Die Quarantäne

Einsam im Paradies

Aus Nichts irgendetwas – und dann noch etwas Gutes zu machen – das ist schwer.

Als langjähriger Bridgespieler bin ich jedoch mit dieser Situation vertraut.

Nichts hat man in der Hand außer irgendwelchen uninteressanten Karten.
Und damit soll man nun mit seinem Partner kommunizieren und möglichst auch noch die Gegner schlagen, die beide vor Kraft nicht laufen können.

Nichts hat man ebenfalls, wenn man drei Wochen lang im Paradies in Quarantäne lebt.
Nur dass dies niemand glauben will.

Um die mitleidsvoll-neidischen Kommentare all derjenigen zu beantworten, die mangels eigener Erfahrung noch nicht den richtigen Überblick haben, wie man mit so einer Situation umgeht, werde ich mich jetzt hinsetzen und einige nichtssagende Sätze zu diesem Thema schreiben.

Hofgang

In jedem normalen Gefängnis bekommen die Insassen einmal am Tag eine Stunde, in der sie auf dem Innenhof spazieren gehen dürfen.

Ich habe hier weder einen Innenhof noch einen Aufpasser.

Deswegen bleibe ich die ganze Woche in meinem abgesteckten Revier.
Es besteht aus Küche, Bett, Computer, Strand, Liegestuhl und Meer- und wieder zurück zur Küche.

Wegen des Zeitunterschiedes beginnt mein Tag morgens zwischen vier und fünf Uhr in der Früh.
Nur unterbrochen von den verschiedenen kleinen Tätigkeiten, die ich soeben aufgezählt habe.

Aber Sonnabend ist der große Tag.

Da habe ich Ausgang.

Einmal durchs Dorf fahren, die Autobahn bis zum Supermarkt runterdüsen, den Supermarkt leer kaufen und mit dem ganzen unnützen Kram wieder zurück ins Exil – jeder Sonnabend ist was Besonderes.

Probleme

Die Supermärkte haben von morgens um 8 Uhr bis nachmittags um 15 Uhr geöffnet.
Ab 17.00 Uhr nachmittags ist Ausgangssperre bis zum nächsten Morgen um 6:00 Uhr.
Da die meisten Dominikaner irgendwo weit verstreut in kleinen Hütten auf den Feldern leben, brauchen sie oftmals ein bis zwei Stunden, bis sie vom Supermarkt wieder in ihrer Hütte angelangt sind.
Deswegen ist überall in den Supermärkten um 15.00 Uhr nachmittags Schluss.

Das hat aber auch zur Folge, dass morgens um acht vor jedem Supermarkt eine Menschenschlange wartet, die von der Eingangstür bis Portugal reicht.

Ich sehe diese Schlangen jeden Sonnabendmorgen und wie bei jeder guten Schlange weiß man nicht, wo ihr Anfang und ihr Ende ist.
Wenn sich die Menschenkette zweimal um das Gebäude herum aufgestellt hat, ist völlig unklar, wo nun der jeweilige Anfang und das jeweilige Ende ist.

Tarzan

Wenn ich in all den Jahren hier irgendwann mal Probleme hatte, so half meistens die Tarzan-Methode.
Die meisten kennen die Standardphrasen, die in jedem Tarzan-Film zigmal wiederholt werden:

„Ich Tarzan – du Jane.“

Damit ist der Inhalt jedes Urwaldaffen-Theaters ausführlich beschrieben.

Auf dieser Basis kommt man hier weiter, wenn man einfach zum Ausdruck gibt, dass sein ausgeprägter spanischer Wortschatz aus den beiden Worten „Ich Probleme“ besteht.
Ins Spanische übersetzt also „Yo problema“.
Das ist der Schlüssel zur Bewältigung der allermeisten Situationen.

Schlange

Ich komme beim Supermarkt an.
Sehe den gesamten Supermarkt, umwickelt in verschiedenen das ganze Gebäude umfassenden Schlangen und gehe direkt zum Haupteingang.

Da stehen zwei sehr große und sehr kräftige Dominikaner mit einem sehr dicken Seil, dessen Ende sie beide in ihren Händen halten.

Hinter diesem Seil ist eine kleine Tür, wo immer nur einer durchgehen kann.
Das ist der neue Eingang zum Supermarkt.

Nach welchen Kriterien die beiden gelegentlich das Seil auf den Boden schleifen lassen, damit irgendein Landsmann darüber treten kann, um dann in die Halle der Glückseligkeit reinzukommen – die Auswahlkriterien habe ich bis heute nicht begriffen.

Aber auch hier hilft die Tarzanregel.

Ich stelle mich direkt vor einen der beiden Gralshüter und zeige mit der einen Hand respektive dem Zeigefinger dieser Hand auf meinen Kopf.

Und zwar ziemlich in der Mitte der Schläfe über der Nase.

Mit der anderen Hand respektive dessen Zeigefinger zeige ich ziemlich genau auf die vordere Mitte meiner unsichtbaren Unterhose.

Und dann folgt im besten Tarzan-Spanisch, mit direktem Blick in die schwarzen Augen des Pächters, die freundlich-hilflose Version meines Standardsatzes: „Yo problema“

Der Wächter des goldenen Seils ist verdutzt.

Einmal über die Frechheit, sich statt ans Ende der 5.600 Wartenden zu stellen, einfach direkt an ihn zu wenden.
Und zum anderen über die Offenheit, mit der ein älterer weißhaariger Mann ihm gegenüber seine gesamten Probleme offenbart.

Dass man oben Probleme hat, mag ja noch als Zugeständnis des Lebensalters gewertet werden.

Aber dass man so offen über seine Probleme an anderer Stelle kommuniziert – das hat er noch nie erlebt.
Und die Reaktion kommt so, wie ich sie erwartet hatte.

Er blickt mich an.

Ziemlich lässig, aber mit einem Hauch von Mitleidsgefühl durchtränkt.

Dann antwortet er im besten Tarzan-Spanisch:
„Du Probleme? – Du keine Probleme!

Und damit senkte er schnell und freundlich das dicke Seil, der alte weißhaarige Herr überschreitet dankbar diese Markierung zwischen Hölle und Himmel, blickt seinem neuen besten Freund noch einmal tief in die Augen und wandert zur Obst- und Gemüseabteilung.

Sonderrechte

Inzwischen habe ich gelernt, dass es eine Verfügung des Präsidenten gibt, dass Ältere, Behinderte, Schwangere und weißhaarige Strand-Asylanten morgens vor allen anderen zwischen 7.00 und 8:00 Uhr in den Supermarkt dürfen.

Ich habe mir heute Morgen ein dickes Kissen unter T-Shirt und Jeans geklemmt und bin mit einem leicht verschwörerisch gemurmelten „Im fünften Monat wird es ein Mädchen“ problemlos in den Supermarkt gekommen.

Abwechslung

Eines der Hauptsorgen meiner Familie in Deutschland ist, dass ich hier durch karibische Monotonie zu Schaden komme.
Das ist heute nach drei Wochen aber erst in Ansätzen erkennbar.

Ich versuche mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln einen geordneten und selbstbewusst durchgeführten Tagesablauf zu gestalten und aufrechtzuerhalten.

Speisekarte

Ich bin inzwischen ein Fan der dominikanischen Küche geworden.
Die zeichnet sich durch eine große Variation sowohl in den Speisen als auch im Geschmack aus.

Morgens gibt es frisch aus der Pfanne Tomaten, Zwiebeln und Ei.
Mittags dann Zwiebeln, Ei und Tomaten.
Abends die Spezialitäten-Variante Ei, Tomaten und Zwiebeln.

Morgens in der Geschmacksrichtung leicht und locker, mit wenig Salz und Pfeffer.
Mittags die internationale Variante Salz und Pfeffer mittelscharf.
Abends in der Spezialitätenvariante viel Salz und ganz viel Pfeffer.

Und damit ist noch nicht alles zu Ende beschrieben.

Morgens mit einem Schlückchen Filterkaffee.
Mittags mit dem, was die italienische Aluminiumkaffeekanne aus ihren Innereien von Wasser, Kaffee, Sieb, Hitze und was weiß ich, was diese Maschine noch alles in die Luft pustet und was dann irgendwo oben in der Kanne herauskommt.

Nachmittags zum kleinen Imbiss nach dem ausgiebigen Mittagsschläfchen dann die zusammen geschütteten Reste des morgendlichen und des mittäglichen Kaffeegenusses leicht bei einigen hundert Grad in der Mikrowelle erhitzt.

Und abends, wenn es schon kühl geworden ist, die Reste des nachmittäglichen Siesta-Kaffees als Eiscafé.
Dazu braucht man nur den Kaffeesatz des Nachmittags mit fünf oder sechs Eiswürfeln für eine halbe Stunde ins Tiefkühlfach zu tun und man kann den Rest des Abends Kaffee-Eis lutschen.

Geisterzimmer

In jedem guten amerikanischen Psycho-Film gibt es ein altes Haus, bei dem entweder im ersten Stock oder im Keller viele verlassene Zimmer zu sehen sind.

Meist abgedeckt mit weißen Planen über den Stühlen, den Sofas und manchmal auch den Betten.
Es soll sich hierbei oftmals um die Zimmer handeln, die die Kinder während der ersten 20 Jahre ihres Lebens im elterlichen Wohnhaus verbracht haben.

Dann sind sie ausgezogen und mangels weiterer Kinder, Enkel oder Pflegerinnen stehen diese Zimmer dann über Jahre komplett leer.

Es gibt auch die Variante, dass der Inhalt solcher Zimmer nicht abgedeckt ist.

Besonders die weiblichen Bewohner solcher Häuser haben gern den Inhalt der Zimmer noch ganz genau so, wie er war, als der Nachwuchs dort wie vor Jahren mit Indianerfiguren, Barbie-Puppen oder als zukünftiger Banker mit dem Kaufmannsladen gespielt hatte.

Auf jeden Fall sind das die berühmten Geisterzimmer.

Abstellraum

Wenn ich jetzt jeden Sonnabend mit frischem Mut und frischen Waren erschöpft aber glücklich meine Exil-Wohnung wieder erreicht habe, beginnen andere Probleme.

In den 50 Jahren, die meine liebe Chefin mich jetzt als Ehemann ertragen durfte, habe ich treu und brav alles gekauft und nach Hause geschleppt.

Je nach verfügbarem Platz waren die Kisten und Tüten immer in der Küche oder auf dem Flur zur weiteren Bearbeitung deponiert.

Im Klartext: Es war die Aufgabe meiner lieben Chefin, den ganzen Krimskrams irgendwo einigermaßen vernünftig zu verstauen.

Ich weiß sehr wohl, dass die Begriffe vernünftig und Frau an sich ein Widerspruch in sich selber sind, aber das ist hier nicht das Thema.

Besonders in den 25 Jahren hier in der Dom Rep hat sich dieses Ritual verinnerlicht und verfestigt.

Ich hatte irgendwann vor Jahren mal einen Einkaufswagen von einem Supermarkt geklaut und mit einem Transporter zu uns in die Wohnung gebracht. Das hat den Vorteil, dass ich jetzt nach der Ankunft vom Parkplatz nur noch den Einkaufswagen holen brauche, alles da reinschmeiße und den Wagen dann direkt vor die Küche rolle.

Dann rolle ich selber einige Meter weiter zum Strand und ins Meer.

Jetzt, in dieser außergewöhnlichen Situation, fehlt also ein entscheidender Teil im Ablauf dieser ganzen Einkaufsorganisation.

Ich bin zwar durchaus in der Lage, Lebensmittel vernünftig in der Küche zu verstauen.
Man beachte in der Definition dieses Vorgangs das Wort vernünftig.

Aber was mache ich mit dem Rest?

Einen Abstellraum für irgendwelche Sachen habe ich in unserer Wohnung noch nie bewusst gesehen. Ich weiß also nicht, ob er vorhanden ist.

Und da kommt jetzt das Geisterhaus ins Spiel.

Vorrats-Bett

Die meisten wissen, dass ich seit über 20 Jahren in Punta auf der Terrasse schlafe.
Das Rauschen der Wellen nur wenige Meter hinter dem Strand ist das schönste natürliche Schlafmittel.

Meine liebe Frau gehört zur großen Gruppe der Iglu-Fans.
Für sie muss das Schlafzimmer immer auf Frost- oder Gefriertruhentemperatur runtergekühlt sein.

Jeder Vorratsraum sollte auch gekühlt sein.

Und so habe ich ihr großes und gut ausgestattetes Schlafzimmer zum komfortablen Vorratsraum umfunktioniert.

Am Fußende des Bettes liegt jetzt gut sortiert die Wäsche, die unsere liebe Santer als langjährige Reinmache-Frau gewaschen und gebügelt hat.

Daneben liegen frisch gewaschene und gebügelte Kleidungstücke.
Einige Badehosen, Strümpfe, ein Halstuch, das man hier nie benutzen würde, T-Shirts, kurze Hosen und die gewaschene Bettwäsche der letzten Woche.

In der Mitte des Bettes ist dann die Abteilung Sauberkeit und Hygiene.

Vertreten durch Plastiktüten-Behälter für den Inhalt von Müllbeuteln in verschiedenen Dimensionen, da ich keine Ahnung habe, wie groß die Mülleimer in unserer Küche sind.

Daneben Küchenpapierrollen, Klopapier und sonstige Reinigungsartikel für Fußboden, Küche und Waschmaschine.

Auf dem Kopfende die Obst- und Gemüseabteilung.
Sorgfältig dekoriert durch mehrere Avocados, die dort in Ruhe ausreifen sollen.
Ab heute ebenfalls Mangos, denn wenn Mangos auf einem harten Untergrund ausreifen, bekommen sie Druckstellen.
Mangos in einem kuscheligen Kopfkissen dürften aber wahrscheinlich rundum gut ausreifen.
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Bananen haben im Schlafzimmer nichts zu suchen, die sind sowieso schon angegammelt in dem Moment, wo man sie kauft, und landen alle sehr schnell im Mixer.

Ich hab inzwischen auch gelernt, dass man beim Mixen der Bananen in dieser Maschine vorher die Schale abmachen muss.

Ich bin mit der Funktion des Schlafzimmers als Vorratsraum im Geisterhaus voll zufrieden.

Drohung

Vorgestern hat der Präsident hier den Ausnahmezustand um weitere drei Wochen verlängert.
Dies schließt gleichzeitig ein Landeverbot für alle Flugzeuge aus Europa ein.

Mir macht das inzwischen nichts mehr aus.

Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass dadurch irgendwann noch einmal ein weiterer Bericht über die Spätfolgen des Nichts drohen könnte.

Punta Cana, April 2020

PS – hier noch ein Link, wie man das Nichts in bewegten Bildern darstellen kann
in 2 verschiedenen Datei-Formaten:

Viel Spaß trotzdem.

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