Die Magenverstimmung


Prolog 1

Der große Philosoph Nietzsche hatte, kurz bevor er wahnsinnig wurde, in sein kleines Notizheft geschrieben: „Wo nichts nichtet, nichtet nichts“

Seine Anhänger rätseln bis heute über diese Überwindung der Metaphysik.

Prolog 2

Meine Großmutter – ungefähr im selben Alter wie unser großer deutscher Nihilist – hatte die seltene Fähigkeit, Sprüche und Gedanken mit wenigen Worten aus den Sphären der großen Philosophie auf den soliden Boden ihrer häuslichen Umgebung zu reduzieren.

Als einer ihrer vielen Enkel sie einmal um eine Erklärung des berühmten Satzes bat, überlegte sie kurz und gab dann ihre Antwort – die ebenfalls bis heute gültig ist:
„Von nix kommt nix“.

Dieses Kausalitätsprinzip – oder einfacher gesagt, dieses Gesetz von Ursache und Wirkung –
soll in der folgenden kleinen Geschichte eine große Rolle spielen.

Teil 1


Kuba

Fidel Castro, der jahrzehntelange uneingeschränkte Herrscher dieser schönen karibischen Zuckerrohrinsel, hat in seinem Leben fast alles falsch gemacht. Nur zwei seiner vielen Versprechen, die er in seinen stundenlangen Monologen von sich gab, konnte er wirklich erfüllen.

Er verwirklichte das bis heute beste Schulsystem in ganz Lateinamerika.

Und er sorgte für ein Gesundheitssystem, das ebenfalls bis heute vorbildlich ist.
Seine arme Bevölkerung konnte auf diese Art gesund verhungern.

Ausbildung

Wer es als junger Mensch auf Kuba schaffte, das Abitur zu machen, der durfte an einer Universität studieren.

Wer als Student mit sehr großem Fleiß die besten Zeugnisse erreichte, durfte Medizin studieren.

Und wer als Medizin-Student die besten Jahresabschlüsse erreichte, für den realisierte sich der größte Traum aller Kubaner – er durfte im Ausland als Arzt sein Leben gestalten.

Er musste nur einen nicht geringen Teil seiner Einkünfte dafür der kubanischen Regierung zurücküberweisen.

Aber wer es so weit gebracht hatte, der tat es gerne.

Dieses System der selektiven Ausbildung bis hin zur Spitzenposition wurde dann in Kuba nicht nur für die Ärzte, sondern auch für Krankenschwestern und andere Mitarbeiter im medizinischen Sektor erfolgreich in den Jahren 1970 bis 1990 durchgeführt.

Die Sprache

So gut die medizinische Ausbildung auf den Universitäten auch war – eines war verboten und erwies sich bald als größtes Hindernis für die allermeisten kubanischen Ärzte und Krankenschwestern: die Sprache.

Aus ideologischen Gründen wurde auf diesen Universitäten weder Englisch noch Französisch noch eine andere internationale Sprache gelehrt – außer Russisch.

Die top ausgebildeten Ärzte und Krankenschwestern mussten also versuchen, dort eine Zukunft zu finden, wo sie in ihrer spanischen Muttersprache kommunizieren konnten.

Das war in Europa natürlich in erster Linie Spanien und mit einigem Abstand für sehr sprachbegabte Kubaner noch Italien und Portugal.

Die Sperre

Irgendwann in den Achtzigerjahren regte sich Widerstand in den südeuropäischen Ländern.
Die dortigen Ärzte und Krankenschwestern protestierten gegen ihre kubanische Konkurrenz.
die nicht nur besser ausgebildet waren, sondern auch bereit waren zu einem wesentlich geringeren Entgelt zu arbeiten.

Irgendwann in dieser Zeit wurde dann in der gesamten Europäischen Union ein Einreisestopp für Ärzte und Krankenschwestern aus nicht-europäischem Gebiet verhängt und der Traum vieler top-ausgebildeter Kubaner war geplatzt

Die Alternativen

Natürlich hatten sie die Möglichkeit, in allen südamerikanischen und den meisten mittelamerikanischen Ländern ihr Auskommen zu finden. Aber die dortigen Arbeitsbedingungen und Gehälter waren so schlecht, dass ihnen nach Abzug der Ausreisegebühren, die sie an die kubanische Regierung zurückzahlen mussten, nicht mehr viel zum Leben blieb.

Der Ausweg

In der Karibik geht immer alles irgendwie weiter.
Meist nach dem Motto „… was hat ein Mann ohne Beine- Erdnüsse“

Ab 1990 begann der Tourismus auf der Nachbarinsel Hispaniola, der nach Kuba zweitgrößten Insel der Karibik. Auf der Insel Hispanola gibt es 2 Länder, die unterschiedlicher nicht sein können.

Auf der einen Seite Haiti, das mit Abstand ärmste und schrecklichste Land in ganz Amerika.

Und auf der anderen Seite die Dominikanische Republik – ein mittelgroßes Land ohne besondere Vor- und Nachteile und bis 1990 nur den allerwenigsten Menschen dieser Welt ein Begriff.

Getrennt sind diese beiden so extrem unterschiedlichen Länder durch das höchste Gebirge der Karibik mit über 3000 m hohen Berggipeln. Dieses Gebirge trennt Haiti und die Dominikanische Republik so stark und drastisch, dass sich über Jahrhunderte auf beiden Seiten etwas völlig Eigenständiges entwickelte.

Auswahl

Von 1990-2000 erlebte die Dominikanische Republik den weltweit größten Tourismusboom.

Es kamen in den ersten beiden Jahren über 1 Million Touristen. Dann vervielfachte sich diese Zahl der Besucher jedes Jahr. Nach 5 Jahren gab es 5 Millionen Touristen, nach 10 Jahren 8–10 Millionen.

Über 80% der Touristen reisten nach Punta Cana. Punta Cana wurde zum Synonym für einen kontrollierten und nach karibischen Verhältnissen relativ perfekt organisierten und eloquenten Tourismus.

Die Besucher wurden für eine, zwei oder drei Wochen in einen goldenen Käfig am Strand gesteckt, wo sie nach 2 oder 3 Tagen vor Langeweile nicht mehr wussten, was sie machen sollten.

Es wurde seitens der Regierung, der Hotels und aller touristischen Organisationen Wert darauf gelegt, dass Tourismus in Punta Cana zu keiner Zeit in die Abgründe von Mallorcas Arenal oder Thailand Phuket versinkt.

Den in Punta Cana vorherrschenden All-Inclusive-Tourismus für die gehobene Mittelschicht kann sich aber nur ein überwiegend älteres und finanziell abgesichertes Publikum leisten.

Das Publikum ist meist zwischen 40 und 70 Jahren alt. Solange die Kinder im Haus sind, erfolgt der Urlaub im Land mit dem Auto, der Bahn oder im europäischen Ausland per Flieger. Danach kommt dann die Fernreise.

Und weil die Fernreise und der Aufenthalt in der Dom Rep gut und günstig sind, folgt oftmals auch die Wiederholung.

Etwas fehlt

Punta Cana wurde als Luxus-Destination der Mittelschicht auf dem Reißbrett entwickelt.
An fast alles wurde gedacht. Sehr gute Sicherheit, eine spezielle Touristen-Polizei, ausreichend gutes Wasser inklusive ökologisches Abwasser, ausreichend Strom, gute Straßen bis hin zur Autobahn – an alles wurde gedacht.

An fast alles.

Es gab ein ausreichend groß dimensioniertes Krankenhaus in dieser kleinen Stadt.

Die meisten Hotels hatten eine eigene kleine Krankenstation für tägliche Wehwehchen – an sich war somit auch dieser Punkt abgehakt

Die Profis

Ein Autorennen der Formel 1 Klasse besteht heutzutage zu 100% aus Profis.

Die gesamte internationale Tourismusbranche ebenfalls.
Genauso wie die Banken und Versicherungen.

Nur eine Berufsgruppe wird meistens außer Acht gelassen, obwohl sie weltweit oftmals noch professioneller arbeitet als andere Branchen- das Gesundheitswesen.

Topmanager aus Hotel und Gesundheit setzten sich zusammen und fanden sehr schnell folgendes heraus:

Wenn bei täglich 40.000 Touristen in Punta Cana nur ein oder zwei Promille aller Gäste pro Tag ein kleines Wehwehchen hat, so sind das potentiell 40 – 80 Versicherungsfälle, die man nicht ungenutzt am Wegesrand liegen lassen sollte.

Die Hotelmanager wussten genau, wie man aus gesunden älteren Damen kleine unbedeutende Gesundheitsprobleme hervorzaubert.

Auf jeder Kreuzfahrt wurde das weltweit hundertfach pro Tag praktiziert.

Niemand kann sich den dabei entstehenden horrenden Kosten einer sowohl gründlichen als auch unnützen Hospitalbehandlung im Schiffsinneren eines Luxusdampfers entziehen.

Warum also das Ganze nicht aufs Land verlagern, hier in Punta Cana perfekt strukturieren und zielgenau aufbauen?

Der Kreis

Und hier schließt sich der Kreis der vielen bisherigen Kapitel dieser kleinen Geschichte.

Man baute etwas außerhalb der Stadt einige ganz moderne Krankenhäuser. Mit den allerneuesten und kostspieligsten Apparaten, luxuriösen Zimmern, Suiten und Aufenthaltsräumen.

Und man beschaffte sich die besten spanischsprechenden Ärzte und Krankenschwestern – die Kubaner, die in Europa keine Arbeit mehr finden konnten.

Die Versorgung in diesen neuen Krankenhäusern, die speziell für die Touristen gebaut waren, ist erstklassig.

Die besten und top ausgebildeten Ärzte.
Die freundlichsten und effizientesten Krankenschwestern.
Ein allgemeines medizinisches Personal, das in jeder Beziehung einen Vergleich mit weltweiter Konkurrenz bestehen kann.

All das wurde in sehr kurzer Zeit hier in Punta Cana organisiert, aufgebaut und zum Laufen gebracht.

Etwas fehlt

Der Bösewicht in jedem Krimi macht irgendwann einen kleinen, aber entscheidenden Fehler.
In diesem Fall ist der Fehler erschreckend banal.

Die Krankenhäuser bekamen schlicht viel zu wenig Entgelt von den Kassen ihrer meist europäischen oder nordamerikanischen Kundschaft.

Von der Verabreichung einer vom Chefarzt persönlich aus der Packung herausgezogenen Aspirin-Tablette und der Verabreichung derselben auf einem Porzellanteller mit Goldrand nebst einer kleinen Flasche Perrier-Wasser zum Herunterschlucken – von dieser in den meisten Fällen maximal nötigen Behandlung konnte kein Luxus-Krankenhausbetrieb aufrechterhalten werden.

Es war also medizinisch gesehen der Unterschied zwischen Ursache und Wirkung nicht groß genug, um diesem Geschäftsmodell ein Überleben zu sichern.

Geschafft

Im Englischen gibt es einen schönen kurzen Spruch für das, was dann geschah:

If Opportunity doesn’t knock, build a door.

Wie dieses Problem sehr elegant gelöst wurde, davon erzählt diese Geschichte.

 

Teil 2


Ein Sanatorium in der Karibik

Wehwehchen

Jedes Wehwehchen irgendeines älteren Touristen wird aufmerksam registriert. Jedes Hotel hat eine eigene kleine Kranken-Abteilung, die 24 Stunden durchgängig besetzt ist.
Wenn ein Tourist nur einen sehr geringen Schwächeanfall in einem der diversen Spezialitäten-Restaurants und den angeschlossenen Bars hat, bedingt durch was auch immer – er wird grundsätzlich zur hoteleigenen Krankenstation gebracht. Dort wird mit einigen speziellen Geräten – die schon lange nicht mehr ans Stromnetz angeschlossen sind und entsprechend keine aktuellen Werte mehr zeigen- festgestellt, dass ein Klinik-Aufenthalt das einzig Richtige ist.

Hubschrauber

Der, aus welchem Grund auch immer leicht schwankende Tourist wird umgehend auf einen kleinen versteckten Hubschrauberlandeplatz geführt und ins vorher informierte Hospital geflogen.

Im Krankenhaus angekommen müssen diese Touristen, denen es meistens durch den kurzen Hubschrauberflug noch schwummeriger ist als im Hotel, ihre europäische Krankenkasse-Karte vorzeigen.

Jedes Rezeption in diesen speziellen Touristen-Hospitälern ist mit sehr gutem Personal ausgestattet. Es sind überwiegend Holländer, Finnen oder Ungarn, also alle Staatsbürger, die von ihrer Ausbildung her sehr viele Fremdsprachen sprechen.

Die ältere Dame – bleiben wir bei diesem Beispiel – bekommt ein Einzelzimmer, nachdem der gute Geist in der Lobby sich telefonisch in Europa informiert hat und festgestellt wurde, dass die überreichte Karte der Krankenkasse gültig und verwertbar ist.

Visite

Alle großen Krankenkassen in Europa haben inzwischen einen 24-Stunden-Service für diese Art von Anrufen, die zum täglichen Geschäft des internationalen Gesundheitswesens gehören.

Dann also ab ins Einzelzimmer, eine kleine Beruhigungstablette und am nächsten Tag erscheint wie in einem Film aus den fünfziger Jahren der Chefarzt mit einer sehr großen Begleitung.

Darunter Fachärzte, Dolmetscher und Studenten, bei denen solche Visiten zur Ausbildung gehören.

Die ältere Dame versteht von all den Diskussionen zwischen den Spezialisten und dem gemeinen Fußvolk kein Wort. Sie ist nur erfreut über so viel Aufmerksamkeit dafür, dass sie gestern Abend etwas den Magen verdorben hatte.

Nachdem diese Versammlung das schöne Privatzimmer im Krankenhaus wieder verlassen hat, kommt einen Augenblick später eine aufmerksame Mitarbeiterin einer Spezial-Abteilung mit einer Speisekarte zu unserer alten Dame.

In den meisten Fällen spricht diese Mitarbeiterin dazu auch noch die Sprache der alten Dame.

Die Speisekarte

Ihr wird die Karte überreicht und mitgeteilt, sie solle sich gern etwas aussuchen, was man zusätzlich noch machen könne – und was sie vielleicht gerne schon immer mal machen lassen wollte.

Über die Kosten brauche sich die Patientin keine Sorgen machen. Es wird alles für Sie kostenlos sein, garantiert.

Ein Blick auf diese Karte lässt das Herz der älteren Dame höher schlagen.

Es wird dort in beliebiger Reihenfolge angeboten:

Absaugen und Umbau am Oberschenkel, Po, Brust oder an sonstigen beliebigen Stellen des älteren Luxus-Körpers.

Vergrößerung und Verkleinerung der Busen und aller sonstigen Körperteile, die man immer schon gerne etwas verändert haben wollte.

Inklusive Nase, Ohren und weiteren Gebieten in der menschlichen Weichteil-Abteilung, die man vielleicht jetzt verbessern könnte.

Zusammengefasst – wahrscheinlich ist diese Speisekarte größer als die der bekannten deutschen Schönheits-Operationskliniken im Schwarzwald, Bayern oder den Vogesen – ich kann es nicht genau beurteilen, weil ich dort noch nie war.

Nachdem die überraschte alte Dame sicherheitshalber noch einmal nachgefragt hat, dass das alles nichts kosten würde und ihr dies bestätigt wurde, fängt sie verträumt an, sich all das auszusuchen, was sie immer schon gern haben wollte, aber worüber sie bisher nie zu sprechen gewagt hatte.

Wir übergehen jetzt einen gewissen Zeitraum und kommen zur Lösung des geheimnisvollen Geschehens.

Das Krankenhaus schickt eine Aufstellung beliebter medizinischer Operationen an die Krankenkasse der älteren Dame.
Zusammen mit einer genauen Spezifikation der unabwendbaren Operationen, die im Zusammenhang mit der ernsthaften Erkrankung für Patienten jetzt umgehend durchgeführt werden müssen.

Dieser Kostenvoranschlag wird in aller Regel umgehend von der europäischen Kasse bestätigt und genehmigt. Damit sind sowohl die alte Dame als auch die hiesige Krankenhaus-Verwaltung am Ziel ihrer jeweiligen Träume angelangt.

Korrupt

Die Kassen in Europa wissen alle, dass dies Ganze ein total korruptes Spiel ist, das mit Gesundheit nichts mehr zu tun hat.

Man hat es längst aufgegeben, sich hier vor Ort einen Überblick durch eine neutrale Institution zu verschaffen. Das kostet nur zusätzliches Honorar und jeder Gutachter wird so lange geschmiert, bis er die Diagnosen und Kostenvoranschläge der hiesigen Hospitäler testiert.

Weder die europäischen Krankenkassen noch die Hospitäler hier in Punta Cana reden darüber – denn je weniger das ganze System bekannt ist, desto weniger Kosten entstehen.

Die Damen, die dann nach einigen Tagen in manchmal deutlich verbesserter äußerer Form das gastliche First-Class Hospital verlassen, schließen diesen dominikanischen Ort der Freude dankbar in ihr abendliches Nachtgebet mit ein.

Vorbeigerauscht

Ein kleiner psychologischer Trick ist noch dabei – freiwillig redet keiner dieser Damen von den durchgeführten kleinen und größeren Operationen.

Es genügt diesen meist weiblichen Lebewesen, wenn sie nach ihrer Rückkehr bemerken, wie ihre Freundinnen oder Nachbarn oder Arbeitskollegen leicht verwundert oder offen neidisch hinterher blicken, sobald sie in freundlich unterdrückter Erregung an ihren Mitmenschen vorbeirauschen.

Epilog

Für die Dominikanische Republik und speziell für Punta Cana wurde dieser Reim populär:

Wo lebt ́s sich gut in Saus und Braus?
In Punta Canas Krankenhaus

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