Die Zeitung und das Murmeltier

Nach zehn sehr schönen Tagen in Abano, einer kleinen Stadt in der Nähe von Venedig, die für ihre heißen Termen seit über tausend Jahre bekannt und berühmt ist, war heute der Tag der Rückreise gekommen. 

Ich hatte zusammen mit meiner Schwester an diesen zehn Tagen dort in einem sehr schönen Hotel viel Bridge gespielt und das eine oder andere aus den alten Tagen der Familie wieder aufgefrischt.
Der Tag in Abano war ziemlich eng durchgetaktet.

Er bestand aus Planschen im 35° warmen Außenpool morgens vor dem Frühstück.
Nach dem Frühstück entweder noch mal kurz weiter planschen oder den Rest der Nacht ausnutzen und einfach noch mal wieder weiterschlafen.
Vormittag dann Bridge-Unterricht, bei dem auch ich immer noch etwas lernen konnte, wenn ich denn wollte.

Ein Fünfgang-Mittagessen wurde beendet durch den inzwischen dringend nötig gewordenen Mittags-Schlaf. Danach wieder planschen und schwimmen und dann schon das Bridge Nachmittagsturnier.

Nach einem opulenten Fünfgang-Abendessen in unserem mit Recht berühmten Hotel-Restaurant dann das große Abend-Bridge-Turnier.

Dieses sich täglich wiederholende Tages – Rhythmus ließ nicht viel freie Zeit, aber trotzdem hatte ich das Bedürfnis zwischendurch etwas zu lesen.

Der kleine Kiosk, den ich von früheren Besuchen in Abano kannte und der direkt neben dem Hotel schon frühmorgens deutsche Zeitungen und Zeitschriften verkaufte, war abgerissen und wohl Bauland für ein Tiny-Haus geworden.

Also bestellte ich im Hotel die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die auch jeden Tag pünktlich um 8.00 Uhr kam.

Die meisten Ausgaben habe ich im Original ungelesen zwei Tage später in den Papierkorb geschmissen, weil es einfach keine Zeit gab, die Zeitung durchzulesen. Aber für die Leser dieser Zeitung kommt es nicht auf den Inhalt an, sondern auf die Tatsache, dass man als Leser dieser interlektuellen Zeitungen für gepflegtes Halbwissen auftreten kann – oder so tut als, ob man es kann.

Heute Morgen also war das Taxi zum 90 Kilometer entfernten Flughafen für 8 Uhr bestellt und auch pünktlich vorgefahren.

Im letzten Moment vor der Abreise kam der Portier aus der Rezeption angelaufen.

Er hatte die soeben gelieferte heutige Sonnabend-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen in der Hand und überreichte sie mir mit der üblichen italienischen Grandezza.

Nach einer Stunde kamen wir am Flughafen an und alles war wie immer.

Am Sonnabend sehr viele Touristen, sehr viele und sehr teure kleine und große Geschäfte und ein reges Treiben beim Einchecken und bei der davor geschalteten Sicherheitskontrolle.

Aber wir hatten genügend Zeit und so konnte ich dann einige Zeit später auch an der großen Anzeigentafel lesen, dass unser Flug von Venedig nach Wien um 11:55 Uhr von Gate 12 aus abfliegen würde.

Ich begab mich gut 1 Stunde vorher schon an Gate 12, denn viele andere Sachen hatte ich nichts zu tun.
Irgendwann tauchte Anja, meine Schwester und Bridge – Partnerin dieser Reise dort an Gate 12 auf.
Sie hatte für ihre Enkelin einige kleine Mitbringselgeschenke gekauft. 

Sie sagte nur, dass wir uns ja im Flugzeug wieder sehen würden, denn wir hatten beim Einchecken gemeinsam die Bordkarten bekommen und sollten nebeneinander sitzen.

Sie ging dann auf Suche nach weiteren kleinen Geschenken für ihre Enkel.

Vielleicht hatte sie in dem ganzen Trubel dieses Vormittags vergessen, dass ihre anderen beiden hoffnungsvollen Enkel seit einigen Jahren in Sydney, Australien lebten.

Da es noch ungefähr eine halbe Stunde dauern würde, bis man ins Flugzeug kommen konnte, fing ich an die Zeitung durchzublättern, die der Portier mir morgens noch ins Taxi gebracht hatte.

Wenn man sonst nicht viel zu tun hat, ist die Durchsicht der Frankfurter Allgemeinen am Sonnabend eine sehr abwechslungsreiche Angelegenheit.

Es gibt kaum noch Medien, wo man so viel, so lange Schachtelsätze auf einer Seite lesen kann.
Ich hatte mir an diesem Gate 12 einen Platz auf einer Bank ausgesucht, von der man auch durch eine große Glasscheibe direkt auf das Flugfeld hinaussehen konnte.

Einige Flugzeuge kamen, andere flogen weg – ein geschäftiges Treiben, so wie wohl an jedem Tag hier im Flughafen von Venedig.

Nach einer gewissen Zeit guckte ich normal auf die Anzeigetafel und sah, dass der Flug nach Wien um zehn oder 20 Minuten verspätet sein würde.

Als ich zurück von der Anzeigentafel wieder auf den Kinositz mit unverbaubarem Blick auf das Flugfeld saß, fing ich in aller Ruhe an, die umfangreiche zweite Hälfte der Frankfurter Allgemeinen inklusive des gesamten Sonnabend-Feuilleton durchzublättern.

Nach einer weiteren wohl halben Stunde war mir das ganze doch inzwischen etwas komisch geworden.

Die in vielen Reihen neben und hinter mir sitzenden Passagiere machten alle keinerlei Anzeichen aufzustehen und zur Check – in Kontrolle ins Flugzeug zu gehen.

Inzwischen war es auch schon eine halbe Stunde später als die offizielle Abflugzeit.

Ich ging nach einer weiteren kleinen privaten Bedenkzeit dann zu der freundlichen Italienerin, die diesen Flug wohl abfertigen sollte, indem sie die Bordkarten einscannte, um zu kontrollieren, wer alles ins Flugzeug ging.

Das war alles ganz klar und eindeutig.

Aber genauso eindeutig war die Tatsache, dass hinter dieser Italienerin, die am Schalter dieses Abflug Terminal 12 saß, ein großes schwarz-weißes Display an der Wand hing, auf dem  nur ein einziges Wort stand, welches auf Italienisch oder Deutsch oder jeder anderen Sprache wohl ungefähr das gleiche bedeuten würde.

Angezeigt war der Name der polnischen Hauptstadt, also „Warschau“.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass alle hundertfünfzig Passagiere, die von Venedig mit unserer Maschine nach Wien fliegen wollten, sich entschlossen hatten, jetzt kurzfristig nach Warschau zu fliegen. 

Aber offensichtlich war es so.

Ich fragte dann diese junge hübsche und etwas unbedarfte Boden-Stewardess was mit dem Flug nach Wien sei – aber entweder wollte sie in ihrem Gedaddel auf ihrem Handy nicht gestört werden, oder sie verstand mich wirklich nicht oder hatte sonstige Gründe, mich zu ignorieren.

Jetzt hatte ich also die Auswahl, entweder nichts zu machen, oder nach Warschau zu fliegen oder irgendwas anderes anzufangen, was auch immer das sein könnte.

Ich ging noch zu den beiden Nachbarschaltern, wo Flüge nach Barcelona und Helsinki angezeigt wurden – aber da ich heute dort ebenfalls nicht hinreisen wollte, und man mir auch keinerlei Information über irgendein Flug nach Wien geben, konnte war das Ergebnis, dass ich aufgefordert wurde, doch am besten zur Information zu gehen.

Mir war inzwischen ziemlich klar, dass ich den Flug verpasst hatte.

Ich erinnerte mich jetzt auch ziemlich klar und deutlich, dass in der ersten Hälfte meiner Zeitungslektüre irgendwelche Lautsprecher sehr lange und dringende Durchsagen machten, die ich aber aufgrund der Tatsache dass die Lautsprecher hier im alten Flughafen extrem schlecht zu hören sind und auch der Tatsache geschuldet dass ich selber sehr schlecht höre – aus diesen Gründen habe ich diesen Mitteilungen weder zuhören noch sie in einer Form verarbeiten können.

Um jetzt wieder irgendwie aus dem Abflugbereich rauszukommen musste ich durch die Passkontrolle rückwärts gehen, d.h. also nicht von Italien durch die Passkontrolle in den Transitraum, sondern aus dem Transitraum durch die Passkontrolle zurück in das schöne Flughafengebäude von Venedig.

Hierzu musste ich vielen Leuten einiges erklären.

Aber die drei Beamten der Passkontrolle waren offensichtlich froh, eine kleine Unterbrechung in ihrem extrem monotonen Durchblättern von irgendwelchen Pässen und Dokumenten zu haben und sagten, sie würden mir gestatten, rückwärts rauszugehen und ich soll dann direkt zur Information gehen.

Als ich jetzt diesen rückwärtigen Weg weiter verfolgte, kam ich als nächstes zum Schalter von Austrian Airlines – wo wir vor ungefähr 3 Stunden eingecheckt hatten und die Bordkarten erhalten hatten.

Als ich meinen Namen nannte und sagte, ich hätte wohl den Flug verpasst oder vielleicht auch sonst irgendetwas auf dieser Welt, da war die nette Dame sehr aufgeregt.

Sie erklärte mir in einem fließenden Mischmasch aus Deutsch, Italienisch und Spanisch, dass man sich extreme Sorgen um mich gemacht hatte.

Ich war bei allen Kontrollen durch meine Bordkarte identifiziert als jemand, der schon kurz vor dem Einstieg ins Flugzeug war.

Der ein Koffer aufgegeben hat.

Der zusammen mit einer Frau, deren Name zwar anders war als mein eigener, aber mit der ich irgendetwas zu tun haben musste.

Denn die Buchungen für diese Dame und für den verlorenen und soeben wieder aufgetauchten älteren weißhaarigen Herren waren zusammen erstellt worden.

All das konnte man rekonstruieren.

Das Einzige, was fehlte, war ich als Person. 

Also rief man mich mehrmals dringend und laut auf und die Durchsage war angeblich in verschiedenen Sprachen.

Das Gedränge der Lautsprecher vor 1 oder 2 Stunden galt also mir – nur dass ich aufgrund meiner Schwerhörigkeit und aufgrund der Tatsache der miserablen Lautsprecherqualität mich gerade intensiv mit dem Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschäftigte.

Mir wurde gesagt, dass mein Koffer wieder aus dem Flugzeug rausgenommen worden war und irgendwo unten bei der Abteilung „Lost and Found“ und sein könnte.

Ich solle also jetzt in ein anderes Gebäude gehen, Lost and Found suchen und man würde dafür sorgen, dass der Koffer mir irgendwie ausgehändigt werden würde.

Dann solle ich wieder hier zu den netten Damen im Austrian Airlines zurückkommen.
Ich hatte das ganze Gespräch sicherheitshalber beim Check-In Counter der der Business und First Class der Austrian Airlines gemacht, deren Mitarbeiterinnen sind die erfahrensten und geduldigsten und für solche Fälle wohl auch geeignetsten Ansprechpartner.

Um aber jetzt zu Lost and Found zu kommen musste ich erst wieder in ein anderes Gebäude und dann wahrscheinlich auch noch durch verschiedene Kontrollen kommen.

Denn Lost and Found ist ja immer im Ankunftsbereich eines Flughafens, bevor man durch Zoll- und Passkontrolle kommt.

Also musste ich jetzt wieder den ganzen Prozeß irgendwie noch einmal rückwärts abwickeln.
Aber ich hatte ja inzwischen alle Zeit der Welt.

Mein Flugzeug war weg, meine Schwester war weg, mein Koffer war weg und ich hatte somit sehr viel Zeit, mich mit meinen Problemen zu beschäftigen.

Schließlich stand ich nach diversen Rollstreppen und Befragungen von hilfreichen Polizisten und Toilettenfrauen vor dem Lost and Found Schalter – fröhlich in der Erwartung, dass ich in Kürze den Oscar für den besten Venedig-Flughafen-Kenner-Touristen erhalten würde.

Vor dem Lost and Found Schalter stand eine kleine Schlange von Touristen aus aller Welt, in einer gepflegten Mischung aus Aufregung, Wut, Resignation und Verzweiflung – Venedig ist offensichtlich ein Hotspot für verloren gegangene und nie wieder aufgefundene Gepäckstücke.

Aber irgendwann kam ich dann doch an den Schalter, erzählte meine Geschichte von dem verschwundenen Flug am Gate 12 und die Dame hinter dem Schalter fing an zu telefonieren.
Irgendein netter und wohl hochrangiger Herr erschien hinter der Dame und gab mir durch Handzeichen zu verstehen das ich nach links außen gehen solle, wo er auf mich warten würde.
30 Meter weiter links war ein großes Tor – leider verschlossen.

Ein großes Schild auf diesem Tor zeigte an, dass hier das Sperrgepäck ausgeliefert werden würde.
Ich hatte erst den Verdacht, dass der freundliche Manager der mit mir per Zeichensprache kommunizierte, mich aufgrund meines durch des sehr guten Essens der letzten 10 Tage etwas erweiterten Bauchumfangs als männliches Sperrgepäck eingestuft hatte –  und ich sollte dann seiner Meinung nach dort erscheinen. 

Aber sicher war ich darüber nicht.

Die Tür vom Sperrgepäck blieb geschlossen. 

Ich ging wieder zurück zu Lost and Found und wartete bis ich irgendwann wieder dran war – nur um zu erklären, das ich beim Sperrgepäck niemand getroffen hätte.

Jetzt bekam ich auf fließendem Deutsch die Anweisung, ganz nach links zu gehen, wo der Staff-Eingang sei. 

Staff ist in diesem Fall die internationale Bezeichnung für die Flugzeugbesatzungen, also Piloten, Stewards und Stewardessen.

Ich hatte in den ersten Minuten, die ich im Wartesaal Gate 12 verbrachte, verträumt durch die Scheiben auf das Flugfeld beobachtet, wie ein großes Flugzeug der American Airlines gerade landete.

Das deckte sich auch mit meinen Beobachtungen, die ich beim Einchecken erlebte.

Ein größerer Teil eines Terminals war ausschließlich reserviert für amerikanische Beamte, die alle Passagiere eines Fluges nach New York durchcheckten und kontrollierten.

Also würde diese Maschine, jetzt gerade gelandet war, irgendwann demnächst wieder zurück in die USA fliegen.   

Als ich dann nach einiger Zeit ganz am Ende des Ganges in diesem Terminal eine kleine Tür fand, wo STAFF auf einem Glasschild stand, ging ich ziemlich vorsichtig in den dahinterliegenden Raum rein.

Dieser Raum war im Prinzip nichts anderes als die normalen Handgepäck-Kontrollräume für alle sonstigen Passagiere.

Nur dass er offensichtlich ausschließlich für Piloten und das gesamte Kabinenpersonal benutzt wurde.

Die üblichen Plastikschalen, wo Handgepäck und sonstiger Kleinkram reingelegt werden musste, der übliche Durchgang durch einen Türrahmen wo nach Metallteilen gesucht wurde und die üblichen Tische wo hinterher alles wieder zusammen gepackt wurde.

Das im ersten Moment etwas ungewöhnliche war die Tatsache, dass von der Eingangstür, wo ich stand, bis zur zum Kontrollband mit den Plastikschalen eine durchgehende und gelangweilt in der „Nanda“ stehende Gruppe von gleichmäßig gekleideten Menschen war.

Ganz vorne drei große leicht übergewichtige Herren mit vielen goldenen Streifen auf ihren Schulterklappen, was sie als Piloten oder Copiloten ausschließen.

Dahinter die üblichen zwei oder drei Schulen die Boards, die verträumt in die Gegend lächelten. Und daran anschließend eine unübersehbare Anzahl von völlig gleich gekleideten jüngeren und nicht mehr ganz so jungen Damen, alle mit hochgesteckten Haar und alle mit gleichem Kostüm und Halstuch.

Alle hatten auch das übliche Handgepäck dabei also Taschen und kleine Handkoffer.
Und alle hatten ein kleines goldenes Schild mit dem Namen American Airlines an ihrer Kleidung.
Ich hatte irgendwie vorher die Vorstellung das die Piloten und ihre Mannschaften schnell und unbürokratisch ihre Flugzeuge besteigen konnten, aber ich hatte wohl nicht mit der Erfahrung des italienischen Zolls gerechnet.

Ein größerer Teil der Gegenstände, die man an sich nicht so richtig offiziell von einem Land zum anderen bringen konnte oder wollte – für diese Gebrauchsgegenstände oder kleine weiße Pulver-Päckchen hatte man sich schon lange die Crews der weltweit operierenden Airlines ausgesucht.
Mir fiel dann auch ein, das nach einer Statistik die Flugzeug-Besatzungen nach den Bananendampfer das weltweit zweitgrößte Drogenkurier-System weltweit sein sollte.

Und entsprechend scharf und langsam war die Kontrolle des Gepäcks dieser gesamten Besatzung, die aus ungefähr fünfundzwanzig müde vor sich hin stammenden Piloten nebst kompletter Besatzung bestand.

Nachdem ich beobachtete, wie der erste Pilot seinen Koffer öffnen musste und wie viel Zeit mit der weiteren Kontrolle dieses goldgeschmückten älteren Herrn verging konnte ich ungefähr überschlagen, wann ich dran sein würde wenn ich mich brav hinten an die Schlange angeschlossen hätte.

Außerdem sah ich ganz am Ende des Raumes meinen neuen Freund, den etwas hochrangigen den Mitarbeiter von Lost and Found, der dort auf mich wartete.

Wiederum durch Gebärdensprache verständigte ich mich mit ihm, um herauszufinden, ob ich tatsächlich durch diese neue Gepäck-Kontrolle gehen müsse, um ihn zu treffen.

Er nickte und hob bedauernd die Schultern, also war von seiner Seite aus nichts anderes zu machen.

Dann entschloss ich mich, eine dominikanische Variante auszuprobieren, die ich dort recht erfolgreich bei einigen Bankbesuchen angewendet hatte.

Um in einer dominikanischen Bank von ganz hinten nach ganz vorne zu kommen muss man an den speziellen Schalter für Menschen mit Handikap kommen, also entweder Personen die im Rollstuhl saßen oder Frauen denen man eine Schwangerschaft schon ansehen konnte.

Ich tat also das, was ich in der Karibik schon einige Male durchexerziert hatte.

Ich zog meine Jacke aus, rollte sie ein und stopfte sie einigermaßen gut verteilt unter meinem Pullover.

Dieser war sehr groß und die Jacke passte eingerollt quer über den Bauch.
Vielleicht etwas zu gewaltig, aber es gab ja auch mit Sicherheit Schwangerschaften im elften oder zwölften Monat.

Dann ging ich ganz nach vorne zwischen den Chef Piloten und seinen beiden Offizieren und murmelte in einer Mischung aus irgendwelchen Sprachen, die mir gerade einfielen, so etwas wie „Entschuldigung, dies ist ein Notfall, die Wehen haben gerade eingesetzt. Die Ambulanz wartet schon auf mich und es wird auch bestimmt ein süßes kleines Mädchen“.

Ich ging davon aus, dass die meisten Amerikaner im Grunde genommen ein gutmütiges und einfältiges Verhältnis zu ihren Mitmenschen haben und außerdem ihre Reaktionsfähigkeit an einem frühen Sonnabendnachmittag nicht ganz so ausgeprägt sein würden.

Der zweite Pilot hinter dem Chefpilot ließ mich dann auch sofort durch.

Ich schmiss meinen kleinen Beutel, in dem ich meinen Computer und einige sonstige wichtige Teile meines Gepäcks vorsichtshalber separat gepackt hatte, in die entsprechenden Plastikschalen, zog die Schuhe aus und ging durch die offene Tür der Röntgenkontrolle.

All das geschah in sehr wenigen Momenten. 

Danach alle schnell wieder in den Beutel geschmissen, die Jacke unter dem Pullover rausgeholt und angezogen und ich stand endlich vor meinem neuen Freund, dem höheren Mitarbeiter von Lost and Found.

Dieser hatte alles mitbekommen, aber er verzog keine Miene.

Wir gingen mit seinem Spezialausweis durch einige hintere Räume und kamen endlich zu einer kleinen Besenkammer, wo drei Koffer verträumt in einer Ecke lagen.

Darunter auch mein Koffer, den ich heute Morgen um sechs im Hotel brav gepackt und verschlossen hatte.

Ich verabschiedete mich von meinem anonymen Begleiter und zog mit meinem neuen Freund und Begleiter, also dem Koffer den ich heute Morgen um sechs gepackt hatte, hinaus in die Weiten des Flughafenterminals.

Irgendwann stand ich dann wieder vor dem Business Check in Schalter der Austrian Airlines, zusammen mit meinem gesamten Gepäck, meinem Pass mit zwei Bordkarten Venedig – Wien und Wien – Hamburg, deren Verfallsdatum inzwischen überschritten und damit abgelaufen war.

Jetzt fängt die Chefin der Austrian Airlines Abfertigung wieder an zu telefonieren und sagte mir schließlich das sich zu einer Firma RVG gehen solle. Dort würde mein Fall jetzt bekannt sein und ich würde neue Bordkarten bekommen. Mehr konnte oder wollte sie mir nicht verraten und verabschiedete sich freundlich.

Ich war im ersten Moment überrascht, dass mir die RVG unbekannt war, respektive ich bei meinen diversen Flughafen-Erkundigungen über diese Firma und deren Schalter nichts gesehen hatte.
Als ich dann nach einigem Suchen diesen Schalter gefunden hatte, war mir auch klar warum.
Er war völlig unsichtbar und verdeckt durch eine große Menschenmenge, die aufregend diskutierte und gestikulierte.

Sie hatten alle gemeinsam das Fenster dieses kleinen Schalters verdeckt, aber sie hatten auch noch etwas anderes gemeinsam.

Alle Menschen, die vor diesem Schalter von RVG standen, waren wütend.

Und zwar richtig wütend.

Was ich mit meinem verlorenen Flug von Gate 12 mit diesen Menschen gemeinsam haben sollte,  war mir nicht klar.

Aber nur im ersten Moment.

Dann merkte ich, das an diesem Schalter alle Menschen, die irgendein Kilo Übergepäck im Handgepäck oder im aufgegebenen Gepäck hatten, ihre Übergewichts-Kilo-Rechnung bezahlen mussten, sonst würden sie von den Fluggesellschaften nicht an Bord gelassen.

Und das sind offensichtlich bei einem Touristen-Flughafen wie Venedig an jedem Tag und zu jeder Stunde eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die versuchen mit wenig Geld in dieser Lagunenstadt zu überleben.

Und jetzt sollten Sie je nach dem, was ich so hörte, für fünf oder zehn oder fünfzehn Kilo Über- Gepäck jeweils eine beträchtliche Summe nachzahlen.

Die Diskussion über den Grund ihres Übergepäcks musste die ältere Dame, die alleine auf der anderen Seite innen im Schalter saß sich offensichtlich die gesamten 8 Stunden ihrer Arbeitszeit permanent anhören.

Entsprechend stoisch war ihr Gesichtsausdruck, sie kannte die Argumente der Menschen die ihr gegenüberstanden, besser als jeder andere auf diesem Flughafen.

Sie wusste auch das zum Schluss jeder zahlen würde, denn Übergepäck-Zahlungen sind alternativlos, wenn man weiterreisen wollte.

Als ich bei dieser RVG zuerst ankam, waren nur sechs oder sieben Übergepäck-Aspiranten vor dem Schalter. Und außerdem eine Frau, die alleine stand, nichts sagte und von der ich überhaupt nicht wusste, ob sie überhaupt zum Schalter wollte oder nicht.

Diese Frau stand direkt vor mir.

Nachdem die fünf Polen und zwei Norweger ihre Gepäcksschulden unter dem üblichen Protest bezahlt hatten, kam die Frau vor mir an die Reihe.

Sie erklärte in einem Mischmasch aus Englisch und Italienisch, dass sie irgendwelche Probleme mit ihrer Großmutter hätte.

Die Großmutter lebte wohl in San Francisco und wollte irgendwie nach Venedig reisen.
Sie muss alt gewesen sein, denn es war in dem Gespräch auch häufig die Bemerkung von einem Rollstuhl zu hören.

Allmählich bekam ich die Story dann mit – was sich nicht verhindern ließ, da ich direkt hinter dieser Dame stand und diesen Platz auch nicht gegen irgendwelche neuen Über- Gepäckszahlern verlieren wollte.

Ihr Gespräch konzentrierte sich dann auf vier Fragen.

Entweder war die Großmutter aus San Francisco abgeflogen und hier angekommen aber ohne ihren Rollstuhl.

Oder ihr Rollstuhl war abgeflogen und hier angekommen aber ohne ihre Großmutter.

Oder beide wann abgeflogen und hier angekommen aber niemand wusste wo sie waren.

Oder beide waren nicht abgeflogen und keiner wusste warum sie nicht abgeflogen waren.

Jetzt bemerkte ich, wie die Frau hinter dem Schalter die Sache organisierte.

Vorher stand ein großes weißes Tischtelefon mit einem dicken Hörer und diversen Schaltknöpfen.

Damit war sie offensichtlich direkt mit den verschiedenen Airlines verbunden um die Über-Gepäck Einzelheiten abzuwickeln.

Als die Frau vor mir aber ungefähr 50 % ihrer Geschichte erzählt hatte, griff die Dame hinter dem Schalter auf das ebenfalls vor ihr liegende Handy und fing an dort intensiv mit jemandem zu sprechen.

Soweit ich es verstehen konnte, handelte es sich um das Koch-Rezept, was am Sonnabendabend in ihrer Familie die Besucher erfreuen sollte.

Nach 10 Minuten, die mit diesem Thema gut ausgefüllt waren, lächelte sie die Frau mit dem Großmutter-Rollstuhlproblem freundlich an und sagte, sie könne ihr nicht helfen.

Daraufhin fing die Frau an, ihre gesamte Sonnabend-Vormittagsgeschichte noch einmal zu erzählen.

Jetzt war für mich der Moment gekommen hier einzugreifen, denn auch für mich war absehbar, dass sich durch eine komplette Wiederholung der Story dieser Dame nichts ändern würde.

Also klopfte ich der Frau freundlich auf die Schulter.

Sie drehte sich um und ich sagte ihr, dass ich ihr helfen könne.

Sie war zuerst überrascht, dann glücklich und schließlich wissbegierig.

Ich erwähnte mehr oder weniger beiläufig, dass ich solche Probleme hier in Venedig schon früher gelegentlich gehabt hätte.

Sie müsse jetzt nicht hier weiter diskutieren sondern zu Lost and Found gehen. 

Das würde den Tatsachen, von denen sie erzählte, ja auch eher entsprechen.

Bei Lost and Found würde man ihr dann höchstwahrscheinlich ihre Großmutter und eventuell auch ihren Rollstuhl oder vielleicht nur ihren Rollstuhl oder vielleicht auch beides ausliefern können.

Sie sah mich mit ziemlich erstaunten Kinderaugen an und fragte nur, wo denn dieser verheißungsvolle Ort oder deren Schalter sei.

Ich erwiderte, dass es ziemlich einfach sei. 

Sie müsse die nächsten zwei oder drei Rollstuhl-Treppen runter fahren, sich dann immer links halten und wenn’s nicht weiter geht einmal nach rechts abbiegen.

Dann würde sie in einen Raum kommen, wo es nur wenige Schalter geben würde.

Und dort würde sie dann auch LostandFound finden, genau zwischen dem Eingang zur Behinderten-Toilette und dem ukrainischen Reisebüro.

Mein guter Ratschlag hatte Erfolg.

Die Frau verschwand sofort und ich war an der Reihe.

Die Dame hinter dem Schalter hatte meine Unterhaltung mit dieser Frau verfolgt und nickte anerkennend, weil ich es so schnell geschafft hatte jetzt selber an die Reihe zu kommen.

Ich erklärte ihr kurz, das ich brav im Abflug Bereich Gate Nummer 12 gesessen hatte, um nach Wien zu fliegen. Dass ich dann irgendwie nach Warschau umgeleitet werden sollte und dass ich doch lieber heute noch nach Hamburg kommen wollte.

Diese Dame hinter dem Schalter muss eine sehr große Menschenkenntnis gehabt haben, denn sie bediente mich freundlich und schnell.

Sie fing an zu telefonieren, und ich merkte erleichtert, dass sie diesmal ihr großes weißes Telefon benutzte.

Dann sagte sie mir, dass in meinem Fall eine Umbuchungsgebühr von zweihundertzwölf Euro zu zahlen sei und fragte, ob das o.k. ist.

Dann würde ich noch heute mit der nächsten Maschine von Venedig nach Wien fliegen und abends mit der Maschine von Wien nach Hamburg.

Ich beschloss diesen schönen Tag genau so ausklingen zu lassen, zahlte und bekam als Quittung ein großes Stück Papier mit sehr vielen kryptischen Nummern und Wörtern.

Damit solle ich jetzt wieder zu Austrian Airlines gehen und die würden das weitere veranlassen.
Ich bedanke mich herzlich bei dieser Dame und wünschte einen schönen Abend im Kreis ihrer Familie.

Und allen heute Abend einen guten Appetit.

Sie lächelte und es war irgendwie schade, dass man so sympathischen Menschen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht öfter in den Flughäfen dieser Welt begegnen würde.

Bei Austrian Airlines begrüßte ich die Damen in der Business Check-In Abteilung familiär und freundlich.

Hier wurde die Unterhaltung auf Deutsch geführt und man freute sich ganz besonders, dass ich den Weg zurückgefunden hätte.

Dann übergab ich mein soeben erhaltenes Schriftstück mit den vielen Wörtern und Nummern. Einiges davon wurde in den Computer getippt und ich erhielt zwei neue Boardkarten.

Ich verabschiedete mich hier gleichzeitig auch wieder von meinem Koffer, in der freudigen Erwartung, in irgendwann heute Abend wieder in die Hand nehmen zu können.

Dann ging ich jetzt zum vierten oder fünften Mal zur Gepäckskontrolle, zur Passkontrolle und war wieder in dem mir so vertrauten Transitraum.

Ein Blick auf die Bordkarte zeigte mir, dass der Abflug meines Flugs nach Wien von Gate 12 aus stattfinden würde.

Irgendwie finde ich an, ein bisschen zu zittern.
Ich ging mit meinem Handgepäck zur Gate Nummer 12.

Auf der Bank in der ersten Reihe vor dem großen Fenster lag eine Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Zusammengefaltet, mit dem Wirtschaftsteil oben.

Ich ging zu der Frau, die später die Bordkarten einscannen würde – um zu prüfen, ob dieser Flug wieder nach Warschau gehen würde.

Aber da ich relativ früh jetzt in Gate Nummer 12 eingetroffen war, war das Anzeige Display hinter ihr noch schwarz.

Dann ging ich leicht in Trance wieder in die erste Reihe, setzte mich auf die Bank und nahm mit der rechten Hand die Zeitung in die Hand, um meine Lektüre fortzusetzen.

Ein Augenblick lang hatte ich den Eindruck, dass unter der Zeitung ein kuscheliges braunes Murmeltier lag, was mich mit großen Kinder-Kuller-Augen ansah und leicht den Kopf schüttelte.

Oder vielleicht auch mit dem Kopf nickte.

Oder vielleicht beides gleichzeitig machte.

Auf alle Fälle war der Gruß des Murmeltiers angekommen.

PS:
Da ich den Bericht über diesen Sonntag in Venedig jetzt am nächsten Tag in Hamburg in meinem Computer schreibe, ist über den Rest der Geschichte nichts mehr zu berichten.

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