluss versuchte, möglichst viel von dem, was man als Ausstellungsstücke die ganzen Tage gezeigt hatte, zum Schluss noch zu Bargeld zu machen, bevor man alles wieder mit nach Hause schleppen musste.
Sie bedankte sich bei Thomas und den anderen beiden Koreanern und weil der Beutel etwas schwerer als normal war, öffnete sie ihn und blickte kurz hinein.
Dann freute sie sich sehr, dass sie für ihren Freund und für sich selber jeweils 2 Paar schicke Lederschuhe geschenkt bekommen hatte.
Die Blume auf der Unterseite dieser geschenkten Schuhe wollte sie mit weißem und roten Nagellack so hübsch machen, wie es diese Blumen verdient hatten.
Der Abschied
Man verabschiedete sich.
Thomas flog zurück nach Hamburg.
Das junge Mädchen nahm die Metro zu ihrem Freund in ihrer Studentenbude.
Und die beiden Nordkoreaner fuhren mit der Bahn zurück nach Ostberlin.
Zehntes Buch
Herr Rudolf
Der Kaffee war von der gleichen exzellenten Qualität wie vor 4 Jahren. Und auch vor 8 Jahren. Die Begrüßung durch Herrn Rudolf verlief ebenso professionell und freundlich wie bei all seinen Besuchen hier zuvor.
Das kleine, aber exzellente Café an der Ecke dieser unscheinbaren Seitenstraße im 1. Bezirk von Wien, die kleine Treppe zum ersten Stock im Hausflur nebenan, die unscheinbare Eingangstür, das Vorzimmer mit dem alten und recht uninteressiert herabblickenden Patriarchen auf dem Ölgemälde an der Wand – all das kannte er von seinen vorherigen Besuchen.
Auch ein Test, den er mit dem freundlichen älteren Wiener Taxifahrer durchführte, der ihn vom Flughafen in die Innenstadt chauffierte, verlief erfolgreich. Als er als Adresse den Namen Bankhaus Moser angab, blickte der hagere und inzwischen weißhaarige Fahrer sich nach hinten zu seinem Gast um und sah ihn fragend an. „Ich dachte, ich kenne inzwischen so ziemlich jedes Bankhaus hier in Wien“, erklärte er Thomas, „aber von einem Bankhaus Moser habe ich noch nie etwas gehört.“
Also auch das war unverändert und Thomas war zufrieden und beruhigt.
Herr Rudolf versuchte gar nicht erst, eine kleine Konversation anzufangen über die Ereignisse, um deren Zweck und Durchführung es bei den letzten Gesprächen zwischen Thomas und Herrn Rudolf gegangen war. Das war vier Jahre her, und inzwischen war viel passiert.
Thomas fing das Gespräch jetzt an und bemühte sich dabei, die gleiche ruhige, konzentrierte und trotzdem freundlich-vertraute Gesprächsform zu finden, die er an Herrn Rudolf schätzen gelernt hatte. „Der Unterschied zu meinen letzten Besuchen bei Ihnen und dem heutigen ist, dass ich in der Angelegenheit, die wir vor 4 Jahren zusammen durchführten, jemand war, der durch unseren gemeinsamen und leider inzwischen verstorbenen Freund Boris Salomon geleitet war. Ich habe von diesem hervorragenden Menschen viel gelernt und bin für manches dankbar.
Der heutige Besuch hingegen kommt ganz allein von mir oder besser gesagt beruht auf Überlegungen, die mir vor einiger Zeit durch den Kopf gegangen sind und die ich beabsichtige auch alleine durchzuführen. Wenn ich hier „alleine“ sage, so bedeutet dies natürlich nicht, dass ich keine Freunde und Helfer habe, die meine Ideen mittragen und hoffentlich erfolgreich mit mir zusammen zu Ende bringen.
Herr Rudolf nickte schweigend und deutete mit einer Handbewegung an, dass Thomas bitte mit seinen Erklärungen fortfahren möge.
Hundesteuer
„Ich hatte von Boris gelernt, dass man gut und meistens ungestört arbeiten kann, wenn man seine Tätigkeit über größere Gebiete dieser Welt verteilt. Dies war eine etwas höfliche Umschreibung dessen, dass das letzte Projekt zumindest von der Entfernung her gesehen gut als weltweites Projekt angesehen werden konnte.
Und auch diesmal möchte ich mit einigen nordkoreanischen Freunden zusammen etwas schaffen, was es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Sie, verehrter Herr Rudolf, kennen mich ein bisschen und ich bin sicher, Sie stimmen mir zu, dass die Wiederholung eines Planes, der von jemand anders stammt, nicht das ist, was man am liebsten tut. Es sei denn, man freut sich jeden Morgen auf ́s Neue über seinen täglichen Arbeitsablauf in der Hundesteuer-Abteilung des heimatlichen Finanzamtes.
Damit wollte er nicht abschätzig über Beamte reden, sondern nur seine persönliche Abneigung gegen eine gewisse Monotonie zum Ausdruck bringen.
Transfer
Dann kam Thomas schnell zur Sache. Er sagte Rudolf unumwunden, dass er vom Bankhaus Moser Hilfe beim Transfer von Geldern benötigte, die mehr oder weniger offiziell von nordkoreanischer Seite nach Australien fließen sollen. Thomas wollte zusammen mit einigen nordkoreanischen Freunden eine Firma in Australien gründen. Diese Firma soll dort auf den wöchentlich stattfindenden landwirtschaftlichen Auktionen eine größere Menge von Schaf- und Lammfellen aufkaufen. Und zwar in ihrem Namen.
Danach soll diese Ware ebenfalls – unter dem Namen der neuen Firma – nach Nordkorea verschifft werden. Alles Weitere würde Thomas danach direkt mit seinen Freunden organisieren. Dann erklärte Thomas seinen Plan etwas genauer.
„Natürlich haben die Nordkoreaner weder die entsprechenden Devisen noch überhaupt eine Transfermöglichkeit, wenn sie offiziell Geld oder Devisen in andere Länder dieser Welt transferieren wollen. Das wissen wir alle und deswegen brauche ich noch einmal ihre Hilfe.
Das Geld, das hier ins Spiel kommt, stammt von meiner Hausbank in Hamburg. Ich habe dort mit meinem Bankberater gesprochen, wir haben ein freies Transfer-Volumen im Rahmen unseres Firmenkredites und meine Hausbank ist bereit, jederzeit einen 6-stelligen Betrag, der sich im unteren Bereich befindet, von Hamburg aus an Sie nach Wien zu überweisen.
Die australischen Devisenbehörden sind streng, das wissen wir alle. Der Einfluss amerikanischer Kontrollmechanismen bei solchen internationalen Operationen ist ebenfalls sehr groß, auch das wissen wir. Auf der anderen Seite ist es zwingend nötig, dass unsere Firma in Australien das Geld, mit dem sie die Ware kauft, bei den Auktionsgesellschaften innerhalb von 48 Stunden in bar oder zumindest bankbestätigt hinterlegt.
Der Verkauf findet im Rahmen von Versteigerungen statt, und dort sind diese Zahlungsformen üblich. Die Farmer, die ihre Tiere zur Versteigerung mitgebracht haben, benötigen am Ende der Versteigerung das Geld in bar oder zumindest per Scheck, bevor sie wieder auf ihre großen Farmen zurückkehren.
„Ich selber“, meinte Thomas dann etwas verschmitzt, „habe zwar inzwischen auch eine Filiale in Macao, aber selbstverständlich nicht mit dem nötigen Hintergrund, wie Sie ihn als Spezialist solcher Operationen zur Verfügung haben. Damit spielt Thomas direkt auf die Ereignisse von vor 4 Jahren an, die er noch sehr genau im Kopf hatte und über die er gelegentlich immer noch staunend den Kopf schüttelte.
Herr Rudolf sollte also jetzt – wenn möglich – einen Weg und eine Form finden, dass das Geld, was ihm von Hamburg aus geschickt wurde, in Australien bei der nordkoreanischen Niederlassung der neuen Firma ankommt, ohne dass es dazu viele Fragen oder Probleme gibt.
Donaufahrten
Herr Rudolf hatte alles verstanden und überlegte. „Wie lange gedenken sie noch in Wien zu bleiben?“ Fragte er, statt eine konkrete Antwort zu geben. Thomas war etwas verdutzt, erkannte aber die Situation und ihm war klar, dass Herr Rudolf in diesem Fall noch etwas Zeit brauchen würde, bevor er eine konkrete Antwort geben könnte.
„Ich bin ein großer Freund von Schlossbesichtigungen, Tierpark-Spaziergängen und kleinen Dampferfahrten auf der Donau.“ Damit ließ Thomas die Antwort offen, gab aber gleichzeitig zu erkennen, dass er bereit war, so lange in Wien zu bleiben, bis er von Herrn Rudolf eine klare Antwort erhalten würde.
Mikronesien
„Es tut mir leid, dass es etwas gedauert hat„, sagte Rudolf am Nachmittag des dritten Tages nach ihrem Gespräch. „Wir haben es hier mit über 10 Stunden Zeitverschiebung zu tun, das hat das Ganze zusätzlich verkompliziert. Außerdem mussten auch bei meinen Partnern erst einige Fragen gestellt und geklärt werden. Aber, um das Ergebnis vorweg zu sagen – es hat geklappt.
Ich möchte Sie nicht mit banktechnischen Einzelheiten belästigen, außerdem gehe ich davon aus, dass sie dies wahrscheinlich gar nicht hören möchten. Zu ihrem persönlichen Verständnis aber kurz folgendes:
Die Marschall-Atolle sind ein Teil von Mikronesien. Und Mikronesien selber ist ein Sammelbegriff für ein Inselmeer von über 2000 tropischen Atollen und Inseln im nördlichen Pazifik, wo sich verschiedene teils unabhängige und teils unter ausländischer Verwaltung stehende Gebiete zu einer Art Staatenbund zusammengetan haben.
Sie gelten auf der einen Seite als Steuerparadies, sind auf der anderen Seite aber in vielen Beziehungen relativ eng mit den USA verbunden. In der Funktion als Steuerparadies sind sie Ziel diverser off-shore Gesellschaften, das dürfte Sie aber nicht weiter interessieren.
Ihre Nähe zur USA hat den Vorteil, dass die Bankkontrollen bei Privatkunden und regulären Firmen – also normalen Firmen, die im Land registriert sind – nicht gerade rigide sind. Bei dem Ausdruck rigide musste auch Herr Rudolf etwas schmunzeln.
„Die größte Bank der Marshallinseln ist die Bank of Marshall Island – und diese hat als quasi Staatsbank zwei kleine Niederlassungen in Australien. Ich weiß nicht, wo ihre Freunde sich niederlassen wollen, aber die Bank-Niederlassungen befinden sich in Sydney in New South Wales und Perth in Westaustralien.
Ich habe es mit meinen Geschäftspartnern jetzt so besprochen, dass ihre Freunde, wenn sie ihre nordkoreanische Firma dort in Australien gegründet haben, bei der Niederlassung der Bank auf den Marshallinseln ein ganz reguläres Firmenkonto eröffnen können. Gleichzeitig wird nach einer kurzen Prüfung, die obligatorisch ist, Ihrer neuen australischen Firma nach ungefähr zwei Wochen mitgeteilt, dass man bereit ist, ihr einen Kredit zu gewähren. Und zwar ziemlich genau in der Höhe des Betrages, den Sie uns von Hamburg nach Wien überwiesen haben.
Auf diese Art und Weise können ihre Leute dort problemlos Gelder abheben oder Schecks ausstellen – bis zur Höhe der Summe, die von Ihnen im Voraus deponiert wurde. Und die Marshallbank selber hat als Sicherheit unsere Zahlung aus Wien in ihren Büchern, was für die Bank eine 100-prozentige Sicherheit bedeutet. Die Marshallbank selber wiederum verdient noch einige Prozent Zinsen, weil sie ja offiziell ihrer Firma einen Kredit gibt, für den ihre Firma dann die entsprechenden Kreditzinsen an die Bank zahlen muss.
Ich denke, auf diese Art und Weise können alle zufrieden sein und ich würde mich freuen, wenn ich in dieser Angelegenheit dann zu gegebener Zeit von Ihnen die nötigen Einzelheiten bekomme.
Thomas war von der klaren und brillanten Struktur dieser Finanzabwicklung beeindruckt. Er hatte sofort verstanden, um was es ging und wusste, dass es jetzt allein an ihm liegen würde, die Voraussetzungen für die nächste Firma von Magnolia zu schaffen. Und zwar diesmal in Australien
Diplomatie
Australien und Nordkorea unterhalten seit 1974 diplomatische Beziehungen. Die Nordkoreaner eröffneten im Dezember 1974 eine Botschaft in Canberra und Australien im April 1975 eine Botschaft in Pjöngjang.
Danach gab es recht unterschiedliche Formen der Beziehung zwischen diesen beiden Ländern und seit 2013 gibt es weder in Australien noch in Nordkorea offizielle diplomatische Präsenz des jeweilig anderen Landes.
Sowohl Herr Yuang, der mit Sicherheit eine der einflussreichsten Direktoren im nordkoreanischen Wirtschaftsministerium war, als auch sein Assistent Herr Sora konnten sagen, wie die wirklichen diplomatischen Beziehungen zwischen Nordkorea und Australien zu der Zeit waren, als man die Magnolia mit ihren Filialen gründete.
Die beiden hatten eine große Einflussmöglichkeit auf alles, was sich auf Wirtschaft, Import und Export bezog – aber was im Außenministerium und übergeordnet direkt in der Regierung von Nordkorea gerade die aktuelle Richtlinie war, das wussten die beiden nicht. Man gab deswegen Thomas den Rat, möglichst nichts an die große Glocke zu hängen oder sich konkret gesprochen nicht viel Hilfe von der dogmatischen Vertretung Nordkoreas in Australien zu erhoffen.
Anerkennung
Thomas und seine Freunde hatten Glück. Die Gründung von Magnolia und deren mehr oder weniger offiziellen Niederlassungen in Peking und Berlin hatte sich in Pjöngjang herumgesprochen. Thomas wurde gesagt, in der offiziellen Parteizeitung seien in jenen Wochen zwei Artikel über Magnolia erschienen, beide Bilder von den Gründungen in Beijing und Berlin sowie von der Messe in Paris.
Der alte Herr Yang und sein junger Assistent hatten ganze Arbeit geleistet.
Herr Yang zeigte bei der nächsten Besprechung eine für Thomas ganz neue Seite. Er war emotional und aufgeregt und er musste zweimal den Kopf zur Seite wenden, als er Thomas erzählte, dass er zusammen mit seinem Assistenten Herrn Sora die Genehmigung bekommen hatte, ins Ausland zu reisen.
Und zwar nach Australien.
Damit war einer seiner größten privaten Wünsche doch noch nach so langer Zeit in Erfüllung gegangen. Herr Yuang und Herr Sora waren sich bewusst, welche große Anerkennung diese Genehmigung für eine Auslandsreise bedeutete. Von der australischen Botschaft in Pjöngjang bekamen sie ein Geschäftsvisum, das sechs Monate gültig war und die Erlaubnis beinhaltete, dass man sich während dieser Zeit frei im gesamten Land bewegen durfte.
Die Reise
Diese Reise musste sehr gut vorbereitet werden. Es war geplant, sie in ungefähr drei Monaten durchzuführen. Natürlich hätte der Reisetermin auch früher stattfinden können, aber Thomas wollte vorher selber noch einmal nach Australien, um einiges vorzubereiten.
Er hatte in den wichtigsten Provinzen im Laufe der Jahre gute Verbindungen zu den dortigen Exporteuren aufgebaut, denn ein immer größerer Teil der australischen Lammfelle wurde inzwischen von Thomas und einigen chinesischen Fabriken direkt in Australien gekauft.
China war nach Frankreich der zweitgrößte Exportmarkt für dieses typische australische Produkt.
Die Schwierigkeit für Thomas in dieser Situation war nicht so sehr der organisatorische, sondern lag auf dem psychologischen Sektor.
Er wollte und durfte den chinesischen Käufern nicht zeigen oder auf die Nase binden, dass sie in Kürze Konkurrenz durch ihre nordkoreanischen Verbündeten bekommen würden.
Auf der anderen Seite musste Thomas dafür sorgen, dass die australischen Lieferanten über die demnächst beginnende nordkoreanische Einkaufstätigkeit bei den Versteigerungs-Auktionen bekannt wurden – denn er würde auf jeden Fall die Hilfe und Unterstützung zumindest einer renommierten australischen Exportfirma benötigen.
Die Anwältin
Thomas wusste aus den Gesprächen mit australischen Freunden, dass die Gründung einer Firma – und sei es auch nur eine Filiale einer anderen Firma – in Australien wohl wesentlich schwieriger sein würde als zuvor in Peking oder Berlin. Er besprach dies mit einer Anwaltskanzlei, die ihm von Bekannten empfohlen wurde.
Die Anwältin, die in dieser Kanzlei mit dem Thema Firmengründung zu tun hatte, hörte sich alles genau an. Dann holte sie einige Formulare und man ging gemeinsam die vielen Seiten durch, die teils aus Fragebogen und teils aus juristischer Belehrung bestanden.
Schließlich meinte sie, sie hätte offen gesprochen keine Ahnung und Erfahrung zum Thema Gründung einer nordkoreanischen Filiale in Australien, aber es sei wohl auf alle Fälle gut, wenn man hier zuerst versucht, diplomatische Hilfe von nordkoreanischer Seite zu bekommen.
Thomas erzählte dann, wie seine persönlichen Erfahrungen mit der nordkoreanischen Botschaft in Ostberlin waren. Er schilderte dies in seiner typischen Erzählweise – ein bisschen drastisch, ein bisschen burlesk und ein bisschen wahrheitsgemäß.
Die Hauptstadt
Zum Schluss vereinbarten sie, dass es das beste für Thomas sein würde, mehr oder weniger direkt und auf gut Glück nach Canberra zur dortigen nordkoreanischen Botschaft zu fahren. Er fuhr nach Canberra, der offiziellen Hauptstadt von Australien – und das bereits seit 1913. Thomas wusste aus diversen Quizsendungen, dass die Frage nach der Hauptstadt von Australien in über 90 Prozent falsch beantwortet wird.
Die Kandidaten entscheiden sich entweder für Melbourne oder Sydney, von Canberra haben sie entweder noch nie etwas gehört oder nichts über die Funktion dieser Stadt als Hauptstadt Australiens gewusst.
Alte Freunde
In Canberra angekommen ließ er sich zur nordkoreanischen Botschaft fahren. Der mürrische Polizist, der vor dem schon leicht angerosteten Eisentor der Botschaft Wache hielt, war einerseits überrascht, dass überhaupt jemand einmal diese Botschaft besuchte.
Andererseits war es eine willkommene Abwechslung in seinem sonst extrem eintönigen Tagesablauf.
„Was wollen Sie hier?“ fragte er Thomas in einer Mischung aus Arroganz und polizeilichem Selbstverständnis. Thomas war nahe dran, auf Grund dieser Gesprächseröffnung die Polizisten zu bitten, seine Bewachung der in den Gärten herumtobenden Zwerg-Kängurus und der in den Bäumen spielenden Koalas für einen Moment zu unterbrechen, um ihn hereinzulassen. Andererseits war Thomas klar, dass, wenn er jetzt diesem Polizisten irgendeine ironische Antwort geben würde, er dann wahrscheinlich gleich wieder zurück nach Sydney reisen könnte.
Also holte Thomas seinen Pass aus der Tasche und schlug ihn so auf, dass der Polizist alle Seiten gut sehen konnte. Dann fing er an, in seinem Pass in Ruhe all die Seiten durchzublättern, wo die großen und jeweils eine ganze Passseite ausfüllenden Visa-Genehmigungen der nordkoreanischen Botschaft in Berlin zu sehen waren – zusammen mit den diversen Einreise- und Ausreisestempeln, die jedes Visum umrahmten, wenn er damit in Nordkorea eintraf oder wieder zurückflog. Der Polizist war unsicher geworden und sprach etwas in das kleine Mikrofon, das auf seiner rechten Schulter befestigt war.
Der Sekretär
Jetzt öffnete sich die Tür der Botschaft und ein kleiner Mann im schwarzen Anzug, weißem Hemd und dunkelroten Schlips näherte sich den beiden Diskutierenden. Thomas erkannte sofort, dass es sich um eine Art Sekretär der Botschaft handeln müsste. Er kannte diese Art der Kleidung und des Auftretens zur Genüge von seinen diversen Besuchen der nordkoreanischen Botschaft in Ostberlin. Gleichzeitig wusste er auch, wie er jetzt weiter vorgehen sollte.
Er ignorierte die Polizisten, wandte sich an den Botschaftssekretär und zeigte ihm seinen Pass mit der Bitte, darin selber zu blättern.
Der kleine Mann im schwarzen Anzug sah sich einige Seiten an und lächelte dann ein bisschen. „Willkommen, alter Freund„, sagte er in einem einigermaßen akzeptablen Englisch. „Wir haben sie schon erwartet, leider haben sie es versäumt, uns über den genauen Zeitpunkt ihres Besuchs vorher zu informieren.
Auch das passte ziemlich genau in das Schema, was Thomas schon so oft in einer anderen Botschaft gehört hatte. Die Mitarbeiter dieser nordkoreanischen Botschaften haben mit Sicherheit maximal einen Besucher pro Woche und entsprechend große Mühe, die restlichen Tage einigermaßen zu überstehen.
Alter Freund
Und die Formulierung alter Freund bedeutete hier genau das Gleiche wie in China. Aus Höflichkeit gibt es wieder in China noch in Nordkorea die Bezeichnung Freund oder Feind. Diese brachialen Bezeichnungen werden dort ersetzt durch die Formulierungen neuer Freund und alter Freund.
Bei neuen Freunden handelt es sich um Personen, mit denen man entweder nichts zu tun haben möchte oder die aus irgendwelchen anderen Gründen unsympathisch sind. Die Bezeichnung alter Freund zeigt die Bereitschaft, seinem Gegenüber höflich, respektvoll und interessiert zu sein.
Hat man diesen Status einmal erreicht, ist er der Schlüssel, mit dem alle weiteren Türen geöffnet werden können. Thomas nickte dem Polizisten kurz zu und forderte ihn jetzt – entgegen seiner ursprünglichen Absicht – auf, genau und intensiv die in den benachbarten Gärten herumspringenden Zwerg-Kängurus und in den Bäumen hängenden Koalas zu bewachen und ging mit seinem Begleiter in die Botschaft.
Kafka
Die Botschaft bestand genauso wie in Ostberlin aus mehreren großen und total leeren Räumen. Einige Bilder und Tuschezeichnungen an einer Wand, ein paar leere, herumstehende Stühle – ansonsten war es wie in einem Roman von Franz Kafka: still, drohend und unwirklich.
Thomas wurde in einen sehr großen und völlig leeren Besprechungsraum geführt. Er musste dort die obligatorischen 30 Minuten warten.
Dann erschien der Botschafter zusammen mit seinem Sekretär.
Der Sekretär legte einige Papiere vor sich auf den Schreibtisch und Thomas sah, dass dort schon die jeweiligen Fotos von dem alten Herrn Young und dem jungen Herrn Sora eingeheftet waren.
Routine
Jetzt brauchte Thomas keinen Small Talk mehr machen, sondern kam schnell zur Sache. „Sie wissen, sehr verehrter Herr Botschafter, dass meine Freunde in ihrem schönen Heimatland zusammen mit mir seit Jahren einigermaßen erfolgreich verschiedene Waren nach Europa verkaufen. Wir wollen dieses Geschäft jetzt vergrößern und haben deswegen mit unserer Firma Magnolia sowohl in Peking als auch in Berlin Niederlassungen gegründet. Eine weitere Niederlassung ist jetzt in Australien geplant und ich würde mich freuen, wenn Sie uns hier ihre freundliche Unterstützung zusagen könnten.
Der Botschafter war etwas irritiert, dass Thomas den obligatorischen 10-minütigen Small Talk einfach weggelassen hatte. Diese Selbstsicherheit zeigte dem Botschafter aber auch, dass er es hier mit jemandem zu tun hatte, der die Gepflogenheiten kannte und auch in der Lage war zu entscheiden, wann er sich darüber hinwegsetzen durfte. Insofern war Thomas nicht nur ein alter, sondern in der Terminologie der nordkoreanischen Diplomatie ein sehr alter Freund.
Abgeklärt
Thomas gab dem Botschafter das kurze Schreiben seiner Anwältin. Der Botschafter gab es seinem Sekretär weiter. Thomas bat entsprechend des Schreibens der Anwältin von Seiten der Botschaft ein kurzes Empfehlungsschreiben aufzusetzen, worin man die Gründung einer Niederlassung von Magnolia in Australien begrüßt und gleichzeitig den Leser dieser Zeilen bittet, dieses Vorhaben bestmöglich zu unterstützen.
Der Sekretär verließ das Besprechungsgebäude und kam einige Minuten mit einem großen und sehr bunten Papier zurück. Der Briefkopf war in typischen großen, roten und goldenen Buchstaben gedruckt, das Konterfei des aktuellen Herrschers von Nordkorea sah vom Briefkopf aus den Betrachter an – in einer Mischung aus Strenge, Güte und nicht ganz gelungener Abgeklärtheit. Ansonsten war der Text in Koreanisch und Englisch und es war im Prinzip mehr oder weniger wörtlich die gewünschte Empfehlung, die die Anwältin aufgesetzt hatte und die der Sekretär abgeschrieben und ins Koreanische übersetzt hatte.
Thomas bedankte sich in höflicher und korrekter Art und Weise bei den Beiden und bekam noch die Zusicherung, dass, falls irgendetwas Außergewöhnliches passieren sollte, er sich jederzeit wieder an seine Freunde hier in der nordkoreanischen Botschaft wenden könne.
Der Rest war reine Routine: Die Anwältin erledigte den Papierkram, der für die Gründung der Niederlassung nötig war. Von der Filiale der Marschall Island Bank bekam er die Unterlagen für die Eröffnung eines Kontos und damit war die Vorbereitung, zu der Thomas nach Australien gereist war, abgeschlossen und erledigt.
Nobody is perfect
Das ganze verlief so reibungslos, dass Thomas nur darauf wartete, dass die ersten Hindernisse auftauchen würden. Und das geschah schneller als er geplant hatte. Er hatte den Einkauf der Ware so geplant, wie er es Herrn Rudolf und auch in Pjöngjang seinen koreanischen Freunden erklärt hatte. Man würde bei den Auktionen, die mehrmals die Woche in den verschiedenen australischen Provinzen stattfinden, mitbieten und sich so die Ware sichern, die man braucht.
Als er dies einem seiner australischen Freunde mitteilte, schüttelte dieser nur den Kopf. „Hast du eigentlich selber schon mal so eine Aktion mitgemacht?“, fragte er. Thomas bejahte, denn er hatte verschiedene Auktionen persönlich begleitet. Allerdings mit Schwerpunkt auf der Bezeichnung „begleitet“, denn jedes Mal war ein australischer Fachmann – meistens ein spezieller Mitarbeiter einer Exportfirma aus Sydney oder Melbourne – mit ihm zusammen dort und er war nur der Beobachter des ganzen Ablaufs. Die eigentliche Arbeit machte sein jeweiliger Bekannter. Der musste morgens ganz früh die in der Nacht eingetroffenen Herden inspizieren, die in großen, umzäunten Sammelplätzen in der Nähe des Schlachthofs abgeladen worden waren.
Im Prinzip lief das so ab: Am Ende der Nacht oder am frühen Morgen kamen als Beispiel 3 große Lkws von einer Farm beim Schlachthof an. Jeder Lkw hatte 2 oder sogar 3 Anhänger, in Australien waren diese Riesen-Lkw-Kolonnen erlaubt. Ein Lkw brachte, je nachdem wie viele Anhänger er hatte, zwischen 800-1200 Tiere, die dann alle in einem umzäunten Gatter abgeladen wurden. Gleich nach dem Frühstück kamen die Einkäufer und gingen von einem Gatter zum nächsten. Sie beurteilten die Qualität der Tiere, der Wolle, der Größe und alles, was noch zu beachten war. Dann machten sie sich ihre Notizen. Auf diese Art und Weise wurden in den ersten beiden Stunden sämtliche Neuankünfte von den Fachleuten beurteilt und bewertet. Gegen Mittag traf man sich dann im eigentlichen Auktionsgebäude.
Die Auktion
Der Auktionator machte nichts weiter als dass er eine Nummer aufrief. Das war dann zum Beispiel die Herde von dem Farmer, der heute Morgen ganz früh seine 1.100 Tiere gebracht hatte und die jetzt in Gatter Nummer 13 standen. Es war auch nicht wichtig, um wie viele Tiere es sich dabei genau handelte. Wichtig war nur der Durchschnittspreis respektive der Preis, den Einkäufer bereit war für diese Herde zu bezahlen.
Jetzt rief der Auktionator die Partie Nummer 13 auf und schrie dazu irgendwelche Sätze, die in einem Englisch gehalten wurden, was Thomas noch nie gehört hatte. Aber das war offensichtlich hier genauso wie bei vielen anderen Aktionen auf der Welt, wo in einer geheimnisvollen Auktionssprache herumgeschrien wurde. Nachdem der Auktionator die Nummer aufgerufen hatte, drückte er auf einen Knopf. Eine große runde Scheibe über ihm hatte einen einzelnen Zeiger, der anfing, sich langsam im Uhrzeigersinn von oben nach unten zu drehen.
Dieses System der Versteigerung war wesentlich schärfer und benötigte viel mehr Fachwissen als die normalen Versteigerungsarten, die man im Kunsthandel oder sonstwo in Deutschland und Europa kannte und wo man sich durch eine Erhöhung des Preises immer weiter nach oben schraubte. Das australische System war einfach und brutal. Der Wert eines durchschnittlichen Schafes bewegte sich zwischen 10 und 40 Dollar pro Kopf, also pro Tier. Die große Scheibe über dem Auktionator hat ganz oben und dick unterstrichen die Zahl 50. Dann folgten im Uhrzeigersinn 40 weitere Striche. Hinter jedem Strich stand eine Zahl, die immer eine Nummer kleiner war. Nachdem der Auktionator sein „GO“ geschrien hatte und damit die Versteigerung dieser Partie anfing, setzte sich der Zeiger langsam in Bewegung.
Während der Zeiger den ersten Abschnitt zwischen den Zahlen 50 runter bis 40 durchlief, waren die anwesenden Käufer noch relativ ruhig.
Dann ging es aber Schlag auf Schlag. Derjenige, der als Allererster „Stop“ geschrien hatte, bekam die ganze Partie zu dem Preis, der von dem großen Zeiger angezeigt wurde. Es war also im Prinzip witzlos, darauf zu warten, dass man mal ein Schnäppchen bekam, denn irgendjemand anders schrie immer vorher sein „Stop“ und die Partie war weg. Später wurden dann die Köpfe respektive die Anzahl der Tiere gezählt, die in dem Gatter waren. Der Käufer zahlte, der Verkäufer bekam sein Geld und alle waren zufrieden.
Unmöglich
Thomas war jetzt klar, was sein Freund meinte. Weder er selber noch geschweige denn irgendjemand seiner koreanischen Freunde wären in der Lage, auch nur ansatzweise sowohl die Qualität zu beurteilen als auch in dem ganzen Wirrwarr der Auktion eine Rolle zu spielen. Er musste also seinen Plan hier ändern, und er tat es schnell und gründlich.
Die Freunde
Vor ungefähr 100 Jahren trafen sich der Engländer Warren Miller und der Holländer Pete Groningen in Sydney in einer Kneipe beim Bier.
Beide waren erst vor kurzer Zeit aus ihren Ländern nach Australien ausgewandert, um hier ihr Glück zu machen. Zehn Jahre später gehörten ihnen bereits einige Schlachthäuser, eine Spedition und ein kleines Kühlhaus. Zwanzig Jahre später waren sie Inhaber einer großen und angesehenen Firma und noch mal zehn Jahre später waren sie Inhaber eines der größten australischen Handelshäuser, die es gab.
Sie hatten eigene Firmen für alle möglichen Arten im Handel und Transport, sie hatten inzwischen eine eigene Eisenbahnlinie, zwei Elektrizitätswerke und große Teile des Hafens gehörten ihnen ebenfalls. Das ganze Konglomerat von über 100 einzelnen Firmen wurde unter dem Namen Metro bekannt. Metro stand offiziell als Abkürzung für die „Mear-Energy-Transport-Railway-Organisation“, aber in ganz Australien kannte man diese Firma nur unter dem abgekürzten Begriff „Metro“.
Jonathan
Thomas hatte vor einiger Zeit den Metro-Leiter der Abteilung Leder-Felle-Wolle kennengelernt. Er hieß Jonathan Spencer, hatte sich 30 Jahre lang in der Firma Metro hochgearbeitet und war vor einigen Jahren zum Gesamtleiter dieser auch für Metro wichtigen Abteilungen ernannt worden. Allein in dieser Sparte gab es mehr als 20 einzelne Firmen, die jeweils ganz spezielle Aufgaben und Arbeitsgebiete hatten.
Nachdem Thomas seinen Plan einer direkten Mitwirkung bei den Auktionen at acta gelegt hatte, suchte er jetzt eine Möglichkeit, wie er die Ware, die er in Australien kaufen wollte, schlussendlich nach Nordkorea liefern könnte. Er besprach diesen Punkt ausführlich mit Jonathan. Sowohl Thomas als auch Jonathan waren pragmatische Geschäftsleute. Jeder wusste, wo die eigenen Vorteile und auch die Schwierigkeiten des jeweils anderen lagen. Aber der Wille zur Einigung war da. Jonathan reizte auch bisschen die Exotik dieser Transaktion, denn dass er irgendwann in seinem Leben mal etwas mit Nordkorea zu tun haben würde, das hätte er sich nie träumen lassen.
Das Büro
In dem Bürogebäude von Jonathan wurde ein kleiner Raum, in dem normalerweise Akten aufbewahrt wurden, umfunktioniert als Zentrale für die neue Firma Magnolia Australia Ltd. Das war der offizielle Name, der bei der Gründungsfeier vor zwei Wochen ins Firmenregister von Sydney eingetragen wurde.
Auf die Eingangstür des kleinen Ein-Zimmer-Büros schraubte Thomas ein weiteres Exemplar des Messingschildes, das er vor längerer Zeit mehrfach in Peking anfertigen ließ und machte die obligatorischen Fotos. Zur Gründung der neuen australischen Niederlassung von Magnolia waren die beiden Herren Yuang und Sora mit ihrem neuen Visum nach Australien geflogen. Es war das erste Mal, dass beide im Ausland waren und sie kamen aus dem Staunen nicht heraus. Nachdem Thomas sie zu zwei Auktionen mitgenommen hatte, verstanden sie schnell, warum ihre Firma Magnolia besser alle Ware von Jonathan kaufen würde.
Magnolia 88
Drei Wochen später wurde ein Foto im Hafen von Sydney gemacht, wo die beiden Freunde aus Nordkorea sowie Thomas und Jonathan stolz vor der noch geöffneten großen Containertür standen, mit der der erste Transport australischer Lammfelle nach Nordkorea durchgeführt werden sollte. Vorher hatte Thomas den beiden auf dem Lager der Firma der METRO, wo die Ware sortiert und in Ballen gepresst wurde, erklärt, welche Eigenschaften diese spezielle Ware haben würde.
Diese Sortierung, die auf dem Lager genau nach den Vorgaben von Thomas gemacht wurde, sollte – um sicherzustellen, dass zukünftige Lieferungen genau nach dieser Vorgabe erfolgen – einen speziellen Namen oder Sortier-Code erhalten. Der Einfachheit halber wurde sie Magnolia 88 genannt, denn 8 war genau wie in China auch die Glückszahl in Nordkorea, und die doppelte 8 bedeutete doppeltes Glück.
Bezahlt
Magnolia Australia hatte die Ware vorher offiziell von Metro gekauft und mit dem Geld bezahlt, was sie von ihrem Konto bei der Marshallinseln-Bank abhoben hatte. Für Metro war es ein ganz normaler Inlandsverkauf, Magnolia war der offizielle Exporteur und somit wurden auch alle Exportpapiere auf Magnolia aufgemacht. Darunter die Waren-Begleit-Papiere, Rechnungen, Packlisten, Gesundheits-Zeugnisse, Ursprungszeugnisse und alle weiteren Dokumente, die in jener Zeit nötig waren, wenn man Waren von Australien in andere Länder der Welt exportierte. Eine Woche später verließ der erste Container, der jemals in der Geschichte Australiens von dort nach Nordkorea geschickt wurde, den Hafen von Sydney.
Nampo
Obwohl es keine direkten Schiffsverbindungen von Australien nach Nordkorea gab, war Nampo als Bestimmungshafen Nampo in allen Papieren eingetragen. Nampo befindet sich an der Mündung des Flusses Taedong, etwa 54 km südwestlich von der Hauptstadt Pjöngjang. Nampo ist der Haupthafen von Nordkorea. Allerdings waren die gesamten Schiffsverbindungen von und nach Nampo sehr gering. Containerbrücken oder eine sonstige Infrastruktur, wie man sie bereits in den meisten Häfen der Welt für das Be- und Entladen von Containern hatte, gab es in Nampo nicht.
Fotos
Herr Yuang flog zusammen mit Herrn Sora zurück nach Pjöngjang, nachdem sie viele Fotos gemacht hatten von dieser ersten Lieferung aus Australien nach Nordkorea. Einige der Fotos erschienen dann 2 Wochen später in der „Arbeiterzeitung“, dem offiziellen Organ des Zentralkomitees. Mangels Konkurrenz war dieses Blatt gleichzeitig auch die meistgelesene Zeitung des Landes.
Niemals
Was außer Thomas niemand ahnte oder wusste, war die Tatsache, dass dieser Container niemals in der Fabrik von Herrn Yang ankommen würde. Genauso wenig wie all die anderen Container, die Magnolia in den nächsten Jahren von Australien nach Nordkorea schickte.
Elftes Buch
Helvetia
Oder?
Es gab keinen Satz, den Herr Aaron Keller nicht entweder mit diesem Wort begann oder mit diesen Worten beendete. Und immer mit dem Fragezeichen. Als typischer Schweizer begann er einen Satz, indem er zuvor diverse Alternativen in seinem Kopf durchlaufen ließ.
Wenn er dann anfing zu kommunizieren, wusste sein Gegenüber leider nicht genau, um welche Alternativen es sich dabei handelte. Und am Ende jedes Satzes wechselte er automatisch von dem Überlegungsmodus hinüber in den Fragemodus – indem er jeder noch so unwichtigen Bemerkung ein kleines „Oder?“ anfügte, um sich selber noch einmal die möglichen Alternativen durch den Kopf gehen zu lassen.
Es war nicht einfach, mit Aaron Keller eine einigermaßen durchgängige Unterhaltung zu führen.
Thomas hatte am Anfang, als er seinen späteren Großkunden Aaron Keller gerade kennengelernt hatte, einmal nachgeschlagen und rausgefunden, dass man diese Eigenschaft der Kommunikation auch Helvetismen nennt – frei nach Helvetia, dem gelobten Nachbarn Bayerns sowie von Rest-Deutschland.
Das Muster
Oder? Sehen Sie mal, lieber Herr Deckel, was ich hier habe. Oder?
Und damit holte Aaron Keller ein in Seidenpapier eingewickelten kleinen Schuh aus seiner Aktentasche und stellte ihn so genau wie möglich zwischen die beiden Kaffeetassen, die Herr Keller und Thomas jeweils vor sich auf dem kleinen runden Tisch hatten – denn viel Platz gab es auf dem Messestand der Firma Deckel in Frankfurt nicht.
Wie jedes Jahr war Aaron Keller pünktlich am Sonntagmorgen um 9 Uhr bei Messebeginn der erste Besucher, den Thomas auf seinem Messestand immer am letzten Tag jeder Messe zu Besuch hatte.
Aaron war mit seiner Geschäftsführerin, einer freundlichen, strengen, stillen Schweizerin, ganz früh am Morgen von zu Hause aus losgefahren, um eine teure Übernachtung in Frankfurt zu umgehen. Und sie würden am Nachmittag des gleichen Tages wieder zurückfahren, um dann am Montagmorgen wie gewohnt in ihrem Geschäft in der kleinen Stadt am Rande der Alpen ihre Arbeit zu beginnen.
Am letzten Messe-Tag war kein großes Geschäft mehr zu erwarten.
Der Sonntag wurde von Frankfurter Familien genutzt, um einmal über die Messe zu schlendern, um vielleicht etwas Exotisches oder Neues zu entdecken.
Das Messepersonal war ab Mittag damit beschäftigt, sich untereinander alles zu verkaufen, was sie während der letzten 4 Tage ausgestellt hatten.
Nur Herr Aaron Keller war hier die rühmliche Ausnahme.
Die Unterhaltung
Wie in jedem Jahr dauerte die Unterhaltung zwischen Aaron Keller und Thomas mindestens eine, manchmal sogar zwei Stunden. In den ersten beiden Jahren hatte Thomas sich noch eine kleine Strichliste in seinem Notizbuch angefertigt, wo er aufzeichnete, wie oft sein freundliches Gegenüber vor und nach jedem Satz das Wort „oder?“ benutzte. Das hat er längst aufgegeben – denn das, was Herr Keller ihm mitteilte, war wirklich interessant.
„Oder? Könnten Sie mir eventuell so eine Ware beschaffen? Oder?„, fragte Herr Keller, indem er mit dem Finger auf das Schuhmuster zeigte.
„Oder? Oder nicht? Oder? – Hier musste Thomas sich richtig anstrengen, weil ein Satz mit drei „oder?“ Bei insgesamt nur 4 Wörtern – da war selbst Thomas zuerst überfordert. Dann erkannte er, dass Keller damit nur eine Antwort auf die Frage erhoffte, ob Thomas in der Lage sei, so einen Artikel zu liefern.
Der Schuh
Der Schuh war hell, sehr leicht und hatte oben am Einstieg einen größeren weißen Wollkranz. Er bestand im Prinzip komplett aus Lammfell.
Der eigentliche Schuh war so gearbeitet, dass der gesamte Innenbereich des Schuhs aus kurzem, flauschigem Lammfell bestand. Nur beim Einstieg in den Schuh war er umgekehrt verarbeitet, hier war die Wolle nach außen sichtbar.
Statt einer Ledersohle hatte dieser Schuh ein Gummiprofil, das offensichtlich irgendwie an die Sohle gepresst oder angeklebt war.
Thomas hatte so etwas auch noch nicht bewusst gesehen. Er kannte aus Spanien und Portugal einfache Lammfellschuhe, die in Art eines Slippers gearbeitet waren. Aber deren Wolle war hart, kraus und mit Sicherheit kratzte sie am Fuß, wenn man barfuß in den Slipper rein schlüpfte.
Die Lämmer, Schafe oder Ziegen, aus denen dieses Produkt in Südeuropa gemacht wurde, waren in den dortigen Gebieten oftmals unterernährt und hatten keinerlei dichte und flauschige Wolle auf der Haut.
Er hatte dann so etwas Ähnliches als Pantoffel gelegentlich in Japan gesehen, weil die Japaner grundsätzlich innerhalb des Hauses nur in Pantoffeln oder auf Strümpfen rumlaufen.
Er erinnerte sich auch an Skandinavien, dort musste man auch die Schuhe ausziehen, wenn man ins Haus trat. Aber genau konnte er sich nicht mehr erinnern, es war zu unwichtig gewesen, um es sich zu merken.
Einkäufe
Vor ihrem Gespräch war Herr Keller mit seiner Geschäftsführerin langsam über den gesamten Messestand der Firma Deckel geschlendert.
Sie kauften einen Großteil der Messe-Ausstellungsstücke, um sie dann in ihrem Wagen kostengünstig in die Schweiz mitzunehmen.
Herr Keller zahlte alles wie immer mit den verschiedenen Umschlägen, die er in seinem Aktenkoffer sorgfältig in den verschiedenen Fächern verstaut hatte.
Als guter Schweizer kannte er den Vorteil, wenn man Geld in einem Koffer mit sich transportiert.
Znüni
Und während jetzt die Mitarbeiter von Thomas dabei waren, all das, was Herr Keller gekauft hatte, in irgendeiner Form zusammenzupacken, damit es transportfähig wird, ging man zum gemeinsamen Frühstück über.
Das Wort Znüni hatte Thomas vor drei Jahren von Herrn Keller zum ersten Mal gehört.
Es war ein typischer Helvetismus und bedeutete „Kleine Zwischenmahlzeit am Vormittag kurz nach 9 Uhr“.
Delia, die Inkaprinzessin, Gattin und Pflegerin von Thomas, hatte wie jedes Jahr am Abend davor einige chilenische Empanadas in dem kleinen Restaurant in der Frankfurter Innenstadt gekauft, wo zwei ihrer chilenischen Landsleute kleine südamerikanische Leckereien zubereiteten und verkauften.
Und wie immer waren Herr Keller und seine Geschäftsführerin über diese kleine Zwischenmahlzeit äußerst erfreut.
Zumal diesmal sogar das kleine Glas Wasser neben dem Kaffee stand, etwas, was man in Hamburg in dieser Art nicht kannte.
Der Vortrag
Herr Keller griff nach seiner Aktentasche, holte einen kleinen Schnellhefter heraus, legte ihn vor sich hin und öffnete ihn. Er hatte darin 3 oder 4 Seiten abgeheftet, alle mit handschriftlichen Bemerkungen und Informationen.
Als er dann in seiner ruhigen, sachlichen und gelegentlich etwas oberlehrerhaften Art und Weise anfing zu dozieren, unterbrach Thomas ihn schnell.
„Entschuldigung, lieber Herr Keller, ich weiß natürlich ihre ganzen Vorbereitungen zu schätzen und bin sehr gespannt, was sie mir alles mitgebracht haben“ – und dabei deutete sie auf die Papiere, die vor Herrn Keller lagen.
„Aber da es sich mit Sicherheit um Informationen handelt, die für das Geschäft sehr wichtig sein dürften, möchte ich Sie freundlich fragen und bitten, ob ich das, was sie mir jetzt erzählen, kurz auch auf meinem kleinen Diktiergerät hier mit aufnehmen kann. Damit holte er ein kleines Band-Diktiergerät aus seiner Tasche, legte es auf den Tisch und blickte Herrn Keller fragend an.
Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein Internet, alle Informationen, die man sich zu irgendeinem Thema zusammensuchen musste, waren verstreut in Bibliotheken, auf Behörden, eventuell in Zeitungsarchiven oder über Sachbücher zu bekommen. Und Thomas kannte Herrn Keller – dieser Schweizer Unternehmer war mit Sicherheit sehr gut vorbereitet.
Herr Keller war erfreut, dass Thomas und seine Mitarbeiter so viel Respekt vor seinen Notizen und wohl auch seinem Vortrag hatten.
Er willigte gerne ein.
Frau Hauser
Eine Woche später schrieb Frau Hauser, die seit Jahrzehnten erst als Chefsekretärin von Thomas Vater und danach jetzt für Thomas arbeitete, das gesamte Tonband ab.
Es wurden zum Schluss acht eng beschriebene Seiten, auf denen all das stand, was Aaron Keller in Frankfurt auf der Messe erzählt hatte.
Frau Hauser war die erste Mitarbeiterin der Firma, die den kurz zuvor von Thomas angeschafften neuen Bürocomputer benutzen konnte.
Es war eine IBM 286, seinerzeit das Nonplusultra für das moderne Büro.
Sie war auch die erste Mitarbeiterin, die das neue Schreibprogramm „Word“ in den Grundzügen erlernt hatte.
Nachdem sich Frau Hauser den ersten Teil des Tonbandes angehört hatte, fragte sie Thomas etwas zaghaft, ob sie auch die in gewissen Mengen in dem Band enthaltenen „oder“ mit aufschreiben sollte.
Thomas und sein Verkaufsleiter, die beide bei den Gesprächen Frankfurt am Tisch dabei waren, schmunzelten etwas und gaben ihr die Erlaubnis, alle „oder“-Formulierungen wegzulassen.
Daraufhin machte Frau Hauser sich den Spaß und schrieb das Ganze so ab, wie sie es gewohnt war, als Diktat – und damit wortwörtlich.
Dann zeigte sie ihren beiden jüngeren Kollegen eine Funktion, die sie gerade in diesem Schreibprogramm gelernt hatte, es hieß „Suchen und Ersetzen“.
Sie markierte den gesamten Text, gab „Suchen und Ersetzen“ ein und schrieb „oder“ in die obere Zeile.
Die Zeile darunter drückte sie nur auf die Leer-Taste, sodass der Computer den Begriff „oder“ einfach ersatzlos streichen würde. Der Computer bestätigte daraufhin, dass er 432 „oder“ im gesamten Text gestrichen und gelöscht hatte.
Extrakt
Da Frau Hauser gewohnt war, selbstständig zu arbeiten, fing sie an zu kürzen.
Sie hatte während ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Chefsekretärin die Fähigkeit entwickelt, zwar alles, was ihre Chefs ihr diktierten, brav mitzuschreiben, aber im fertigen Brief waren oftmals die Ausführungen, Gedanken und Zusammenhänge auf das Wesentliche reduziert, ohne dass es groß auffiel.
Fakten
Der zweiseitige Extrakt bestand zum größten Teil aus Zahlen, Erklärungen und kurzen Überlegungen.
Schuhe: Herstellungspreis in Asien zurzeit 6-8 US-Dollar, Verkaufspreis in Europa umgerechnet ca. 30-50 Dollar. Schutz heimischer Schuhindustrie in der Schweiz ist nicht gegeben, da es in der gesamten Schweiz keine eigene Produktion mehr gibt.
Schuh-Produktion in der Europäischen Gemeinschaft: in Deutschland noch ca. 20 Fabriken im Raum Pirmasens und Umgebung, Italien große Anzahl Schuhfabriken, Spanien und Portugal ebenfalls. Schutz der jeweiligen Länder für ihre eigene Schuhindustrie wird durch Zölle und Import-Quoten organisiert. EU-weit zurzeit 25-30 Prozent Zoll auf den Wert, genaue Bestimmungen sind sehr kompliziert, abhängig z.B. von den Ledersohlen, Gummisohlen, Stiefeln, Halbschuhen oder Hausschuhen.
Zusätzlich erschwert durch Windhund-Verfahren.
Dieses Windhund-Verfahren bedeutet: Es wird vom Ministerium eine Zahl genannt, bis zu der eine bestimmte Zoll-Position ins Land entweder zollfrei oder zollbegünstigt eingeführt werden darf.
Ist diese Zahl erreicht und wird sie überschritten, wird jeder Import nachträglich mit dem vollen Zollsatz belastet.
Es wird aber nirgends veröffentlicht, wie hoch in diesem Moment die bereits eingeführte Menge in diesem Kontingent schon ist.
Jeder Importeur muss damit rechnen, dass er mit seiner Ware zu spät kommt und er dann nachträglich automatisch den vollen Zollsatz bezahlen muss.
Die Schuhindustrie ist weltweit organisiert eine legale Mafia. Wer drin ist in diesem Syndikat, ist innerhalb der Familie und wird von der Familie geschützt. Wer neu reinkommen will, hat kaum Chancen.
Wer dieses Kartell angehen will oder sich versucht querzustellen, wird wirtschaftlich und durch internationale Anwälte so verfolgt und in die Enge getrieben, dass er sich kaum dagegen wehren kann.
Versuche asiatischer Länder, mit irgendwelchen Ausnahmeregelungen oder sonstigen Deklarationen ihre Ware in die EU einzuführen, sind in den letzten 10 Jahren praktisch immer gescheitert.
Zu dem Lammfellschuhmuster: Es kommt aus Neuseeland. Es kostet dort bereits über 20 Dollar. Mit allen Nebenkosten inklusive Zoll würde es Herrn Keller bereits im Einkauf über 30 Dollar kosten. Er müsste es dann erst noch an die Einzelhändler weiter verkaufen, ein Verkaufspreis für den Endverbraucher wäre dann irgendwo knapp unter 100 Dollar. Das ist Illusion.
Andererseits gibt es einen großen Markt allein in der Schweiz für einen gut gearbeiteten, leichten und angenehm zu tragenden Lammfell-Hausschuh.
Er darf in der Schweiz aber im Laden auf keinen Fall die magische 50 Franken – Grenze überschreiten, dieser Preis ist bereits inklusive der Schweizer Mehrwertsteuer und aller sonstigen Abgaben.
Die Aufgabe von Thomas soll also sein, ob er so einen Schuh in einer Preislage zwischen 10 und 15 Dollar pro Paar produzieren und an Aaron Keller verkaufen kann.
Zurzeit eine reine Illusion, aber Thomas hatte einmal im Rahmen eines Gesprächs gesagt, dass ihn nichts so sehr faszinierte wie die Umsetzung von Illusion in Realität. Das hatte Herr Keller sich gut gemerkt.
Mengen
Dann waren in dem Exposé noch einige Mengenangaben von Herrn Keller aufgegeben worden, die er glaubte absetzen zu können. Zum einen hatte Herr Keller die Menge spezifiziert, die er glaubte alleine in der Schweiz verkaufen zu können. Und dann gab es in diesem Papier wesentlich größere, fast unvorstellbar hohe Mengen, falls es ihm gelänge sollte, diese Art von neuen Lammfell-Hausschuhen auch europaweit zu verkaufen.
Dreizehntes Buch
Die Aufteilung
Im 17. und 18. Jahrhundert eroberten die europäischen Staaten große Teile der restlichen Welt und teilten diese Gebiete, Länder und Kontinente unter sich auf. Spanien besetzte die meisten Gebiete in Süd- und Mittelamerika. Portugal bekam Brasilien und einige kleinere Länder zugesprochen, die man benötigte, wenn man zu den Gewürzinseln nach Südostasien segeln wollte. Frankreich übernahm den nördlichen und westlichen Teil Afrikas sowie diverse kleine Länder und Inseln im Pazifik. England war mit Abstand die größte Kolonialmacht. Das Commonwealth wurde das größte Kolonialgebiet, das die Welt bis dahin gesehen hatte.
Deutschland hatte zwar den letzten Krieg 1871-71 gegen Frankreich zur Abwechslung einmal gewonnen, aber Bismarck und die Könige und Kaiser von Preußen hatten kein allzu großes Interesse an Kolonien in fernen Gebieten. Bismarck wollte den Handel der deutschen Kaufleute schützen und erfand deshalb den Begriff der Schutzgebiete statt Kolonien. Man beschränkte sich jedoch darauf, einige größere Gebiete in Afrika zu übernehmen, insbesondere im heutigen Namibia sowie Kamerun, Togo und Teile von Tansania.
In Asien waren es nur ganz kleine Inseln, die unter deutscher Flagge und Verwaltung lebten. Darunter Teile von Neuguinea und der heutigen Mikronesien.
Tsingtau, China
Das exotische aller deutschen Überseegebiete wurde in einer chinesischen Hafenstadt errichtet. Von 1898 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 gehörte die kleine chinesische Küstenstadt Tsingtao zum Deutschen Reich. Es gab dort eine kleine Militärgarnison, einige deutsche Schulen, ein deutsch-chinesisches Krankenhaus und eine deutsche Kolonialverwaltung im preußischen Stil. Also versuchte die kleine deutsche Verwaltung in diesem total abgelegenen chinesischen Küstengebiet, alles korrekt aufzubauen und durchzuführen – und dabei möglichst alle deutschen Paragrafen und Vorschriften zu beachten.
Das Ideal war auch hier der Obrigkeitsstaat im Mini-Format. Wer sich ein- und unterordnete wurde gelobt, alles andere wurde in diesem winzigen, chinesischen Kolonialgebiet hart und erbarmungslos bestraft. Diese 21 Jahre deutsche Besatzung in Tsingtau, wie die Provinz und deren Hauptstadt damals hießen, waren für die Weiterentwicklung dieser chinesischen Region bestimmend.
Einsam
Als Thomas im Rahmen seiner ersten beiden Jahre in China herumreiste, um Standorte für eine mögliche Produktion zu suchen, war er auch zweimal in dieser Provinz. Tsingtao ist von einigen größeren Bergketten umgeben, sodass man auch von der natürlichen geografischen Lage her ziemlich isoliert war.
Es gab ganz wenig Besucher, die meisten Fremden kamen per Schiff, denn Tsingtao ist eine der ganz wenigen chinesischen Häfen, wo die Küste steil ins Meer runterfällt und man dadurch einen Tiefwasserhafen hat. Die wenigen kleinen Hotels waren auf typisch chinesischem Provinzstandard. Da man Thomas dies nicht zumuten wollte, übernachtete er bei beiden Besuchen im Gouverneurspalast.
Der Palast
Der deutsche Gouverneur hatte auf einem kleinen Felsen hoch über der Stadt eine Mischung aus Gouverneurspalast und Rathaus errichten lassen. Dort residierte er, dort wurde die ganze Verwaltungsarbeit erledigt, das Gericht war dort eben so untergebracht wie die restliche Stadtverwaltung, die aus wenigen deutschen Beamten bestand. Die Wohnung des Gouverneurs war zwar 60 Jahre lang nicht mehr benutzt, aber für ganz wenigen und dazu noch hochrangigen Besucher dieser Kleinstadt stand sie als Hotel zur Verfügung – zusammen mit einem Stab von einem Dutzend chinesischer Angestellte, vom Koch angefangen über Chauffeur, Diener, Gärtner bis hin zur Wachmannschaft.
Es gab bei diesen ersten Besuchen von Thomas in Tsingtao keine Chinesen mehr, die aus Erinnerung oder aus der Schulzeit noch Deutsch sprachen. Aber Straßennamen, Gebäudebezeichnungen und einige Monumente waren noch in deutscher Schrift vorhanden.
Das Bier
Und natürlich die wichtigste Errungenschaft, die die Deutschen seinerzeit dort bauten, die berühmte Tsingtao-Bierfabrik.
Sie gehört heute zu den wichtigsten, größten und erfolgreichsten Bierbrauereien Asiens und inzwischen auf der ganzen Welt.
Dadurch, dass Tsingtao so abgeschottet war, dauerte auch die Bahnfahrt dorthin ungewöhnlich lange. Jeder Besuch mit der Bahn musste lange im Voraus geplant werden.
Der Flughafen von Tsingtao war auch einer der letzten, der in China in einer Provinz gebaut wurde. Heute wird er genauso von internationalen Fluglinien angeflogen wie alle anderen chinesischen Flughäfen.
Preußisch
Thomas merkte und spürte bei seinen Besuchen in dieser Stadt, dass die ganze Atmosphäre dort anders war im Vergleich zu vielen anderen chinesischen Städten und Provinzen. Die Stadt und die Provinz selber hatten aufgrund ihrer preußischen Kolonialvergangenheit innerhalb Chinas den Ruf einer sehr disziplinierten, obrigkeitshörigen und korrekten Verwaltung. Es gab keine Berichte über Mauscheleien zwischen irgendwelchen Interessengruppen, so wie sie in Südchina besonders in der Gegend um Hongkong und Macao üblich und an der Tagesordnung waren. Es gab auch nicht die ruhige und leicht verschlafene Grundstimmung, die man in Nordchina und in Zentralchina in Nähe der Mongolei immer wieder fand. Und es gab auch nicht die Geschäftigkeit und Lebhaftigkeit der großen Städte wie Schanghai, Tianjin, Dalian, Beijing und Xian. Im Laufe der Zeit verschwand die Bezeichnung Tsingtao und wurde ersetzt durch die chinesische Version Qingdao.
Mohair
Thomas war das letzte Mal vor 4 oder 5 Jahren in dieser etwas besonderen Stadt Qingdao gewesen. Es gab dort mehrere Gebiete, wo die Bauern Mohair-Ziegen züchteten. Diese Ziegen haben ein silberweiches, extrem leichtes und wärmendes Fließ. Mohair-Haare und Mohairwolle sind auf der ganzen Welt berühmt und gesucht. Thomas kaufte in einigen kleinen Provinzorten in der Nähe von Qingdao die Mengen an Mohair, die er kriegen konnte. Und dabei stieß er durch Zufall auch auf eine kleinere Fabrik, die sich auf die Produktion von Schuhen spezialisiert hatte.
Es waren Lammfellschuhe in einer extrem guten und teuren Qualität. Sie waren wegen ihrer sehr hohen Preise bekannt und wurden auch in einigen großen Städten verkauft, aber der normale Chinese konnte sich so etwas nicht leisten. Eine Exportmöglichkeit für diese Artikel gab es nicht, die Fabrik-Leitung kannte niemanden, der einen Export ermöglichen könnte. Aus diesem Grund war die Menge der Schuhe, die dort produziert wurden, immer gleichbleibend gering.
Als Thomas diese Fabrik besichtigte, waren es nur 300 Arbeiter, die dort überwiegend im Freien arbeiteten, nur geschützt durch ein Bambus-Dach, das auf Stelzen über ihnen befestigt war. Thomas war von der Qualität und der ganzen Umgebung dieser Fabrik beeindruckt und behielt das Ganze in guter Erinnerung.
Lang + Xi
Die beiden jungen Manager dort hießen Lang und Xi und waren entweder Brüder oder sonstwie näher verwandt. Das chinesische Verwandten-System hatte Thomas nie ganz begriffen, es war für ihn auch nicht wichtig. Als Aaron Keller sein Muster zum ersten Mal auf den kleinen runden Tisch im Messestand der Firma Deckel in Frankfurt legte, fiel Thomas sofort der Besuch bei Lang und Xi in der Nähe von Qingdao ein.
Er hatte sich zwar in seinem Leben noch nie mit dem Thema Schuhe beschäftigt, wusste aber, dass es genau wie Lebensmittel und Bekleidung ein weltweites Produkt ist, für das es mit Sicherheit eine entsprechend gnadenlose Konkurrenz geben würde. Und jetzt also dieses Muster von Aaron Keller zusammen mit seinem nüchternen, aber kaufmännisch hochinteressanten Kommentar. Er bewahrte die Zusammenfassung über dieses Gespräch, die Frau Hofer in gewohnt kurzer, aber sorgfältiger Weise angefertigt hatte, gut auf.
Der Abstecher
Einige Monate später machte Thomas auf seiner chinesischen Rundreise zu den verschiedenen Autositz-Fabriken in den nördlichen Provinzen einen kleinen Abstecher und besuchte die Fabrik von Lang und Xi in Qingdao. Diese Fabrik lag nicht direkt in Qingdao, sondern ungefähr 40 km im Inneren.
Sie befand sich unten in einem Tal und lag an einem kleinen Fluss – denn diese Fabrik produzierte ihr eigenes Leder und jede Gerberei, in der Leder oder Felle produziert und gegerbt werden, braucht als Grundvoraussetzung Wasser – und zwar viel Wasser. In dem Gebiet der Schuhfabrik strömten zwei größere Bäche, die sich kurz nach der Fabrik vereinigten und dann durch den kleinen Ort rauschten, dann weiter zum Meer, um in der Nähe von Qingdao in den Ozean zu fließen.
Die Straße
Es gab nur eine Schnellstraße von der Nachbar-Provinz durch die Berge hindurch bis nach Qingdao. Zu der Fabrik von Herrn Lang und Xi führte von Qingdao aus eine holperige Provinzstraße, die nach 40 km den Ort der Fabrik erreicht. Der Name dieser kleinen Stadt war so schwierig auszusprechen, dass Thomas immer bei der Bezeichnung „der Ort von Lang und Xi“ blieb. Von diesem abgelegenen Ort gab es aber auch noch einen kleinen, sehr versteckten Weg durch das Gebirge bis hin zur Nachbarprovinz – aber nach Fertigstellung der Schnellstraße nach Quidao gab es auf diesem Provinzweg praktisch keinen Verkehr mehr. Thomas lernte diesen abgelegenen Provinzweg bei zwei Besuchen kennen, als sein Fahrer direkt von der Nachbarprovinz zum Ort von Lang und Xi fuhr.
Das Muster
Bevor Thomas sich jetzt zu einem weiteren Besuch bei den Herren Lang und Xi aufmachte, suchte er sich in einer der Fabriken, wo seine Autositz-Bezüge produziert wurden, zwei besonders leichte, dünne und dicht bewollte Lammfelle aus, mit seidigem, gleichmäßigem Vlies und ohne sonstige Beschädigungen. Normalerweise war dies eine Qualität, die wesentlich besser und teurer war als die dritte Sorte, die er sonst in Australien für seine Autositzproduktion kaufte.
Aber wie immer gab es auch bei der dritten Sorte einige Felle dabei, die von besserer Qualität waren und mehr oder weniger aus Versehen in diese Sortierung der dritten Qualität reingerutscht waren. „Seht mal“, sagte er zu Lang und Xi, als er nach dem üblichen Empfangsritual in ein kleines Besprechungszimmer geführt wurde.
„Ich hab hier einen Schuh, den ich gerne mit euch zusammen produzieren würde – aber aus einem anderen Rohmaterial. Das Material, das ihr dafür benötigt, habt ihr nicht. Euer Material ist viel zu gut, zu teuer und zu edel, um es für so einen Schuh zu verwenden. Was wir brauchen, ist ein Schuh, der haltbar ist, der größer ist als eure normalen Schuhe, denn die Menschen in Europa haben alle 2-3 Nummern größere Füße als ihr hier in China und wir brauchen auch eine Sohle darunter, möglichst aus Gummi. Der Grund ist einfach und für euch auch sicher nachvollziehbar.
Solche Schuhe werden bei uns in Europa sehr viel auf dem Land getragen. In den Häusern dort gibt es keine große Zentralheizung und auch keine Dampfheizung sowie bei euch hier in vielen Gebäuden. Die Menschen haben im Haus Feuer in der Küche und im Wohnzimmer meistens einen kleinen Kamin. Und das ist alles. Dafür muss die Kleidung wärmend sein, das bezieht sich auch auf die Schuhe.
Und außerdem laufen die Menschen nicht nur damit im Haus rum, sondern sie gehen auch jeden Tag mit diesen Hausschuhen nach draußen. Sei es, dass sie ihre Post aus dem Briefkasten holen, sei es, dass sie ihren Abfall in die Mülltonnen reinlegen, die draußen am Hof-Tor stehen.
Manchmal sind auch die Toiletten in älteren Häusern noch draußen auf dem Hof und dann müssen sie auch dorthin laufen. Und wenn es Herbst oder Winter ist, dann liegt Schnee oder Regen und der Boden ist nass, kalt und matschig. Wenn diese Menschen in Europa all das machen mit Hausschuhen ohne Gummisohle, würde der Schuh nach dem zweiten Besuch im Freien nur noch dreckig und hart sein- ohne Gummisohle kann man da nichts machen. Und Ledersohlen unter diese Lammfellschuhe zu kleben ist nicht einfach und auch viel zu teuer.
Ich weiß, dass ihr mit euren Arbeitern und eurer Produktion spezialisiert seid auf diese Art von Schuhen, wir müssen bloß ein anderes Roh-Produkt einsetzen, d. h. wir müssen die Rohware irgendwo auf der Welt besorgen, damit sie von euch dann verarbeitet werden kann.
Die beiden jungen chinesischen Direktoren waren intelligent und hörten aufmerksam zu, was die Frau Li ihnen alles übersetzte. Dann sagten sie, sie würden sich beraten und morgen dazu Stellung nehmen.
Überraschung
Am nächsten Vormittag erlebte Thomas eine Überraschung, wie er sie selten in seinem abenteuerlichen Leben erlebt hatte. Man setzte sich zum Tee und knabberte dabei an den ungesüßten Keksen, die eine Spezialität dieser Region waren. Es war wie immer kalt in diesem Besucherzimmer – Thomas hatte noch nie ein vorgewärmtes Besprechungszimmer bei seinen Gastgebern erlebt. Wahrscheinlich gehörte es zur normalen Taktik aller Fabriken in Nord- und Zentral-China, alles im kalten zu besprechen.
Je kälter die Temperatur war, desto schnell konnten alle die Besprechung beenden, entweder erfolgreich oder nicht – aber bloß kein endloses Palaver, wie es im Süden dieses Riesenreiches an der Tagesordnung war. Also einige Schlucks des leicht bitteren grünen Tees und normalerweise würde jetzt ein kurzer Small Talk beginnen. Frau Li hatte Thomas schon vorher gewarnt, dass er bitte nicht mit irgendwelchen langatmigen Erklärungen anfangen sollte. Die beiden Lang und Xi hätten eine kleine Überraschung für ihn. Thomas war erstaunt, er hatte keine Ahnung, was ihm in dieser recht abgeschiedenen Gegend von den beiden netten jungen Männern als Überraschung überreicht werden könnte.
Der Karton
Dann ging Herr Li aus dem Zimmer und kam später mit einem kleinen chinesischen Karton zurück. Die chinesischen Schuhkartons waren zu der Zeit alle in einer Größe und in einer Farbe- eine Art langweiliges Mausgrau. Es gab keinerlei Markierung auf diesen Schuhkartons, weder Größenangabe noch Modellbezeichnung. Sie waren einfach nur ein Transportmittel, denn in den Schuh-Verkaufsläden wurde alle Ware offen präsentiert, damit jeder, der sich neue Schuhe kaufen wollte, vorher alles anprobieren konnte.
Und eine Lager- oder Vorratshaltung seitens des Schuhgeschäftes gab es offensichtlich auch nicht.
Das Ergebnis
Herr Li öffnete den Deckel vom Karton ab und überreichte dem total verdutzten Thomas ein paar Lammfellschuhe – in praktisch genau der Qualität wie das Muster, das er den beiden am Tag davor gezeigt hatte. Diese Überraschung war wirklich gelungen.
Thomas blickte fasziniert auf dieses Paar Schuhe. Dann erinnerte er sich daran, dass ein Kopfschütteln in China ein Ja bedeutet – und so konnte er problemlos seinen Kopf hin und her schütteln. Für ihn selber zum Ausdruck des totalen Erstaunens und für seine chinesischen Partner als Ausdruck, dass er das, was ihm gezeigt wurde, als etwas sehr Positives empfand.
Nachtarbeit
Die beiden Lang und Xi hatten am Abend zuvor, nachdem Thomas schon ins Hotel gereist war, mit Frau Li telefoniert. Sie hatten ihr gesagt, sie würden jemand schicken, der die beiden Lammfell-Muster abholen würde – und ob sie es schaffen könnte, das diese beiden Muster von Frau Li irgendwie aus dem Zimmer von Thomas genommen werden könnten, ohne dass Thomas es merkt.
Die beiden wussten nicht, dass Frau Li als gute Hausfrau und Büro-Verwalterin gewohnt war, sich auch um alle Muster zu kümmern – und dass sie die beiden Muster-Lammfelle, die Thomas mitgebracht hatte, bei sich im Zimmer aufbewahrt, weil sie immer einen oder zwei Beutel bei sich hatte, um darin Sachen zu verstauen, die sie auf dem Weg für irgendetwas mal kaufen wollte.
Die beiden Muster wurden abends abgeholt und in der Nacht von vielen fleißigen Händen in der Fabrik von Herrn Lang und Xi zerschnitten, gespannt und mit allen Techniken der Schuhzubereitung versehen. Kurz nach Mitternacht hatte man eine fast perfekte Kopie des Originalmusters erstellt.
Der Auftrag
Thomas war wirklich erstaunt, dankbar und gerührt über das, was Frau Li ihm über die Anfertigung dieser Muster berichtete. Thomas nahm dieses Muster dankend mit und gab Frau Li den Auftrag, auf sehr chinesische Art und Weise herauszufinden, welche Preis-Idee die beiden Direktoren hätten, wenn sie so einen Schuh in größeren Mengen für ihn produzieren würden. Solchen innerchinesischen Preisdiskussionen entzog sich Thomas grundsätzlich, er versuchte gar nicht erst, hier mitzumischen. Am Anfang hatte er diesen Fehler einige Male begangen.
Das Ergebnis war, dass der von seinen chinesischen Gesprächspartnern geforderte Preis mindestens doppelt so hoch war als der Preis, den man verlangt hätte, wenn ihre Gesprächspartner ausschließlich chinesische Landsleute gewesen wären.
Frau Li hatte aber mit ihren innerchinesischen Preisgesprächen diesmal keinen großen Erfolg.
Misserfolg
Auf der Rückfahrt erklärte sie Thomas, dass sie noch länger mit den beiden gesprochen hätte. Aber es gab kein konkretes Ergebnis. Irgendwie haben diese beiden noch etwas von der alten Geradlinigkeit und Korrektheit ihrer preußischen Kolonialgeschichte in ihren Genen.
Beide sagten übereinstimmend zu Frau Li, dass sie leider nicht helfen können, weil sie die Ware, die dafür benötigt ist, nicht haben. Und wenn Sie diese Ware nicht haben, dann können Sie auch so etwas nicht produzieren.
Sie versuchten gar nicht erst irgendwelche Experimente mit ihren Mohair-Ziegenfellen oder anderen groben Lammfellen zu konstruieren – für sie gab es nur JA oder NEIN – und die Antwort in diesem Fall war ein klares Nein. Denn leider, sagten beide übereinstimmend, kann man ohne die richtige Rohware das Produkt, was Thomas mitgebracht hatte, nicht produzieren. Und dass sie gut und professionell arbeiten konnten – das hatten sie mit der nächtlichen Anfertigung des Musters aus dem Material aus den beiden Muster-Lammellen gezeigt. Und damit war auch dieser Punkt für die beiden erledigt.
Vierzehntes Buch
Hongkong
Der Frachter, der den ersten Container von Magnolia geladen hatte, war nach einer kurzen Schiffsreise in Hongkong angekommen.
Der Container wurde dort ausgeladen und zu den Tausenden anderen Containern gestellt, die von Hongkong in alle möglichen kleineren asiatischen Häfen weiterreisen. Dieser Weitertransport mit kleineren Frachtschiffen war in Hongkong perfekt organisiert. Jeder dieser Feeder – so werden die kleinen Container-Frachtschiffe genannt, die von einem großen Hafen aus alle mittleren und kleinen Häfen anlaufen – schippert rund um die Uhr das ganze Jahr über durch alle asiatischen Gewässer.
Außer nach Nordkorea.
Keine Auskunft
Thomas hatte bei seinem letzten Besuch in Pjöngjang versucht herauszufinden, welche Schiffsverbindungen es von Australien oder China aus nach Nordkorea gibt. Niemand konnte ihm das genau sagen.
Es gab zwar gelegentlich Schiffe, die in Nampo, dem einzigen nordkoreanischen Hafen in der Nähe von Pjöngjang, gelegentlich auftauchten, aber Genaueres oder eine Art Fahrplan war nirgends zu bekommen. In Australien hatte die Reederei den dortigen Mitarbeitern von Magnolia gesagt, dass sie zwar die Frachtpapiere mit dem Bestimmungshafen Nampo aufmachen werden, aber dass sie keinerlei Garantie übernehmen, wie und wann die Ware dort definitiv eintreffen wird. Eine Verladung nach Hongkong sei gesichert, das würde wenige Tage dauern.
Von Hongkong aus würde wahrscheinlich der Container an einen der wenigen nordchinesischen Häfen weitergeleitet werden, die für einen Containertransport ausgerüstet waren. Das waren Ningbo, Qingdao, Tianjin oder Dalian. Man gab dem Mitarbeiter von Magnolia die genaue Adresse der Reederei-Niederlassung in Hongkong, wo man die nächsten Einzelheiten erfragen könne.
Quindao
Zwei Wochen später erhielt Thomas ein Telegramm, in dem man ihm mitteilte, dass der Container nach Quindao weitergeleitet worden war.
Frau Li telefonierte daraufhin fast täglich mit der Niederlassung in Quindao, um irgendwelche Informationen über die Weiterreise des Containers nach Nordkorea zu erhalten.
Die Mitarbeiter in Quindao waren zwar freundlich und hilfsbereit, sagten aber ganz offen zu Frau Li, dass sie keine Ahnung hätten, wie es weitergehen würde.
Irgendwann, nach vielen Tagen und Telefonaten, wurde Frau Li mitgeteilt, dass es einen kleinen Seelenverkäufer gibt, der meistens einmal im Monat in Quindao auftaucht, um irgendwelche Waren aus Nordkorea abzuliefern und für die Rückfahrt nach Nordkorea wieder das zu laden, was vorhanden ist.
Dieser Dampfer war in den Schifffahrtskreisen in Quindao bereits bekannt und berüchtigt, weil man der Meinung war, dass er nur noch durch seinen eigenen Rost zusammengehalten wurde.
Man hatte aber keine Adresse seiner Reederei in Nordkorea und man konnte einfach nur warten, bis er irgendwann vielleicht einmal auftauchen würde.
Verladen
Drei Wochen später erhielt Frau Li einen Anruf, wo ihr der Reedereivertreter erleichtert mitteilte, dass der Container gestern auf diesen alten Dampfer gebracht wurde.
Man hatte sich vom Kapitän den Empfang des Containers bestätigen lassen und das Schiff war dann heute Morgen in Richtung Nordkorea ausgelaufen.
Wie lange dieser nordkoreanische Kreuzfahrer für die relativ kurze Strecke von nur 310 Seemeilen brauchen würde, wusste niemand.
Christlich
Frau Li fragte noch, warum ihr Gesprächspartner in Quindao den Ausdruck „Kreuzfahrer“ benutzt hatte. Er meinte nur, wenn man diesen Schrotthaufen einmal persönlich gesehen hat, dann könne man sich nur noch bekreuzigen.
Offensichtlich war der gute Mann ebenfalls ein Nachkomme der deutschen Kolonialzeit von vor über 100 Jahren.
Die kleine christliche Missionskirche hatte seinerzeit einige Tausend Chinesen getauft und durch diese kurze Kolonialzeit gibt es bis heute in Quindao den höchsten Prozentsatz aller chinesischen Christen.
Das grüne Buch
Thomas gab umgehend die Information über den Weitertransport des Containers an seine beiden nordkoreanischen Freunde Yuang und Sora. Er kündigte dabei gleichzeitig auch seinen Besuch in den nächsten Tagen in Pjöngjang an. Thomas hatte vor kurzem eines der begehrtesten chinesischen Dokumente erhalten. Ein kleines grünes Buch, halb so groß wie ein Pass. Es war eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer in China.
Damit brauchte er bei allen Reisen innerhalb Chinas nur noch den halben Preis zu bezahlen. Bis dahin musste er als Ausländer für jede Reise den ausländischen Tarif bezahlen, der genau doppelt so hoch war wie der für Chinesen. Außerdem brauchte er sich nicht mehr in den verschiedenen Provinzen, die offiziell immer noch gesperrt waren, bei der dortigen Spezialpolizei – so nannte man die Geheimpolizei – zu melden und wurde nicht mehr auf Schritt und Tritt von dessen Aufpassern begleitet.
Der aber für Thomas im Moment wichtigste Vorteil dieses kleinen grünen Buches lag darin, dass er damit auch wie ein Chinese ohne Visum von China nach Nordkorea reisen konnte. Egal ob mit der Bahn oder per Flugzeug.
Wichtiger als die Ausreise nach Nordkorea war für Thomas allerdings die Tatsache, dass er damit auch wieder aus Nordkorea Richtung China ausreisen durfte – die Politik der nordkoreanischen Regierung war für alle Ausländer unberechenbar.
Verwundert
Vier Tage später saßen seine vier koreanischen Freunde mit ihm wieder in der kalten Konferenz-Halle in der alten Fabrik. Und jetzt waren es diese vier Nordkoreaner, die ungläubig und fassungslos auf Thomas blickten, nachdem er ihnen die nächsten Teile seines Plans erklärt hatte.
Er bat sie, einen nordkoreanischen Lkw zu organisieren, auf dessen Chassis ein großer 40-Fußcontainer verladen und transportiert werden kann. Dann bat er sie, einen gebrauchten Volvo irgendwo zu organisieren. Und schließlich sollten diese beiden Fahrzeuge mitsamt den beiden nordkoreanischen LKW-Fahrern für mindestens ein Jahr ausschließlich Magnolia zur Verfügung stehen.
Organisation
Das Ganze war zwar ein mit Sicherheit größerer organisatorischer Aufwand, den er seinen beiden Freunden im Ministerium zumutete. Aber gleichzeitig war Thomas ziemlich sicher, dass sie es schaffen würden. Schließlich hatte Magnolia bereits einige Schlagzeilen in der Parteizeitung und auch in entsprechenden Kreisen der Verwaltung verursacht.
Und zwar positive.
Herr Yang und sein Stellvertreter Herr Sora meinten nach einiger interner Diskussion, dass dies wohl möglich sein könnte. Aber natürlich muss das alles in Ihren Abteilungen sorgfältig geprüft werden. Die Bürokratie ist international.
Schnell
Thomas meinte, er hoffe, dass dies relativ schnell geht. Denn den Lastwagen für den Transport ihres Containers würde man schon in ein bis zwei Wochen brauchen, je nachdem, wann das Schiff aus Quindao in Nampo eintreffen wird. Das war alles noch einigermaßen logisch und nachvollziehbar für seine vier Freunde.
Erstarrt
Aber was Thomas dann sagte, verstand niemand mehr und ließ alle vier Gesichter erstarren. Der alte Herr Wong hatte fest damit gerechnet, dass der Container bei ihm in der Fabrik eintreffen wird, damit man den Inhalt begutachten und bearbeiten kann. Sein junger Stellvertreter, Herr Minho, war der gleichen Meinung und freute sich insgeheim schon, dass ihre Fabrik dann mit Sicherheit als Spezial-Betrieb eingestuft wird, als privilegierter Betrieb, der Verbindungen zu chinesischen, deutschen und australischen Partnern vorweisen kann.
Und jetzt erklärte Thomas ganz ruhig und kurz, dass der Container niemals in der Fabrik eintreffen wird. Stattdessen informierte Thomas sie jetzt bei dieser Besprechung darüber, dass der Container auf dem schnellsten Wege mit dem zu organisierenden Lastwagen zurück nach China gefahren werden soll. Begleitet von dem anderen nordkoreanischen Auto und Herrn Minho als Passagier.
Logos
Als der alte Seelenverkäufer im nordkoreanischen Hafen festmachte, war der Container mit den rohen Lammfellen aus Australien die einzige größere Fracht. Offensichtlich hatte man im Hafen keine Möglichkeit, den Container direkt auf das Chassis des Lkws zu heben, den Yang und Sora in einer internen Hauruck-Aktion irgendwo in Pjöngjang aufgetrieben hatten. Es war dann wunschgemäß noch das Logo von Magnolia an den Fahrer- und Beifahrertüren aufgemalt worden, in sehr schönen grellen Farben.
Der alte Volvo wurde ebenfalls mit dem Namen und dem Logo von Magnolia bedruckt und diese beiden sehr bunten Fahrzeuge waren für jedermann erkennbar der Nachweis, dass dahinter eine große und wahrscheinlich sehr bedeutende internationale Firma stehen würde.
Umgepackt
Auf dem alten Dampfer hatte man nach der Abkunft im nordkoreanischen Hafen das Siegel des Containers aufgebrochen, die Türen aufgerissen und per Hand jeden der 40 großen, schweren und stark gepressten Ballen, die in dem Container verstaut waren, herausgezogen. Jetzt war der Container leicht genug, um ihn mit dem alten Kran aus dem Schiff zu hieven. Der Lkw fuhr so nah wie möglich an das Schiff heran und der alte Kran setzte sehr vorsichtig den leeren Container auf das Chassis des Lkws. Dann brauchten sehr viele fleißige Hände und einige Gabelstapler mehrere Stunden, um den Container wieder in der Form zu füllen, wie er ursprünglich in Australien gepackt wurde. Die Reifen des alten Lkws stöhnten unter der Last des schweren Containers, so viel hatte dieser Lkw wohl noch nie auf einmal transportiert.
Lohnveredelung
Thomas hatte lange überlegt, wann und in welcher Form er seine koreanischen Freunde über die nächsten Schritte seines Plans einweihen sollte. Er hielt jetzt den Moment für gekommen und bat Sora, ihn sofort zu unterbrechen, wenn er der Übersetzung nicht nachkommen könne. Er hatte beschlossen, seinen Freunden keinen langartigen Vortrag über das europäische Lohnveredelungsverfahren zu halten, egal ob es sich um aktive oder passive Lohnveredelung handelt.
Ebenso wenig wollte er seine Kollegen über das fragile und äußerst diffizile Windhund-Verfahren des europäischen Zolls informieren. Obwohl dieser Punkt in seinen Überlegungen eine große Rolle gespielt hatte. Er konnte es sich nicht erlauben, auf irgendwelche Quoten bei irgendwelchen Windhund-Verfahren zu setzen. Falls diese Windhund-Mengen irgendwann mehr oder weniger heimlich erfüllt waren, hätte Thomas für die gesamte darauffolgende Ware den regulären und extrem hohen Zollsatz zahlen müssen. Er brauchte also eine sichere, einfache und gleichzeitig für niemanden genau nachvollziehbare Methode, um irgendwann seinem Schweizer Freund Aaron Keller das liefern zu können, was er ihm vor gut zwei Jahren versprochen hatte.
Magnolia
Und er wollte das, was er jetzt zu erklären hatte, immer so darstellen, dass alles aus der Sicht von Magnolia zu erkennen ist.
Dass Magnolia die uneingeschränkte Hauptperson in dem ganzen Plan ist und dass Magnolia stolz darauf sein kann, wie man jetzt in der Welt eine Rolle spielen wird.
„Wir haben es also„, begann Thomas seine Erklärungen, „hier mit einer recht einfachen Situation zu tun. Es gibt ein Produkt, das man in Europa sehr gut und mit ausreichendem Nutzen verkaufen kann. Man braucht dafür eine ganz spezielle Rohware, die es weder in China noch in Korea gibt. Er benutzte hier extra die in Nord-Korea übliche Bezeichnung „Korea“. Keiner dieser Menschen hier würde von sich aus nur von Nordkorea reden.
„Dieses Produkt kauft man roh und unbearbeitet in Australien, das habt ihr alle mitbekommen und das funktioniert. Die Verarbeitung geht aber leider nicht hier in Pjöngjang in der Fabrik von Herrn Wong. Dazu fehlt es an Erfahrung, an Maschinen und einer dafür nötigen Infrastruktur. Die kann man natürlich hier in Pjöngjang aufbauen, aber das wird erfahrungsgemäß mindestens drei, wahrscheinlich eher bis zu fünf Jahre dauern, bis alles fertig ist und man die Technik und Erfahrung hat, die für einen Export nach Europa nötig sind.
In China jedoch habe ich eine solche Fabrik gefunden, die all das bereits hat. Aber sie hat keine Rohware. Und sie hat keine Exportmöglichkeiten. Ich habe im Namen von Magnolia mit den Leitern der Fabrik gesprochen und man ist bereit, einen Test zu machen, um zu sehen, wie das Endprodukt sein wird, dass man dort mit der Ware aus Australien machen wird.
Zusammengefasst
Thomas macht eine Pause und nahm keinen Ordner aus seiner Aktentasche. Darin waren einige Papiere mit verschiedenen Skizzen, Diagrammen und Tabellen. Er hatte zwar seinen gesamten Plan komplett im Kopf, wollte seine Gesprächspartner aber mit einigen Papieren beeindrucken, damit sie das Gefühl hatten, alles sei wie in einer großen Organisation sorgfältig von vielen Menschen organisiert und vorbereitet worden.
Dann begann er seine Zusammenfassung:
„Das Ganze läuft unter dem Namen von Magnolia. Magnolia-Australia Ltd exportiert die Rohware.
Magnolia Pjöngjang macht einen Arbeitsvertrag mit der Fabrik in China. Diese Fabrik arbeitet also für Magnolia – das nennt man in Europa Lohnveredelung. Die fertige Ware wird dann von dem chinesischen Hafen Quindao, der nur 30 km von der Fabrik entfernt ist, direkt nach Europa verladen.
Hierfür wird Magnolia noch eine weitere Niederlassung in Quidao, so heißt die Hafenstadt, eröffnen. Dann wird die gesamte Produktion im Namen von Magnolia als Produkt eurer schönen Republik Nordkorea exportiert. Alles ist legal, denn die Zentrale von Magnolia hier bei euch in Pjöngjang ist der alleinige Eigentümer der Ware. Alles andere sind nur logistische Feinheiten, die zur Herstellung so eines Produkts nun einmal nötig sind.
Wenn der Test mit diesem ersten Container positiv verlaufen sollte „– und Thomas sagte, daran hätte er keine Zweifel –“ dann werden die nächsten Container aus Australien nur bis Quindao verladen. Der Lkw von Magnolia, der in China bleiben wird, holt den Container aus dem Hafen und fährt ihn bis in die Fabrik. Und wenn eine Sendung mit 5.400 Paar Lammfell-Schuhen – so viele Paar gehen genau in einen Container – fertig produziert ist, wird die fertige Ware in den leeren Container gepackt und der Lkw fährt damit in den Hafen von Quidao.
Diese Ware wird dann direkt unter dem Namen von Magnolia von Quindao aus nach Europa verschifft. Und in diesem Kreislauf – so denke ich – werden wir dann viel Ware in vielen Containern um die Welt transportieren. Mit dieser einfachen und klaren Ansage waren die vier zuerst ein bisschen überfordert, dann aber begriffen sie sehr schnell das System, was Thomas sich ausgedacht hatte und wofür er in den letzten beiden Jahren so oft um die Welt gereist war.
Sie waren dankbar und zufrieden.
Papier
Vielleicht mit Ausnahme des alten Herrn Wong, der bei der ganzen Transaktion irgendwie leer ausging, weil die Ware seine Fabrik überhaupt nie erreichen oder wieder verlassen würde. Er wurde etwas besänftigt dadurch, dass Thomas seine Fabrik aus verschiedenen Perspektiven fotografiert hatte. Dann hatte er alles in Beijing in ein kleines Grafik-Studio gegeben. Dort wurde das Gesamtbild der Fabrik dann schemenhaft und sehr positiv auf das Briefpapier von Magnolia mit eingefügt. Im Hintergrund seine Fabrik, im Vordergrund das knallbunte Markenzeichen von Magnolia. Als Thomas ihm diesen Entwurf zeigte, war auch der gute Direktor Wong mit allem einverstanden und zufrieden.
Details
Am nächsten Tag sprach Thomas noch einmal mit seinen beiden Freunden aus dem Ministerium. Er hielt es für notwendig, ihnen noch einige Details zu erklären, nachdem er gestern seinen gesamten Plan auf den Tisch gelegt hatte. „Wir können also“, erklärte Thomas, „unser Endprodukt problemlos als Produkt aus Nordkorea verkaufen.
Nordkorea hat den großen Vorteil, dass es nirgendwo in der Welt in irgendwelchen Listen auftaucht, wo Import-Mengen-Beschränkungen aufgeführt sind oder mit Zoll belegt sind. Es gibt hier keine Behinderungen. Euer Land ist für die Weltwirtschaft ehrlich gesagt völlig unbekannt. Und wenn etwas unbekannt ist, kann man auch keine Einschränkungen darauf machen. Etwas, das es nicht gibt, kann man nicht verbieten. Dieser Passus war etwas holprig, aber er wollte auch gar nicht weiter darauf eingehen.
Zollfrei
Für Thomas war es eine der Schlüsselfunktionen, denn tatsächlich gab es weltweit keine internationalen Zoll-Positionen, die Lammfell-Schuhe aus Nordkorea betreffen würden. Es gab im Übrigen fast überhaupt keine Zoll-Vorschriften für Nord-Korea, abgesehen von Waffen und aller Art militärischer Geräte, aber dieses Thema war hier wirklich nicht relevant.
„Herr Soro“, erklärte Thomas und blickte dabei auf den jungen Mitarbeiter von Herrn Young, „spricht inzwischen sehr gut Chinesisch. Ich möchte ihn deswegen zum Leiter der neuen Magnolia-Niederlassung in Quindao vorschlagen. Damit dort in Quidao alles seine Ordnung hat – und in Quidao ist man sehr viel ordentlicher und gründlicher als in vielen anderen Teilen von China.
Thomas verzichtete auf einen Vortrag über die deutsche Gründlichkeit in Quidao und fuhr fort. „Er wir mit Sicherheit oft in die Fabrik fahren und er wird ein Auto mit Fahrer brauchen. Ein Niederlassung-Leiter in China fährt nie selber, er hat immer einen Wagen mit Chauffeur. Das werden dann abwechselnd die beiden LKW-Fahrer sein, die sich ansonsten auch in der kleinen neuen Niederlassung von Magnolia in Quidao nützlich machen können. Diese neue Niederlassung in Quindao wird Frau Li organisieren, das ist keine große Sache.
Ich hab noch ein Messingschild in meinem Koffer. Wir werden irgendein Büro dort finden und alles Weitere wird sich ergeben.
Respekt
Für die Hafenbehörde in Quidao ist es wichtig, dass die Rohware aus Australien von einem Lkw aus Nordkorea abgeholt wird. Das nordkoreanische Nummernschild an diesem Container-Druck wird die Tore im Hafen leicht öffnen. Besonders wenn Her Minho dort chinesisch spricht, das ist ein Zeichen des Respekts.
Wenn die Rohware auf dem nordkoreanischen Lkw ist, ist es den Hafenbehörden egal, wie es weitergeht, man geht einfach davon aus, dass der Transport der Ware nach Nordkorea mit dem Lkw schneller und einfacher ist. Und wenn der gleiche Lkw dann irgendwann einen Container mit Fertigware in den Hafen bringt, ist es auch alles ganz einfach, weil der Container mit einem nordkoreanischen Lkw kommt und alle Papiere dazu ebenfalls von Magnolia kommen, die als nordkoreanische Niederlassung in Quindao offiziell registriert ist… Ihr hier in Pjöngjang müsst lediglich die Ursprungszeugnisse und die anderen Dokumente ausfüllen, die für einen Export nach Deutschland nötig sind.
Das könnt ihr aber mit Sicherheit problemlos machen, denn es ist alles legal. Es handelt sich um ein nordkoreanisches Produkt, das lediglich im Ausland unter einem Lohnveredelungsvertrag gearbeitet wurde, aber komplett unter nordkoreanischer Regie und Verwaltung.
Geprüft
Und abschließend gesagt – ich bin mir sicher, die deutschen Import-Behörden werden keine Probleme mit diesen Ursprungszeugnissen machen. Sie sind nicht nur legal, sondern auf der anderen Seite auch in Deutschland offen gesprochen von niemandem nachvollziehbar.
Es gibt nicht einmal eine nordkoreanische Botschaft in Deutschland, bei der irgendein übereifriger deutsche Zollbeamte eventuell nachfragen könnte.
Und wenn er sich dennoch tatsächlich an die Botschaft Nordkoreas in Ost-Berlin wendet, wird man ihm lächelnd und klar erklären, dass man Magnolia kenne, dass es sich um eine große, seriöse und international agierende Firma handelt, die ebenfalls eine Niederlassung in Ost-Berlin hat – und dass sämtliche Dokumente korrekt sind.
Ein neues Kapitel
„Ihr seht“, sagte Thomas zu seinen beiden Freunden an diesem Morgen im Büro ihres Ministeriums, „das ganze hat lange gedauert. Aber ich bin sicher, wir haben jetzt etwas gefunden, was wir selber von Anfang bis Ende bearbeiten und durchführen können. Die Zeit, in der wir hier Hundefelle kauften, um sie einmal über den Globus zu schicken, ist in diesem Jahr zu Ende. Und ich bin sehr froh, dass wir alle gemeinsam jetzt eine Tür zu einem neuen Kapitel aufschlagen können.
An diesem Abend gab es fünf Menschen in Nordkorea, die nicht einschlafen konnten und die die vielen Ereignisse der letzten zwei Jahre in Gedanken Revue passieren ließen.
Fünfzehntes Buch
Nusstorte
„Und dann?“ Fragte Aaron seinen heutigen Gast und Freund Thomas, „wie ging es dann weiter?“ Die beiden saßen in einem kleinen und sehr guten Restaurant in Graubünden, ziemlich direkt unterhalb der Schweizer Alpenkette.
Thomas hatte Aaron jetzt nach einigen Monaten wieder einmal besucht. Man war sich freundschaftlich angetan, aber zum Duzen waren weder Aaron noch Thomas so richtig bereit. Thomas schlug das „Hamburger Sie“ vor, das bedeutet, man redet sich mit Vornamen und per Sie an, und Aaron war sofort einverstanden.
Sie hatten an diesem Abend wie fast immer ein ausgezeichnetes und typisch schweizerisches Fondue zu sich genommen und saßen jetzt bei einem sehr schwarzen Mokka und einem kleinen Stück Nusstorte, der Spezialität dieses Ortes, an ihrem kleinen Tisch über. Thomas hatte Aaron in Abständen immer wieder über die weitere Entwicklung in ihrem Projekt Lammfellschuhe für die Schweiz unterrichtet.
Er hatte bewusst auf viele Einzelheiten verzichtet, sie würden das Schweizer Weltbild seines Freundes wahrscheinlich mehr erschüttern als erhellen.
Aaron war gemeinsam mit Thomas im vergangenen Jahr zu einem Kurzbesuch in der chinesischen Fabrik, wo nun schon seit drei Jahren seine Produkte hergestellt wurden.
Schweizer Reise
Das war im vergangenen April eine typisch schweizerische Reise. Aaron hatte Thomas vorher schon informiert, dass es für ältere Schweizer ein gewaltiger Aufwand ist, wenn sie für einen Tag mal von ihrer heimatlichen Graubünden nach Zürich fahren müssen. Das geht zwar in gut 2 Stunden, aber der Tag ist dann nach Meinung eines alten Schweizers mehr oder weniger verloren. Und eine Reise von seiner kleinen Heimatstadt in die französische Schweiz, zum Beispiel nach Genf, kommt gleich hinter einer Weltreise, meistens wird sie schon als eine solche empfunden.
Insofern war die Entscheidung von Aaron, sich diese Fabrik in China anzusehen, mit fast genauso großem Aufwand verbunden wie ein Tagesausflug nach Genf. Er hatte einige neue Schuh-Modelle bei sich, die er in seine Kollektion mit aufnehmen wollte. Diese neuen Modelle wollte er den Menschen in der Fabrik persönlich zeigen und an Ort und Stelle alles besprechen. Die Vorbereitung für das Visum und die Tatsache, dass das Visum dann eine Woche später tatsächlich im Pass von Herrn Keller eingestempelt wurde, war für Aaron ein fast genauso großer Arbeitsaufwand wie die Reise selber.
Schnell
Sie flogen von Zürich aus direkt nach Peking, um am nächsten Morgen ganz früh den ersten Flug nach Quingdao anzutreten. Sie wurden am Flughafen von Minho abgeholt und mit seinem koreanischen Wagen direkt in die Fabrik gefahren. Von Quindao, von dem Büro und von vielen typischen Dingen, die mit Quindao zu tun hatten, hatte der gute Aaron Keller auf dieser Reise nichts gesehen. Nach drei Stunden in der Fabrik war alles geklärt.
Im Grunde genommen war es schon nach einer halben Stunde geklärt, denn die beiden jungen Fabrikleiter sahen die neuen Muster, die Aaron mitgebracht hatte, und gingen damit in ihre beiden großen Produktionshallen. Ihre Fabrik hatte sich in den letzten drei Jahren sehr vergrößert, und dies ausschließlich dank der vielen großen Aufträge, die Thomas immer wieder dort platzierte.
Musik
Dann der obligatorische Small Talk. Auf einen traditionellen Begrüßungs-Gesang des gemischten Fabrik-Gesangs-Chors hatte man auf Anraten von Thomas verzichtet. Stattdessen waren die nächsten 10 Minuten für Aaron und Thomas so überraschend, dass ihnen fast die Essstäbchen aus den Händen fielen, mit denen sie zum Zeitvertreib immer mal wieder versuchten, zwei oder vielleicht sogar drei geröstete Erdnüsse gleichzeitig zwischen die Stäbchen eingeklemmt zu bekommen, um sie in den Mund zu heben.
Statt wie bei fast allen chinesischen Betriebschören irgendwelche Teile aus irgendwelchen gigantischen chinesischen Opern vorzutragen, begleitet von einem nie endenden Geräuschpegel von Glocken, Schellen, kleinen Becken und sonstigen Schlaginstrumenten, hatte dieser Fabrik-Chor in dieser kleinen abgelegenen Stadt in der Nähe von Quindao etwas ganz Außergewöhnliches im Repertoire.
Drei alte deutsche Volkslieder aus dem letzten Jahrhundert.
Alte Weisen
Wie sie zu diesen Liedern kamen, konnte Thomas nicht herausfinden. Es war auch egal, denn die braven Sängerinnen und Sänger waren unheimlich fleißig und sangen die Texte der drei Musikstücke sogar mit einer fast korrekten deutschen Betonung aller Wörter.
Irgendjemand musste ihnen auch den Text und den Sinn dieser Lieder übersetzt haben.
Sie begannen stilvoll in Hinblick auf den hohen Besuch von Aaron und Thomas mit „Horch, was kommt von draußen rein?“ Als Zweites hatten sie die Jahreszeit entsprechend „der Mai ist gekommen“ einstudiert. Thomas fiel auf, dass es bisher Lieder waren, in denen relativ wenig rollende „R ́s“ enthalten waren – das kann kein Chinese aussprechen, auch nach jahrelanger Übung. Und zum Schluss und als kleiner Höhepunkt sang eine kleine Gruppe der besten Sängerinnen und Sänger eine einfache und zu Herzen gehende Version von „Guten Abend, gute Nacht- jetzt wird Schluss gemacht“.
Gastgeschenk
Nach dieser schönen und überraschenden Begrüßung wollte Thomas mit einem etwas deftigen Scherz wieder in die Realität zurück.
Aaron bedankte sich herzlich bei dem Chor und fragte, ob man vielleicht einen Wunsch hätte, den er bei einem nächsten Besuch mitbringen würde.
Als Frau Li dies übersetzte, wandelte Thomas die Wörter etwas um und sagte zu Aaron, man würde sich freuen, wenn er bei einem nächsten Besuch ein typisch schweizer Musikinstrument mitbringen könnte. Zum Beispiel ein Alphorn. Aaron ist sich bis heute nicht sicher, ob diese Übersetzung von Thomas korrekt war.
Rundgang
Der anschließende Rundgang durch die beiden großen Fabrikhallen war relativ schnell beendet. Die beiden jungen Fabrikdirektoren hatten alles so vorbereitet, dass an allen Arbeitsplätzen der inzwischen über siebenhundert Arbeiterinnen und Arbeiter irgendetwas mit Lammfelle gearbeitet wurde. Wie bei solchen Rundgängen üblich herrschte eine absolute. Stille an allen Arbeitsplätzen. Aaron war dies ein bisschen unangenehm und er war sichtlich erleichtert, als man danach ins Freie trat, um frische Luft zu schöpfen.
Der Garten
Der kleine, aber sehr gepflegte Garten neben den beiden großen Gebäuden war ebenfalls etwas Besonderes für chinesische Verhältnisse, aber leider konnte Aaron auch dies nicht richtig erkennen oder einschätzen.
Chinesen lieben gut gepflegte Gärten, auch wenn sie fast immer nur aus einfachen grünen Büschen und schönen Steinen bestanden.
Vielleicht am besten zu vergleichen mit den bekannten japanischen Gärten, die um ein kleines Teehaus gebaut waren. Dieser kleine Garten neben der neuen Fabrikhalle war jedoch komplett anders. Er bestand aus einem einzigen Farbenmeer. Aaron und Thomas bemerkten, dass es sich bei diesen wunderschönen bunten Blumen fast ausschließlich um den gleichen Pflanzentyp handelte. Was hier in allen Farben blühte, duftete und schimmerte waren ausschließlich Magnolien.
Muster
Nach knapp drei Stunden kamen zwei ältere Frauen in den Besprechungsraum, wo man inzwischen Aaron eine Tasse mit Nescafé angeboten hatte, der aber irgendwie mit dem traditionellen grünen Tee vorher in Verbindung gekommen war. Aaron konnte sich gut beherrschen und meinte nur, diese für ihn neue Art eines Kaffees wird sicherlich die Verdauung anregen. Die beiden Frauen waren die Leiterinnen der beiden Produktionshallen.
In der einen Halle wurde vorbereitet, sortiert, geschnitten und nach einem ausgeklügelten Plan die gesamte Produktion vorbereitet.
In der anderen Halle wurde dann alles, was vorbereitet war, zusammengesetzt, zusammengenäht, zusammengeklebt, etikettiert, verpackt und versandfertig gemacht. Und diese beiden freundlichen älteren Damen, die beide fast ihr gesamtes Berufsleben in dieser Fabrik verbracht hatten, hatten einige Kartons unter dem Arm. Sie stellten alles auf den Tisch und verfolgten freundlich lächelnd den Gesichtsausdruck, den Aaron hatte, als er dieses Muster in die Hand nahm.
Es waren fast perfekte Gegenmuster zu allen Modellen, die Aaron mitgebracht hatte und die in nur drei Stunden optimal kopiert jetzt als Produkt der Fabrik vor ihm auf dem Tisch standen. Die beiden freundlichen älteren Produktionsleiterinnen verabschiedeten sich, sagten irgendetwas Höfliches auf Chinesisch und gingen zurück in ihre Hallen. Aaron war jetzt genauso verblüfft wie Thomas, als Thomas vor einiger Zeit in genau der gleichen Schnelligkeit das erste fast perfekte Gegenmuster zu sehen bekam.
Ohne Mauer
Dies alles hatte für Aaron auch noch den großen Vorteil, dass er beruhigt feststellen konnte, dass sich sein kleiner Ausflug nach China gelohnt hat und jetzt abgeschlossen werden konnte. Er sagte zu Thomas, dass alles okay sei und fragte, ob der Wagen draußen noch wartete, damit man noch heute Abend das letzte Flugzeug zurück nach Peking nehmen kann. Sie fuhren zum Flughafen, checkten ein und Aaron verließ am nächsten Morgen China. Er war bestimmt der einzige Schweizer, der weder die große Chinesische Mauer noch den alten Kaiserpalast in Peking besucht hatte.
Neue Aufträge
Am Abend des nächsten Tages traf sich Aaron in sein Büro mit seiner Geschäftsführerin. Er zeigte ihr mehr oder weniger wortlos alle Gegenmuster, die er in der Fabrik nach 3 Stunden erhielt und bat sie, möglichst umgehend die ersten Aufträge zusammenzustellen, bei denen dann auch alle neuen Modelle in allen Größen eingeschlossen werden sollen.
Historie
An all das erinnerte sich Aaron, als er an diesem Abend mit Thomas in dem kleinen Restaurant saß. Er hatte von Thomas einen sehr allgemeinen Bericht bekommen über Magnolia und all das, was um diese Firma herum in den vergangenen Jahren aufgebaut worden war.
Auf der einen Seite interessierte sich Aaron Keller natürlich schon sehr dafür, wie das Ganze irgendwie in die Welt gesetzt wurde. Auf der anderen Seite wusste er ebenso, dass solche Geschichten sein Nervenkostüm an einigen Stellen erheblich belasten würden. Deswegen bat Aaron seinen jüngeren Freund, ihm abschließend – wenn möglich – einiges über die weitere Entwicklung der Geschichte in Quindao zu erzählen.
Er hatte mitbekommen, dass Quindao die letzte Station des gesamten Plans war. Und obwohl er bei seinem Besuch so gut wie nichts von dieser alten Stadt mit ihrer Historie gesehen und erlebt hatte, interessierte ihn der Ausgang des letzten Kapitels von Thomas weltweitem Plan.
Sechzehntes Buch
Der Bürgermeister
Nachdem Thomas die schnelle und effiziente Arbeit in der kleinen Fabrik der beiden jungen Direktoren gesehen und erlebt hatte, blieb als letztes Puzzle-Teilchen noch die Gründung einer Filiale von Magnolia in Quindao übrig.
Der große alte Lastwagen mit dem schönen bunten Logo von Magnolia parkte auf dem Gelände der kleinen Schuhfabrik.
Mit dem alten Volvo, den Minho von Pjöngjang aus bis nach Quindao gefahren hatte, fuhr Thomas zusammen mit Minho zum alten Gouverneurspalast.
Thomas hatte inzwischen mitbekommen, dass dort die Stadtverwaltung von Quindao eingezogen war.
Der Bau selber war sehr groß, er lag auf einem Plateau direkt vor dem Meer und war mit Sicherheit der schönste Platz, den man sich aussuchen würde, wenn man die freie Auswahl in Quindao und Umgebung gehabt hätte.
Thomas verzichtete bei seinem ersten Besuch beim Bürgermeister darauf, ihm sein kleines grünes Buch zu zeigen, mit dem er privilegiert war innerhalb Chinas.
Stattdessen zog er seinen normalen deutschen Reisepass aus der Tasche und sprach ihn direkt auf Englisch an.
Frau Li, die wie immer bei solchen Besprechungen mit dabei war, wurde vorher instruiert, möglichst nicht einzugreifen mit irgendwelchen Erklärungen oder Übersetzungen. Thomas setzte darauf, dass man in diesem Ort die besten Karten hat, wenn man sich als normaler Deutscher ausgibt.
Der Bürgermeister sprach recht gut Englisch und war hocherfreut, einen deutschen Besucher begrüßen zu können. Es gab zu jener Zeit nur sehr wenige Deutsche, die in diesem Ort lebten und arbeiteten und die allermeisten davon hatten irgendetwas mit der großen Bierbrauerei zu tun.
Thomas machte mit ganz wenigen Sätzen einen großen Rundumschlag und stellte sich als einer der Direktoren von Magnolia vor. Dies sei eine internationale Firma mit Sitz in Pjöngjang, Peking, Australien und Deutschland.
Der Direktor aus Pjöngjang sei der junge Mann neben ihm, die Pekinger Niederlassung werde durch die ältere freundliche Frau Li vertreten und er selber sei der Direktor der deutschen Filiale dieser internationalen Firma.
Die Mitarbeiter in Australien sorgen dafür, dass immer neue Ware von Australien nach Quindao kommt und er denke, dass seine Firma eine erfolgreiche Zukunft hier in Quindao haben wird. Man sei jetzt das erste Mal offiziell hier und würde gern die Hilfe des Bürgermeisters in Anspruch nehmen, um eine kleine Filiale zu eröffnen.
Stolz
Alles, was Thomas über Nordkorea, Peking und Australien erzählt hatte, ging bei dem Bürgermeister mehr oder weniger zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.
Aber dass ein Deutscher hier jetzt eine Niederlassung errichten wollte, das erfüllte ihn mit Stolz und als erfahrener Politiker wusste er, dass mit einer solchen Niederlassung in seiner Stadt sein persönliches Ansehen noch weiter steigen wird.
Schnaps-Tee
Abends traf man sich im besten Fischlokal der Stadt.
Thomas hörte nach dem 10. Trinkspruch auf, die Mao Thai zu zählen, die dabei von allen, die an dem großen runden Tisch saßen, hochgehoben und runtergeschluckt wurden.
Der Mao-Thai ist ein extrem scharfer und starker Schnaps, der in ganz China zu allen offiziellen Anlässen getrunken wird.
Die Chinesen haben von Natur aus einen kleinen genetischen Unterschied zu Menschen anderer Kontinente.
Sie vertragen keine Milch und keinen Alkohol.
Dass es zu jener Zeit in China keine Milchprodukte und damit auch keine Butter und keinen Käse gab, war für Thomas nicht schön, er konnte aber damit leben.
Dass die Chinesen andererseits schon nach dem zweiten oder dritten kleinen Mao-Thai alle miteinander rote Köpfe bekamen, das hatte er in ganz China jahrelang abends miterlebt.
Je länger der Abend wurde, desto mehr knallrote Köpfe saßen an dem Tisch.
Thomas hatte längst den alten Trick in China gelernt und immer wieder angewandt, welchen die Frauen bei solchen offiziellen Festbanketten anwandten.
Sie nahmen das Schnapsglas in die eine Hand und griffen mit der anderen Hand nach ihrer großen Tasse mit dem grünen Tee.
Die große schwere Tasse mit dem grünen Tee stand wie immer direkt vor jedem Teilnehmer. Dann verdeckte die Hand am Tee das kleine Schnapsglas. Der Inhalt floss in den Tee und die Sache war an sich erledigt.
Jeder Chinese konnte bei jedem Bankett so viel Tee verlangen, wie er wollte. Auch wenn der Tee erst ganz wenig oder überhaupt noch nicht getrunken war.
Die Kellner nahmen die Schnaps-Tee-Tassen mit in die Küche und stellten neue sauberen Tee-Tassen wieder vor den Gast.
Der Garten
Am nächsten Vormittag traf man sich wieder im Büro des Bürgermeisters. Dieser hatte zu diesem Treffen einige Mitarbeiter mit hinzugezogen. Das Büro des Chefs war gefüllt mit vielen Angestellten und Beamten der Verwaltung und entsprechend des hohen Anlasses herrschte eine erwartungsvolle Atmosphäre.
Ohne viel Vorgeplänkel erhob sich der Bürgermeister und mit ihm zusammen sofort auch alle anderen Chinesen, die mit ihm im Zimmer waren.
Der Bürgermeister sagte zu Thomas, man werde jetzt einen kleinen Spaziergang machen.
Thomas und Minho und Frau Li hatten keine Ahnung, was jetzt passieren würde.
Frau Li hatte auch während der kurzen Begrüßung im Büro des Bürgermeisters nichts Chinesisches mitbekommen, was auf so einen Spaziergang hindeuten könnte.
Hinter dem großen alten Gouverneurspalast gab es einen sehr großen Garten. Er war gepflegt und mit Sicherheit einer der schönsten Gärten der ganzen Stadt.
Das eine Ende des Gartens grenzte an einen kleinen Zaun, von dem aus die Klippen ganz tief ins Meer fielen.
Auf der anderen Seite gab es zwei kleine Wege, die von der Stadt hinauf zum Gouverneurspalast führten.
Die Wege
Der eine etwas breitere Weg führte direkt zum Hauptportal des alten Palastes.
Der andere Weg war geringfügig schmaler und nicht ganz so gepflegt.
Beide führten von der unteren Altstadt, die direkt am Meer lag, hinauf zu diesem imposanten Gebäude. Beide Wege hatten einige kleine Serpentinen, sie waren mit Sicherheit notwendig, als vor über hundert Jahren die Pferdekutschen hoch zum Palast oder zum Garten fuhren.
Das Kutschhaus
Am Rande des Gartens gab es ein kleines Gebäude. Es war unscheinbar, bestand offensichtlich aus zwei Stockwerken und hatte neben einer Eingangstür noch ein großes und ein etwas kleineres Tor.
Alle Tore waren verschlossen.
Der Bürgermeister ging zusammen mit der gesamten Begleitung zu diesem kleinen Haus und als sie fast dort angekommen waren, wandte er sich an Thomas und seine beiden Begleiter.
„Ich freue mich sehr„, eröffnete der Bürgermeister seine kleine Rede, „dass wir für unsere neuen Freunde aus Deutschland und anderen Ländern etwas gefunden haben, wo sie sich in unserer schönen Stadt wohl fühlen können.
Vor über 100 Jahren haben Ihre Vorfahren „und damit wandte er sich direkt an Thomas“ dieses Haus gebaut, damit die Kutschen und deren Pferde und Fahrer jederzeit zum Gouverneurspalast kommen konnten.
Er wusste jetzt einige Worte nicht auf Englisch und wechselte ins Chinesische und Frau Li übersetzte von da ab den Rest seiner kleinen Rede.
Das große Tor wurde geöffnet.
Im Raum hinter diesem Tor war Platz für zwei bis drei Kutschen – Thomas wusste nicht genau, wie breit solche Kutschen früher waren.
Dann machte einer der Chinesen das etwas kleinere Tor auf und man sah einen Raum, wo in der Mitte einige größere Behälter auf dem Boden angebracht waren.
Dies war der Raum für die Pferde, wo sie sich ausruhen konnten und wo man sich um sie kümmerte.
Und durch die normale Eingangstür gelangte man in 2 kleinere Räume, die nebeneinanderlagen und wo an einer Seite eine recht steile Treppe nach oben zum Dachgeschoss führte.
„Ich könnte mir Folgendes vorstellen“, erklärte der Bürgermeister der kleinen Gruppe, die um ihn herum stand- „in dem großen Raum, wo früher die Kutschen standen, könnte Herr Minho seinen schönen Volvo abstellen.
Der Raum daneben, wo früher die Pferde tranken und sich ausruhten, kann genauso wie die anderen beiden Räume daneben als Büro und Konferenzraum für unsere neue internationale Firma hier benutzt werden.
Und oben die beiden Räume wären dann die Privaträume und Schlafzimmer für unsere Gäste.
Thomas, Frau Li und Herr Minho waren sehr erfreut, beeindruckt und dankbar über diese Gastfreundschaft, die aus den Worten des Bürgermeisters herausklang. Minho sprach inzwischen so gut Chinesisch, dass er alles verstand, was gesagt wurde.
Er würde niemals zugeben, dass das, was er hier jetzt sah, sein eigenes kleines Zuhause in einem Hochhaus in Pjöngjang um Längen übertraf.
Dann stellte der Bürgermeister seinen Besuchern einige Mitarbeiter aus der Stadtverwaltung vor. Sie würden gern die Anregungen von Thomas aufnehmen bezüglich Wasser, Strom, Heizung und all den Sachen, die heute möglich sind, aber zum Zeitpunkt des Baus dieses kleinen Kutschhauses unbekannt waren.
Und wenn die neuen Freunde dann in ein oder zwei Monaten das nächste Mal nach Quindao kommen, können Sie sicher sein, dass alles fertiggestellt sein wird.
Märchen
Thomas kam sich ein klein bisschen wie im Märchen vor, wo man Wünsche äußert, die dann mehr oder weniger sofort in Wirklichkeit umgesetzt werden.
Und er fragte sich einen Moment lang, wo eventuell ein Haken bei der ganzen Geschichte sein würde.
Während der ganzen Zeit, die man vor und in dem kleinen Kutscherhaus verbrachte, wurde mit keinem Wort über Kosten oder Geld geredet.
Thomas war sicher, dass auch später keinerlei Forderungen der Verwaltung kommen würden, denn die chinesische Gastfreundschaft, die zu jener Zeit noch sehr ausgeprägt war, würde diesen Punkt einfach übersehen.
Schraubenzieher
Nach der Rede des Bürgermeisters erwarteten alle eine kleine Erwiderung von Thomas.
Und hier tat Thomas das, was er am besten konnte – er überraschte die kleine Gesellschaft mit etwas, womit sie nicht gerechnet hatten.
Er holte aus der Umhänge-Tasche, die er immer bei sich trug, einen kleinen metallischen Schraubenzieher hervor.
Es war der gleiche Schraubenzieher, mit dem er bereits vor vielen Jahren Hunderte von 1. Klasse Eisenbahnwaggons von ihren permanent plärrenden Lautsprecherdurchsagen getrennt hatte. Dann wickelte er ein kleines Metallteil aus dem Seidenpapier, worin es eingeschlagen war.
Er nahm die beiden kleinen dunklen Schrauben, die ebenfalls in dem Papier mit enthalten waren, vorsichtig heraus und hielt das metallene Firmenschild von Magnolia quer an die große, schwere hölzerne Eingangstür.
Mit der Rückseite des Schraubenziehers klopfte er die beiden Schrauben erst etwas ins Holz und drehte sie dann mit dem Schraubendreher fest an.
Jetzt glänzte auf der Tür ein knallbuntes Metallschild von Magnolia International.
Alle Anwesenden waren beeindruckt und begeistert. Sie klatschten laut und lange und der Bürgermeister war über diese kleine Vorstellung seines neuen deutschen Freundes geehrt und gerührt.
Gemütlich
Als sie nach einigen Wochen wieder nach Quindao kamen, war das kleine Kutscherhaus komplett renoviert.
Alle Wünsche und Punkte, die Thomas und seine beiden Begleiter geäußert hatten, waren erfüllt und durchgeführt.
Minho hatte neben der Garage, in der sein alter Volvo stand, ein kleines eigenes Zimmer. Es gab ein kleines Konferenzzimmer und das eigentliche Büro und oben hatten die beiden nordkoreanischen Fahrer ihre Zimmer, die sie schon kurze Zeit später einfach, aber gemütlich eingerichtet hatten.
Zwei Nordkoreaner
Der eine dieser beiden einfachen Menschen aus Nordkorea entdeckte seine Leidenschaft für das Kochen. So etwas hätte er in seiner Heimatstadt nie durchziehen können.
Dazu gab es einfach zu wenig Grundnahrungsmittel – und was angeboten wurde, war für ihn und seine armen Mitmenschen in der Regel viel zu teuer.
Sein Partner und junger Kollege entdeckte bei sich die Fähigkeit, dass er sehr sprachbegabt war. Schon nach kurzer Zeit konnte er sich auf Chinesisch unterhalten und heute, viele Jahre nach dieser ganzen Episode, haben die beiden in Quindao ein gut gehendes koreanisches Restaurant, wo der eine kocht und der andere die Gäste freundlich und effizient bedient.
Fischgerichte aus Quingdao, Kohlvarianten aus ihrer Heimat und Reis- und Teigkombinationen aus der großen chinesischen Küche – sie waren fleißig, erfolgreich und dankbar, dass sie ganz am Anfang einen Container von Pjöngjang nach China fahren durften.
Siebzehntes Buch
Inspektor Columbo
Aaron war müde geworden. Er hatte die letzte halbe Stunde sehr genau verfolgt, was Thomas ihm alles über Quindao und die dortige Niederlassung von Magnolia erzählt hatte.
Er hatte es heimlich etwas bereut, bei seinem Besuch im letzten Jahr nicht den alten Gouverneurspalast und das renovierte Kutscherhaus besucht zu haben.
Er nahm sich vor, dies bei einem nächsten Besuch in China unbedingt nachzuholen.
Wer die Reiselust und die damit verbundene Vorbereitungszeit des Schweizer Durchschnittsbürgers kennt, weiß, dass dies ein Unterfangen von mindestens 5 Jahren darstellt.
Die Nusstorte, der kleine Kräuterschnaps, der traditionell zum Ende eines Essens vom Wirt spendiert wurde, und die Tatsache, dass er jetzt schon mehrere Stunden mit Thomas in diesem angenehmen, rustikalen und sehr gepflegten kleinen Restaurant zusammen saß – all das hatte ihn zum Ende der Erzählung von Thomas etwas müde gemacht und er bat seinen Freund, ihn am nächsten Vormittag in seinem Büro zu besuchen.
Dort hätte seine Büroleiterin den nächsten Auftrag vorbereitet und Aaron würde dann gerne auch noch ein oder zwei Fragen stellen.
Thomas war damit einverstanden, auch war er schon etwas schläfrig nach all dem Erzählen.
Als sie sich bereits erhoben hatten und zur Garderobe gingen, drehte Thomas sich noch einmal zu Aaron um.
Thomas hatte in seiner Jugend begeistert die alten Schwarz-Weiß-Krimis von Inspektor Columbo im Fernsehen gesehen.
Und seitdem hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, genauso wie Inspektor Columbo am Schluss einer Besprechung, wenn man schon auf dem Weg zur Tür war, sich umzudrehen und mit einer unscheinbaren einzigen Frage die Klarheit herzustellen, die nötig war, um den Fall zu lösen.
Oderfrei
„Noch eine Frage“, sagte Thomas genau wie sein Vorbild im Fernsehen und drehte sich dabei etwas um.
„Falls ich irgendwann in ferner Zukunft für meine Kinder und Enkel etwas aus meinem doch recht bewegten Leben aufschreiben sollte, so wird unsere Bekanntschaft darin mit Sicherheit einen ihr gebührenden Platz einnehmen.
Und falls es dabei an einigen Stellen zur Wiedergabe wörtlicher Reden kommen sollte, möchte ich Sie fragen, ob sie damit einverstanden wären, dass ich dabei dann die gelegentliche Schweizer Redensart eines vor- oder nachgestellten „oder“ nicht so wörtlich zitiere, wie es in ihrem schönen Land allgemein gesprochen wird.
Aaron stutzte, als er diesen reichlich verschachtelten Satz von Thomas hörte und versuchte, den Kern der darin enthaltenen Frage zu finden.
Als er begriffen hatte, dass Thomas sich mit dieser sehr höflichen Formulierung gleichzeitig über das permanente »oder« seines Gegenübers etwas lustig machte, beschloss Aaron, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
„Oder selbstverständlich. Oder? – Schreiben Sie es ruhig alles oder frei.
Damit hatte Aaron das gemeinsame deutschschweizer Vokabular um ein neues Adjektiv bereichert.
Solide
Am nächsten Vormittag erhielt Thomas von der Geschäftsführerin dieses größten Schweizer Spezial-Geschäfts für Naturprodukte einen neuen Auftrag.
Dieser Auftrag war wieder etwas größer als seine Vorgänger und Thomas bedankte sich.
Die Direktorin erklärte ihm, dass man erfolgreich Verhandlungen über Lammfell-Schuhe mit zwei großen skandinavischen Kunden geführt habe und dass man dort über die Qualität und Zuverlässigkeit des Produkts sehr zufrieden war.
„Es geht doch nichts über den Namen eines soliden Schweizer Produktes,“ meinte sie etwas augenzwinkernd.
Da sie allgemein von einer unnachahmlichen Zurückhaltung war, die man in Branchenkreisen auch gelegentlich mit Spröde, Kälte und Distanziertheit bezeichnete, war ihr ironischer Vergleich, die Lammfell-Schuhe von Thomas als »solides Schweizer Produkt« zu bezeichnen, die wohl höchste Auszeichnung, die Thomas jemals von ihr gehört hatte.
Wichtig
Sie saßen jetzt in dem kleinen Privatkontor, das sich direkt neben der Buchhaltung befand und in dem Aaron normalerweise alleine saß, um seine Firma in Ruhe zu lenken.
Thomas wusste, dass es für Aaron nur eine Sache gab, die wichtiger war als jeder Kunden- oder Lieferantenbesuch.
– Wichtiger als seine persönliche Kontrolle fast aller ein- und ausgehenden Sendungen.
– Und wichtiger als sein halbjährlicher Kontrollbesuch bei seinem Hausarzt.
Das Wichtigste für Aaron war seine Buchhaltung.
Wucht und Stärke
Thomas konnte sich noch sehr genau an den Moment erinnern, als er Aaron die ersten Gegenmuster der chinesischen Fabrik zeigte.
Aaron war von der Qualität und der ganzen Verarbeitung sehr angetan und auch bereit, einen ersten größeren Probe-Auftrag zu platzieren.
Aber als Thomas ihm dann ein ganz klein bisschen von den weltweiten Verflechtungen erzählte, die mit der Produktion dieser Lammfellschuhe verbunden waren, da sah Thomas, wie das markante Gesicht von Aaron erst zuckte und dann gefror.
Das, was er von Thomas zu diesem Thema hörte, war für ihn so außerhalb seiner Vorstellungskraft, dass er sogar bei seiner Antwort das eine oder andere „oder“ vergaß. Und da Aaron sowohl seine privaten als auch geschäftlichen Lebensabschnitte immer einigen unumstößlichen Prinzipien unterwarf, war seine Antwort klar und deutlich.
„Ich möchte, lieber Herr Deckel, mit ihnen ins Geschäft kommen. Ich bin von der Qualität und Ausführung ihrer Muster angetan. Ich bin bereit einen etwas größeren Probeauftrag zu platzieren. Ich bin aber nicht bereit, irgendwelche Aufträge irgendwohin in die Welt zu schicken.
Wir beide können in Zukunft sicherlich freundschaftlich und seriös miteinander Geschäfte machen, aber das bedeutet gleichzeitig nur Geschäfte zwischen mir und Ihnen respektive Ihrer Firma.
Im Klartext – sie sind mein einziger Geschäftspartner. Sie als Firma und Person sind mir gegenüber verantwortlich für die korrekte Erfüllung geschlossener Verträge.
Was und wie und wo und warum Sie danach alles unternehmen, um mich mit einer korrekten Warenlieferung zu erfreuen – das ist allein Ihre Angelegenheit. Und nochmal so klar wie möglich: Ich bin der Schweizer Vertragspartner einer Hamburger Firma. Ich kaufe ein Produkt von Ihnen, das sie vorher in einer Art und Weise nach Deutschland geholt haben, die mich nichts angeht.
Die Ware muss von Ihnen korrekt und legal nach Deutschland eingeführt worden sein. Sie müssen somit als ganz normales Produkt an mich geliefert werden, genauso wie ich irgendein anderes deutsches Produkt kaufe, egal ob es sich dabei um ein Auto oder um eine Zeitung handelt.
Thomas erkannte die Wucht und Stärke dieser Aussage daran, dass Aaron sie praktisch ohne irgendwelche „oder“ formulierte.
Normal
Thomas ließ sich dies alles eine Nacht durch den Kopf gehen.
Dann hatte er in sehr groben Zügen eine Skizze oder einen ersten Plan, wie er das Problem angehen und lösen wollte. Am nächsten Vormittag verabschiedete er sich von Aaron und nahm einen Probeauftrag mit.
Seitdem hatten weder Aaron noch Thomas dieses Thema zu keinem Zeitpunkt noch einmal erwähnt oder darüber gesprochen.
In dem ganzen Plan, den Thomas Stück für Stück an den verschiedensten Stellen dieser Welt realisierte, gab es nach dem Gespräch mit Aaron Keller ein einfaches und klares Ziel: Alle Fäden mussten in seinem Büro in Hamburg zusammenlaufen. Und zum Schluss musste die Ware ganz normal nach Deutschland importiert werden.
Das bedeutet, alle Unterlagen für Zoll, Ursprungs-Zeugnisse und sonstige Papiere mussten genau den deutschen Anforderungen entsprechen. Dann konnte die Ware nach dem Eintreffen in Hamburg auf das normale Warenlager der Firma Deckel gebracht werden. Und von dort aus sollten alle Kartons auf ganz normalen Weg zu Aaron Keller geschickt werden.
Diese Überlegung war der Hauptgrund, dass Thomas sich auf keine Zollvergünstigungen oder temporären Zollbefreiungen einlassen konnte. Es musste eine Ware dokumentiert und erschaffen werden, die ganz normal auf dem Inlandslager von Thomas verbracht werden konnte, egal zu welcher Jahreszeit.
Allerheilig
Jetzt – vier Jahre, nachdem die erste größere Warensendung bei Aaron Keller eingetroffen war und 5 Jahre seitdem sie sich auf der Messe in Frankfurt zum ersten Mal über dieses Thema unterhielten – fand Aaron den Zeitpunkt für gekommen, um einige wenige Fragen zu stellen, die ihn bewegten.
Und dies betraf sein wichtigstes und allerheiligstes Geschäftsgebiet – die Buchhaltung.
„Mir ist bekannt“, fing Aaron mit der ersten Frage an, „dass die deutsche Steuerbehörde sehr effizient ist- fast so effizient wie unsere eidgenössische hier bei uns.
Nur dass wir mit ungefähr 800 Steuergesetzen auskommen, in Deutschland sollen es nach allem, was ich gelesen habe, bald 30.000 Vorschriften sein. Ich bezweifele, dass es irgendjemand bei Ihnen gibt, der diese Menge auch nur annähernd jemals gelesen und studiert hat„, fügte er mehr zu sich selbst gesprochen hinzu.
„Ich muss hier bei mir alles so einfach wie möglich gestalten. Ich habe zum Beispiel eine eingehende Rechnung von der Firma Deckel und dagegen einige ausgehende Rechnungen an meine großen Kunden.
Die mengenmäßige Differenz dieser Artikel ist mein Lagerbestand und das Ganze ist in der Buchhaltung klar und einfach definiert und ersichtlich.“
Komplex
„Es wäre schon für mich persönlich interessant zu erfahren, in welcher Form Sie ihr ganzes System bei sich verwalten.
Ich möchte hier auf keinen Fall irgendwelche Geschäftsgeheimnisse erfahren, mich interessiert nur die Logik, mit der all das, was sie mir im Laufe der Jahre erzählt haben und was ich auch letztes Jahr selber gesehen habe, wie sich das alles in ihrer Buchhaltung zusammenfügen lässt.
Und Buchhaltung, dass wissen Sie inzwischen, ist für mich hier genauso interessant und wichtig wie für Sie vielleicht die Frage, wo es auf der Welt noch Grenzen gibt, die man eventuell in seine Überlegungen mit einbeziehen könnte.“
Dabei lächelte er ein bisschen, das sollte eine kleine Anerkennung für die Professionalität und Komplexität sein, die er bei Thomas im Laufe der Zeit erlebt hatte.
Gegenbuchung
Thomas überlegte einen Augenblick, dann antwortete er direkt auf die Frage von Aaron.
„Sie werden es mir wahrscheinlich kaum abnehmen, aber auch ich bin im Laufe der Zeit ein Freund der Buchhaltung geworden. Mich fasziniert die Einfachheit, Strenge und Logik, die hinter jeder doppelten Buchführung steht.
Eine Einnahmen- und Ausgaben-Rechnung haben wir alle wahrscheinlich irgendwann in unseren sehr frühen Jahren einmal gemacht, meistens unbewusst.
Das Taschengeld, das nie ausreichte und was wir je nach Veranlagung ein oder zwei Tage teilweise noch aufsparen konnten, war dann weg und damit auch das Interesse an solch einer einfachen Überschussberechnung.
Aber die doppelte Buchführung, wie sie heutzutage in jeder Firma angewandt wird, ist auch für mich faszinierend
Passiv
„Es hat sehr lange Zeit gedauert, bis ich meinen Kindern und gelegentlich auch meinen Angestellten erklären konnte, warum das Kapital auf der Passivseite steht und damit negativ ist.
Der weibliche Teil meiner Familie hat es wohl bis heute nicht begriffen. Für sie ist weiterhin alles, was man hat, immer positiv.
Milch-Mädchen
„Aber ich will jetzt wirklich versuchen, in einem Zeitraffer Ihnen die Buchhaltung dieser schönen Lammfellschuhe zu erklären.
Das ist an sich ganz einfach, weil wir beide von uns sagen können, dass wir einigermaßen Fachleute auf diesem Gebiet sind. Die Lammfellschuhe, die wir hier auf dem Tisch haben sind zwar unterschiedlich in Farbe und Design. Sie haben aber alle eines in ihrer Struktur gemeinsam.
Ich mache am einfachsten einmal eine kleine Milch-Mädchen-Rechnung auf. Sie beginnt mit dem Ende der Transaktion, dann kann man alles einfacher nachverfolgen.
Gehen wir also einmal davon aus, dass Sie eine normale Lieferung von uns aus Hamburg bekommen haben und die Rechnung dafür, die immer prompt von ihnen bezahlt wurde.
Gehen wir hier zum Beispiel davon aus, dass es sich bei dieser Warenlieferung um einen fiktiven Betrag von insgesamt 300.000 Schweizer Franken handelt.
Der Warenwert jedes Lammfellschuhs besteht aus drei ziemlich gleichen Teilen.
Dabei ist es unerheblich, ob der Wert eines Schuhs 5 oder 10 oder 15 Schweizer Franken beträgt.
Jeder Schuh besteht aus ungefähr:
1/3 Materialkosten
1/3 Produktionskosten
1/3 Transport, Finanzierung und dem berühmten Sonstigen.
Da sie von Anfang an Wert darauf gelegt haben, dass sie nur direkt von der Firma Deckel kaufen, geht die gesamte Buchführung von Hamburg aus.
Vorauszahlung
Sie beginnt damit, dass das erste Drittel in Form einer Vorauszahlung durch unsere Hamburg Bank nach Wien abläuft. Über Wien und die Marshallinseln gelang das Geld nach Australien.
Magnolia Australia bezahlt damit die Ware beim Händler und Lieferanten in Melbourne oder Sydney. Man bekommt dafür eine Rechnung.
Dieser einfache Vorgang ist inner-australisch, Ware gegen Zahlung.
Wenn die Rohware im Container nach Quindao verladen wird, erstellt Magnolia Australia für diesen Container eine Rechnung an Firma Deckel in Hamburg.
Diese Rechnung war durch Vorkasse bereits bezahlt und die Buchung „Ware gegen Zahlung“ ist damit ausgeglichen.
Gratis
„Als Nächstes sorgt Magnolia Quindao dafür, dass die Ware in die Schuhfabrik transportiert und dort nach den vorgegebenen Plänen verarbeitet wird.
Die Schuhfabrik bekommt die Rohware gratis. Sie hat lediglich Anspruch auf die Produktionskosten.
Damit alles in der Schuhfabrik gut vorbereitet werden kann, bekommt sie die Hälfte des ausgemachten Produktionslohnes bei Beginn und die andere Hälfte bei Ablieferung.
Die Schuhfabrik ist ausschließlich ein innerchinesischer Betrieb. Sie erstellt eine Rechnung über den halben Gesamtwert am Anfang und schickt die Rechnung nach Peking. Magnolia Peking bekommt von Hamburg aus den Gesamtbetrag dieser Produktion überwiesen.
Halbwert
„Peking zahlt von dem Geld zuerst die eine Hälfte und nach Fertigstellung und Ablieferung die zweite Hälfte der Lohnkosten.
Peking hat dafür 2 innerchinesische Rechnungen von der Fabrik erhalten. Peking schickt die Rechnungen nach Hamburg und Hamburg verbucht die beiden Rechnungen gegen den Wert der Zahlung, die man kurz vorher von Hamburg aus nach Peking gemacht hat.
Also auch hier sind jetzt bereits alle relevanten Buchungsvorgänge ausgeglichen.
Sowohl Qindao als auch Beijing und auch Hamburg haben somit alles vorschriftsmäßig gebucht.
Wenn diese fertig produzierte Ware mit dem nordkoreanischen Lkw im Hafen von Quindao eintrifft, wird sie im Namen von Magnolia exportiert und nach Hamburg verladen.“
Eigentümer
„Auf den Frachtpapieren ist der korrekte Eigentümer der Ware und gleichzeitiger Lieferant notiert – nämlich Magnolia Pjöngjang, die zentrale Stelle dieser Operationen.
Die nötigen Schiffs- und Transportpapiere erstellt Magnolia Pjöngjang und schickt sie direkt nach Hamburg. Wenn die Ware verladen worden ist, ist der Vorgang für Magnolia International im Prinzip abgeschlossen.
Hamburg zahlt jetzt die vereinbarten Kommissionen an die verschiedenen Filialen.
Prozente
Normalerweise gehen fünf Prozent nach Pjöngjang, 2 Prozent nach Australien, 2 Prozent nach Peking und ein Prozent nach Ostberlin.
Damit kann auch die internationale Verflechtung in der Buchhaltung problemlos dargestellt und nachgewiesen werden. Das eine Prozent für Magnolia Ost-Berlin ist eine kleine Anerkennung dafür, dass Magnolia auch in Deutschland eine Niederlassung hat.
Die nordkoreanische Fluggesellschaft Air Koryo hatte zu jeder Zeit einen zweiwöchentlichen Direktflug von Pjöngjang nach Ostberlin, der jedes Mal auf beiden Strecken fast komplett leer war.
Für einen sehr geringen Betrag konnten dann ein oder zwei Botschaftsangehörige gelegentlich mit dieser Provision mal in die Heimat fliegen, um ihre Familie zu besuchen.
Sonstiges
Und damit, zum letzten Drittel der Gesamtkosten, beendete Thomas seine Erklärungen. Dem in jeder Bilanz berühmt-berüchtigten »Sonstiges«.
„Die mit dieser Sendung zusammenhängenden Transport- und Finanzierungskosten werden von Hamburg aus bezahlt, dafür sind alle Rechnungen vorhanden.
Zusammengefasst: Von Ihren 300.000 Fr., die sie für die Ware bezahlt haben, sind jeweils bereits im Vorwege fast alle Waren und Produktionskosten bezahlt worden.
Sofern dafür von meiner Firma Kredite bei unserer Bank in Hamburg über unseren Bankberater Herrn Bartram aufgenommen wurden, werden diese jetzt mit dem Geld ihrer Zahlung wieder zurückgezahlt.
Die Ware selbst kommt dann irgendwann in Hamburg an, mit einem ganz normalen europäischen oder chinesischen Containerschiff.
Zollfrei
„Sie wird normal verzollt, als »Product of Democratic Republic of Korea« also zollfrei. Dann ist der Container auf unserem Inlands-Lager in Hamburg und wird als inländische deutsche Ware geliefert. Sie erhalten wie am Anfang aller Gespräche wie gewünscht nur eine Rechnung von Firma Deckel.
Sie zahlen wie immer pünktlich und ein Kreislauf hat sich hiermit geschlossen.
Sie sehen also, es ist alles einfach und klar strukturiert.
Erschaffen
„Man muss es nur in der nötigen Form verwalten.“
Dann stockte Thomas ein bisschen und verzog sein Gesicht zu einer leichten Mischung aus Lächeln und Grinsen und fügte ganz leise und mehr an sich selbstgewandt hinzu: „Man muss es also nur verwalten. Und vor allem vorher erst einmal erschaffen“.
Aaron hatte alles verfolgt. Er hatte darauf verzichtet, sich irgendwelche Notizen zu machen, dazu war die Sache an sich zu klar und zu einfach und außerdem wollte er ja keine Geschäftsinterna aufschreiben, sondern nur aus reinem Interesse das ganze System so gut es ging einmal nachverfolgen.
Er war zufrieden und Thomas reiste anschließend weder zurück nach Hamburg.
Neukunde
Einige Zeit später erhielt Thomas die Nachricht von Aarons Geschäftsführerin, in der sie mitteilte, dass man einen sehr großen neuen Kunden gewonnen hatte und die Menge im nächsten Auftrag sich eventuell fast verdoppeln würde.
Natürlich hatte dieser große Auftrag – der dann auch tatsächlich kurz darauf kam – eine entsprechend lange Vorlaufzeit bis zum Moment der Lieferung.
Thomas kam das ein bisschen so vor wie die großen Jahresaufträge, die er bei seiner Autositzproduktion für seinen Hauptkunden AMI herstellte.
Vergeblich
Er selber hatte mehrfach versucht, bei AMI in der dortigen Schuh-Einkaufsabteilung Fuß zu fassen.
Immer vergeblich.
Ihm wurde ziemlich klar und deutlich gesagt, dass man kein Interesse hatte, nur einen einzelnen Artikel oder ein einziges Modell von einer neuen Firma zu beziehen.
Das gesamte Schuhprogramm von AMI werde mit einer großen internationalen Firma abgewickelt.
Und wenn diese Firma keine Lammfell-Schuhe in ihrem Programm hat, dann ist das eben nicht zu ändern. Aber etwas anderes oder Zusätzliches wollte der immer leicht mürrische Einkäufer, dem Thomas dort in dieser Abteilung einige Male gegenüber saß, nicht haben.
Lagerware
Das Besondere bei diesem neuen Großauftrag von Aaron Keller war die Tatsache, dass ihm von Anfang an gesagt wurde, dass er diese Ware auf keinen Fall in die Schweiz schicken soll. Alle Container für diesen Auftrag sollten in seinem Lager in Hamburg zwischengelagert werden, bis ungefähr ein halbes Jahr später zu einer Auslieferung kommt.
Thomas hatte zwar ein großes Lager in seiner neuen Halle etwas außerhalb von Hamburg, aber da waren nicht die logistischen Möglichkeiten, jetzt noch diverse Schuhcontainer zwischenzulagern.
Er besprach dieses kleine Problem mit seinem Lageristen.
LPG
Dieser war vor einigen Jahren zu ihm gekommen, weil in seinem kleinen Heimatdorf kaum noch Arbeitsmöglichkeiten bestanden.
Dieses Dorf lag kurz hinter der seinerzeitigen Grenze zwischen Westdeutschland und DDR und zwar auf ehemaligem DDR-Gebiet.
Also jetzt in Mecklenburg-Vorpommern.
Für die Lageristen war die Sache ganz einfach. Er sagte, bei ihm im Dorf und auch in der näheren Umgebung gibt es viele leerstehende große Gebäude.
Die allermeisten davon sind alte LPG ( Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaften), wie es zu DDR-Zeiten hieß. Sie waren nach der Wende fast alle geschlossen worden, weil sie wirtschaftlich unrentabel waren und die meisten davon würden bis heute leer stehen.
Schweinestall
Zwei Monate später trafen die ersten Container für Aarons neuen Großauftrag in Hamburg ein. Sie landeten einige Tage später in einem riesengroßen Schweinestall am Rande eines kleinen Dorfes in der Nähe des Schaalsees, der seinerzeit die Grenze zwischen Westdeutschland und der DDR war- nur 70 km von Hamburg entfernt.
Der Schweinestall füllte sich mehr und mehr mit der Ware vieler Container, und da die Mehrzahl aller Scheiben dieses gewaltigen Backsteingebäudes inzwischen kaputt und eingeschlagen waren, bestand ein permanenter Durchzug für die berühmte frische Mecklenburger Brise, die damit permanent dieses Gebäude durchlüftete.
Riechtest
Thomas machte einmal bei einem Besuch den Riechtest.
Er fuhr mit seiner Sekretärin, einer Dame aus der Buchhaltung und der jungen Dame, die im Empfang arbeitete, an einem schönen sonnigen Morgen hinaus zu ihrem großen Schweinestall.
Keine der 3 Damen war vorher dort gewesen. Sie wussten nicht einmal, dass es so etwas gab, geschweige denn, was dort passierte.
Und als Thomas sie fragte, ob sie irgendetwas Außergewöhnliches riechen würden, schüttelten alle den Kopf. Teilweise weil sie diese Frage nicht verstanden hatten, teilweise weil sie wirklich nichts gerochen hatten.
Geheimnisse
Aaron und Thomas hatten im Laufe ihrer inzwischen langen und freundschaftlichen Geschäftsbeziehung fast keine Geheimnisse mehr voreinander.
Fast keine.
Denn dass einige hunderttausend Lammfell-Schuhe viele Monate in einem Schweinestall in Mecklenburg-Vorpommern auf den Tag warteten, wo sich Rentner, Bio-Kunden, Kleinkinder, Angler und die Hälfte der Beamten über 40 mit neuen warmen Lammfell-Schuhen ausstatten konnten – das war eine der wenigen Tatsachen, die Thomas seinem Freund Aaron nicht zumuten wollte.
Warum
Aaron Keller kannte jetzt fast die gesamte Geschichte des Plans, den Thomas sich nach ihrem ersten Gespräch am kleinen runden Tisch auf der Messe in Frankfurt überlegt hatte. Und den Thomas dann Stück für Stück umsetzte, damit zum Schluss sowohl die Bäuerin auf der Schweizer Alm als auch der deutsche Rentner in seiner zweieinhalb Zimmerwohnung am Stadtrand gute und günstige Lammfellschuhe tragen konnten.
Der Kreislauf
Aaron kannte jetzt den Kreislauf.
Angefangen von der allgemeinen Ratlosigkeit im kalten Besprechungszimmer der Fabrik in Pjöngjang.
Die Gründung der Magnolia.
Die Filialen in China, Ost-Berlin, Sydney und Qingdao.
Die PR-Aktionen auf der Messe in Paris und die Beschaffung der dafür nötigen Muster in Macao und Hongkong.
Der Einkauf von Rohware in Australien, die niemals nordkoreanischen Boden berührte, sondern im Container direkt wieder zurück nach China ging.
Das virtuelle Hin- und Her der Fertigware auf den Papieren zwischen Nordkorea und der Lohnproduktion in Kuwait.
Die Verzollung in Deutschland von einer nordkoreanischen Ware, die niemals in Pjöngjang die Luft der Unfreiheit geschnuppert hatte.
Der Weg dieser Ware mit dann deutschen Papieren in die Schweiz.
Und schließlich als Krönung noch die Tatsache, dass diese virtuelle Nordkorea-Ware von einem Schweizer nach Deutschland verkauft wurde, ohne dass sie jemals einen Hauch von Alpenluft geschnuppert hatte.
Aaron fragte nur einmal in einem gepflegten Anfall von philosophischer Resignation:
„Warum muss auf dieser Welt immer alles so kompliziert sein?“
Thomas hätte ihm mit der Schilderung der Haarschneide-Operation im Krankenhaus vielleicht eine Antwort geben können. Aber das würde keine Antwort, sondern nur eine Bestätigung seiner Zweifel an die Vernunft dieser Welt sein.
Er beschloss deshalb, seinem Freund Aaron Keller nicht noch mehr zuzumuten als all das, was ihn jetzt schon so sehr bewegte, dass Aaron manchmal vergaß, seinen Gedanken ein „Oder“ an den Anfang oder das Ende seiner Überlegungen zu setzen.
Epilog
Der Besuch
Nach vielen Jahren guter und freundschaftlicher Zusammenarbeit und ungezählten Besuchen von Thomas in der Schweizer Kleinstadt, wo Aaron Keller lebte und arbeitete, geschah noch etwas Bemerkenswertes.
Herr Keller hatte seine vor langer Zeit einmal geäußerte Ankündigung eines zweiten Besuchs in China noch nicht realisiert. Als guter und bedächtiger Schweizer war er der Meinung, man solle im Leben nicht immer alles übertreiben.
Dafür hatte er in den letzten Jahren intensiv an den Vorbereitungen eines Tagesbesuchs bei Thomas in Hamburg gearbeitet.
Man besprach Einzelheiten dieser geplanten Reise an den jeweils letzten Sonntagen der Frankfurter Messe. Im vergangenen Jahr bemerkte Thomas, dass sich die Vorbereitung seines Freundes Aaron hier wohl irgendwann dem Ende zuneigen würden.
Konkret
Auf der diesjährigen Messe erhielt er dann die konkrete Zusage, dass alle Vorbereitungen für einen solchen Besuch im Laufe der nächsten Monate abgeschlossen werden würden.
Und vier Monate später saß Aaron so wie angekündigt im Büro von Thomas, trank seinen starken schwarzen Kaffee und blickte hinaus durchs Fenster auf die satten grünen Felder und Wiesen von Schleswig-Holstein.
Thomas war vor Kurzem mit seiner Firma aus Hamburg weggezogen, um in der Nähe der Großstadt eine Lagerfläche zu haben, die er für den Umsatz seiner gesamten Artikel benötigte.
Nichtraucher
Dann stand Aaron auf und ging auf den kleinen Balkon, der mit dem Besucher-Zimmer verbunden war.
Ursprünglich gedacht für jene immer geringer werdende Gruppe von Menschen, die sich noch nicht ganz erfolgreich das Rauchen abgewöhnt hatten und entsprechend vor einer Vertragsunterzeichnung erst noch einmal kräftig rauchen wollten.
Aaron war Nichtraucher, genau wie Thomas und fast alle seiner Mitarbeiter.
Ob Aaron beim Blick auf die norddeutsche Tiefebene, die sich vom Balkon bis zum Horizont erstreckte, seine heimatlichen Alpen und ihre Bergketten vermisste, war Aaron nicht anzusehen.
Aber allein wegen dieses Anblicks hatte sich sein Tagesausflug in die Umgebung von Hamburg mit Sicherheit gelohnt.
Aktentasche
Dann ging Aaron zurück an den Konferenztisch und öffnete seine kleine schwarze Aktentasche.
Thomas ging in diesem Moment ein Bild durch den Kopf und er erwartete insgeheim, dass Aaron jetzt mit einem kleinen Messingschild ankommen würde, um hier seine Hamburger Filiale zu gründen.
Aber es gibt offensichtlich doch noch Kulturunterschiede zwischen dem, was ein Deutscher in China und ein Schweizer in Hamburg in seiner jeweiligen Aktentasche mit sich führen.
Aaron holte etwas sehr Kleines, Rechteckiges aus seinem Koffer, es war ebenfalls in gutem Geschenkpapier eingewickelt.
Reclam
Er überreichte es Thomas mit einem leichten Kopfnicken und Thomas fühlte, dass es sich um ein kleines Buch handeln würde.
Ungefähr in der Größe, wie in seiner Jugend die kleinen Reclamhefte mit deutschen Klassikern an ihrer Schule verteilt worden sind.
Er wickelte das Gastgeschenk aus und sah sich den Titel dieses kleinen Heftes an.
Der Titel bestand aus einem einzigen Wort, das er in dieser Art vorher noch nie bewusst gelesen oder gehört hatte.
Unter dem Titel war noch eine kleine kurze Erklärung auf dem Titelblatt eingedruckt.
Helvetismen
Thomas las den Titel laut vor:
– Helvetismen
Von Anken, Gant und Gof
Schweizer Wörter, die kein Deutscher kennt.
Und dann war auf der vierten Seite dieses kleinen Mini-Lexikons ein gelber Zettel eingeklebt und eine Zeile von Aaron mit Kugelschreiber leicht unterstrichen.
Die Finken
Auf diesen Seiten waren 6 Wörter aufgeführt – in ihrer Schreibweise und Erklärung.
Verband (Medizin) – der Fasche
Februar – der Feber
Taschenmesser – das Feiti
Grüne Bohnen – die Fisolen
Lammfell-Hausschuhe – die Finken
Und Thomas wusste jetzt, wie der Titel der Geschichte lauten wird, wenn dies alles irgendwann einmal erzählt werden sollte.