Gezeiten

3 – 2 – 1 – Zündung

(Die Standard-Ansage bei jedem Raketentest )

Drei

Er hatte alle drei geschafft.

Anders als das tapfere Schneiderlein, das in der Geschichte der Brüder Grimm Sieben auf einen Streich erlegte und damit die Königstochter für sich gewann, beschränkten sich seine Großtaten auf die bekanntesten aller Zahlen, also auf die Drei.

Je nach Schulabschluss und häuslicher Umgebung stehen diese Drei für eine Vielzahl von Bedeutungen.

Als da sind zum Beispiel

Geburt – Leben – Tod.
Mutter – Vater – Kind.
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft.

Bei ihm ging es wesentlich profaner zu.

Er hatte aber trotzdem in der ersten Lebenshälfte seine drei Dinge erfolgreich abschließen können.

Als erstes flog er elegant irgendwann von der Schule.

Als zweites flog er danach ebenso gekonnt mehrmals durch die Fahrprüfung.

Und schließlich flogen ihm die Herzen aller Panzerknacker zu, als er erfolgreich seine Bank um einen erheblichen Betrag erleichterte, ohne hierfür Gewalt oder andere ungesetzliche Maßnahmen anzuwenden.

Zwei

Doch nichts von dem konnte er weitergeben.

Seine über alles geliebte Enkelin scheiterte schon bei den ersten beiden Aufgaben.

Sie weigerte sich erfolgreich, irgendwann von der Schule zu fliegen.
Sie durchlief ihre dreizehn Jahre bravourös in der ihr eigenen Mischung aus Freundlichkeit und Fleiß.

Den Führerschein erhielt sie, ohne dass ihre Fahrschule ihr ein Denkmal für mehrfach nicht bestandene Prüfungen errichten konnte.

Und damit waren zwei Chancen, es ihrem Großvater gleich zu tun, bereits für immer vertan.

Eins

Es blieb also nur noch eine einzige Patrone im Magazin ihres ganz privaten Revolvers.

Und diesen Schuss weigerte sie sich abzugeben.

Er sollte irgendwann dazu dienen, den schönsten Stern des Nachthimmels gezielt vom Firmament herunter zu holen.

Wie, wann und wo das geschehen würde – das sagte sie selbst ihrem geliebten Opa nicht.

Erstes Buch

Die Auswahl

Die Frage war ganz einfach.

Er saß in seinem karibischen Strandbüro, schaute durch das große Glasfenster verträumt auf den Strand, wo die immer jünger werdenden weiblichen Touristen die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts mit immer gleichen Mitteln herausforderten.

Dann blickte er ausgesprochen ratlos auf den leeren Bildschirm des kleinen Computers vor ihm.

In diesem kleinen Laptop war eine Kopie des Führerscheins gespeichert, den seine Enkelin bereits mit siebzehn Jahren erfolgreich erworben hatte.

Und jetzt kam das Datum ihres achtzehnten Geburtstags hinzu.

Er hatte in seinem Leben viel erreicht, aber wie man mit diesen beiden Ereignissen zurecht kommt, das hatte ihm vorher niemand erzählt.

Er beschloss deswegen, jetzt vor der mittäglichen Siesta seine Gedanken in einer Frage zu formulieren.

Formulieren

Formulieren war eine der wenigen Eigenschaften, die er bis in sein inzwischen ziemlich hohes Alter noch einigermaßen beherrschte.

Und weil wie immer im Leben die Würze in der Kürze liegt, schickte er folgende kleine Nachricht vom karibischen Strand hinüber nach Berlin, wo seine Enkelin ihr Zuhause hat.

“Glückwunsch – du darfst jetzt eine Reise wünschen.“

Mach mir vier Vorschläge, und wir werden davon das aussuchen, was mir gefällt “.

Auf diese Art und Weise hatte er wie immer zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Der Andere konnte etwas vorschlagen – er selber brauchte sich nicht mit den Einzelheiten der fünf Kontinente beschäftigen, die er sowieso schon fast vollständig kannte.

Und gleichzeitig nahm er seinem Gegenüber die Last ab, sich für einen der eigenen vier Vorschläge selbst entscheiden zu müssen.

Multiple Choice

Zwei Tage später erhielt er die gewünschte Antwort.

Genauso kurz und knackig, wie er es von seiner Enkelin gewohnt war, bestand die Antwort aus ganz wenigen Wörtern.

“Madagaskar – Indien – Mexiko – das vierte Wort habe ich vergessen“.

Als er das gelesen hatte, atmete er sichtbar auf.

Er hatte in seiner Jugend – die man auch als Zeitalter des Schwarzweiß-Fernsehens bezeichnete – jeden Sonnabendabend die großen Quiz- und Unterhaltungsshows gesehen.

Zuerst mit Peter Frankenfeld, dann mit Hans-Joachim Kulenkampff.

Die Fragen dieser Shows hatten ihn, sofern er überhaupt deren Sinn verstand, fasziniert.

Ebenso die Bemühungen der verschiedensten Menschen, auf diese Fragen irgendwelche Antworten geben zu können.

Das ganze war ungefähr so wie bei ihm in der Schule.

Der Lehrer fragte irgendetwas und die Schüler versuchten auf diese Frage eine einigermaßen richtige Antwort zu geben.

Dann gab es im Schwarzweiß-Fernseher am Schluss irgendeinen Gewinner und das Programm war zu Ende.

Heute gab es genauso viele dumme und überflüssige Fragen wie früher.
Aber alles im Multiple- Choice Verfahren.

Das hasste er so sehr, dass er seit über zwanzig Jahren keine Quizsendung mehr sah.

Bis zu diesem Moment.

Der Aufbau des Multiple-Choice-Verfahrens ist ganz einfach.

Der Kandidat bekommt die Frage auf einem Bildschirm präsentiert und gleichzeitig meistens vier Lösungsvorschläge. Eine davon ist meistens richtig.

Seine ganze Aufgabe besteht jetzt darin, rauszufinden, welche dieser vier Lösungen die Richtige sind.

Hätte man so etwas vor sechzig oder siebzig Jahren dem Fernseh-Publikum und ihren Kandidaten zugemutet, es hätte mit Sicherheit einen Riesen Aufstand gegeben.

Mit der Lösung von Quizaufgaben durch erlerntes Wissen hat dieses Multiple-Choice-Verfahren nichts mehr zu tun.

Und trotzdem war der kleine weißhaarige Herr in seinem Strandbüro glücklich und dankbar, dass er es jetzt mit so einem modernen Quiz-Verfahren zu tun hatte.

Er brauchte sich nur noch mit den vier Antworten seiner Enkelin beschäftigen –und alles andere war als Antwort ausgeschieden.

Den vierten Vorschlag, an den sich die Enkelin selber nicht mehr erinnern konnte, diesen Vorschlag nahm er einfach als Joker, und der würde nur gezogen wenn die andern drei alle aus irgendwelchen Gründen nicht realisiert werden könnten

Spätfolgen

Vor ungefähr fünf oder sechs Jahren muss es innerhalb unserer kleinen Familie ein oder mehrere Ereignisse gegeben haben, die am Schluss zu einer kleinen Weltreise führten.

Ob es sich um Belohnung oder Bestrafung handelte, das wusste er heute nicht mehr so genau, es war auch nicht mehr wichtig.

Wichtig war, das damals die Großeltern zusammen mit dem Vater der Enkelin und seiner Tochter – und gleichzeitig Lieblings-Enkelin des kleinen weißhaarigen Opas – dass diese vier plötzlich den Entschluss fassten, die Heimat ihrer Großmutter und die nähere und weitere Umgebung einmal gemeinsam kennen zu lernen.

Es war eine wunderbare, harmonische und für alle unvergessliche Reise durch die verschiedensten Länder Südamerikas.

Schwerpunkt ist selbstverständlich Chile, die Heimat der hübschesten Großmutter südlich des Äquators.

Der Vater der Enkelin und gleichzeitig Sohn dieser Großeltern übernahm souverän die Reiseleitung und alles klappte problemlos.

Reisegruppe

Auf Basis dieser Erfahrung, so dachte unser weißhaariges Männchen, als er die Vorschläge der Enkelin noch einmal durchlass, würde eine Wiederholung der damaligen Reisegruppe eine ziemlich einfache Sache werden.

Nur dass es eben nicht wie damals nach Südamerika ging, sondern jetzt um einen der Vorschläge, die die Enkelin gemacht hatte.

Um es vorwegzunehmen – die Ernüchterung kam schnell und gründlich.

Jan, der Vater der Enkelin, erklärte, dass er krank sei und nicht mehr fliegen könne.

Wir hatten das alles auch schon miterlebt, als er uns zusammen mit seiner Freundin auf einer Bridge Reise nach Italien begleitete und auf dem Rückflug praktisch kollabierte.

Dann hatte er auf einer Rückreise von Punta Cana nach Europa erhebliche Schwierigkeiten im Flugzeug und nach der Landung und wurde daraufhin gründlich untersucht.

Er hatte – und hat bis heute – eine nicht sehr bekannte, aber trotzdem häufiger vorkommende Spätfolge einer Corona- oder Covit- Erkrankung.

Die Ärzte sagten, dass er auf keinen Fall länger als 2 oder 3 Stunden im Flugzeug bleiben könne.

Am besten solle er überhaupt nicht mehr fliegen, bis er wieder ganz gesund ist.

Dadurch war nicht nur die Reiseleitung durch Jan, sondern überhaupt das Mitreisen von ihm unmöglich geworden.

Und wie bei einem guten Monopoly-Spiel begaben sich alle Beteiligten mit ihren kleinen Spielfiguren zurück auf Los.

Panama

Vor zwei Jahren hatte das kleine weißhaarige Männchen mal wieder eine ziemlich kleine und weißhaarige Idee.

Er hatte auf seinem Todo-Zettel, der im Laufe der Jahre und Jahrzehnte von einem Format ähnlich wie Arno Schmidts Monumentalwerk “Zettels Traum“ zu einer Größe ähnlich der Gravur im Inneren seines Eherings geschmolzen war –auf diesem Überbleibsel seiner noch offenen Wünsche waren nur drei Wörter übrig geblieben.

“Suez – Panama – Amazonas“

Alle drei also irgendwas mit Wasser.

Teils in Form eines Kanals, teils eines Flusses, teils beides zusammen.

Den Suezkanal konnte er nicht bereisen, er ist seit Jahrzehnten strengstes militärisches Sperrgebiet.

Den Amazonas kannte er selber noch sehr gut, allerdings aus der Frühzeit seiner beruflichen Robinsonade – also vor gut sechzig Jahren.

Der Panamakanal hingegen war nur zwei Flugstunden von seinem karibischen Domizil entfernt. Und es gab täglich mehrere Flüge direkt von Punta Cana nach Panama.

Also wandte er sich vertrauensvoll irgendwann im Winter an seine Berliner Enkelin, um ihr kurz mitzuteilen, dass Weihnachten ausfällt und durch eine kleine Osterreise ersetzt wird.

Sie habe ja über Ostern genügend Tage Ferien, um von Berlin in die Karibik und dann mit dem Opa weiter nach Panama zu fliegen.

Dort werde man sich alles in Ruhe angucken, um dann zurück über Punta Cana nach Berlin zu fliegen.

Panama, das Zentrum für Internationale Finanzen und Verkehrsverbindungen, gehört schließlich zur gepflegten Allgemeinbildung.
Und dafür meinte der Opa nach wie vor zuständig zu sein.

In dieser Osterwoche spielte sich also das Leben der beiden Spezial-Touristen etwas südlich von Berlin ab und es wurde ein voller Erfolg.

Zusammengeschmolzen

Damit war auch das letzte Trio seiner offenen Wünsche auf nur noch ein einziges Wort zusammengeschrumpft – Amazonas.

Und somit war es auch einfach, in diesem Multiple-Choice-Rate-Programm den einzig verbliebenen Hauptgewinn herauszufinden.

Es mussten vorher noch einige technische Fragen geklärt werden.

Jan blieb aufgrund seiner Krankheit zusammen mit seinem Hund in unserem Haus in der Nähe von Hamburg.

Die Enkelin und ihr Opa einigten sich sehr schnell darauf, die Leitung der Reise in diesem Fall gemeinsam durchzuführen.

Erfahrung hatten sie durch die gelungene kleine Panama-Reise genügend gesammelt.

Kompromiss

Und weil das Leben aus einer Anhäufung von Kompromissen besteht; wurde familienintern folgendes besprochen:

Die Enkelin hatte den Wunsch geäußert, Mexiko zu besuchen.

Der Opa hatte angeregt, diesen Besuch mit einem Abstecher zum Amazonas zu verbinden.

Jan, ihr Vater, sagte zu allem Ja.

Und die Oma sagte das, was sie mit ehrlichem Herzen immer am liebsten sagt, wenn sie um ihre Meinung gefragt wird – „Amen“.

Planung

Im April wurde festgelegt, dass dieser kleine Ausflug im September stattfinden sollte, da die Enkelin sich entschlossen hatte, bereits im darauffolgenden Monat mit dem Ernst des Lebens zu beginnen.

Geplant wurden eine Woche Mexiko und danach zwei Wochen Amazonas.

Die mexikanische Halbinsel Yucatan, die hauptsächlich das Interesse der Enkelin hervorrief, ist geographisch relativ klein und mit der sehr gut ausgebauten touristischen Infrastruktur in einer Woche gut zu bereisen.

Insbesondere, wenn man nach dem Erwerb des Führerscheins der Enkelin jetzt mit zwei Fahrern im Mietwagen durch dieses berühmte Maya-Gebiet fahren würde.

Der Amazonas ist mit 6.400 km fast doppelt so lang wie das gesamte Mittelamerika – von Mexiko bis Kolumbien sind es nur 3.700 km.

Auch wenn in ihrem Amazonas -Plan nur der obere und damit der fast unbekannte Amazonas Mittelpunkt der Begierde war, so waren es allein im oberen Amazonas Tausende von Kilometern, die sie irgendwie bewältigen wollten.

Also bekam dieser Teil der kleinen Familien-Expedition zwei Wochen Zeit zugeteilt.

Die Frage

Der Amazonas-Opa, wie er von da ab familienintern treffend bezeichnet wurde, hatte pflichtgemäß vorher seine Chefin, Ehefrau und Pflegerin von dreiundfünfzig gemeinsamen Jahren gefragt, ob sie bei dieser kleinen Reise mit dabei sein wolle.

Im Prinzip eine ziemlich rhetorische Frage, denn sie hatte bereits in den vergangenen Jahren einige Vorschläge für Reisen in die nähere und etwas weitere Umgebung dankend abgelehnt.

Und so war ihr ziemlich kategorisches und kurzes “Nein danke“ nicht wirklich überraschend.

Es war genügend Zeit, alles in Ruhe und trotzdem gründlich vorzubereiten.

Ernst

Dann wurde es ernst.

Die Enkelin übernahm das Kapitel Mexiko und lieferte damit ihr Gesellenstück als Reiseleiterin ab.

Alles war perfekt vorbereitet, organisiert und sie konnte in diesem Praxistest beweisen, dass sie die Abiturnote 1 für ihr Fremdsprachen-Fach Spanisch völlig zu Recht im Abi-Zeugnis stehen hatte.

Der Opa kratzte seine restlichen verbliebenen Portugiesisch-Kenntnisse zusammen und organisierte verschiedene Schiffsreisen, die vom oberen bis zum mittleren Amazonas führen würden.

Er hat dort vor sechzig Jahren mehrere Jahre gelebt und alles geschmuggelt, was nicht niet- und nagelfest war.

Auch wenn es sich meistens um alte, stinkende und manchmal bereits leicht vergammelte Pelzfelle handelte.

Diese komischen dreckigen Dinger mussten bloß von den kleinen Urwald Dörfern am oberen Amazonas oder in den entsprechenden Gebieten in Peru oder Bolivien in irgendeiner Form nach Paraguay herausgeschmuggelt werden.

Dort hatte er mit seiner kleinen privaten Mafia den Schmuggel so gut organisiert, dass der Weitertransport aus diesem kleinen südamerikanischen Land hin nach Europa und in Europa dann weiter in die Schweiz keine weiteren großen logistischen Anforderungen mehr darstellte.

Der Wandel

Aber das war alles viele Jahrzehnte her.

Er hatte sich nach zehn Jahren profitabler und recht abenteuerlicher Schmuggel-Arbeit aus dem südamerikanischen Urwald vom Saulus zum Paulus gewandt.

Irgendwann reichte es.

Zehn Jahre Oberer Amazonas und Pelzfelle von Feuerland bis Mexiko – das war dann auch genug.

Die nächsten 25 Jahre verbrachte er in China und lernte ganz andere Facetten kennen.

Die Änderung

Nichts ändert sich so schnell wie die unumstößliche Meinung einer erfahrenen Ehefrau.

Man nennt es dann Korrektur oder Variation, manchmal auch Umkehr, Wandel oder Überarbeitung.

Allein die große Anzahl der dafür verwendeten Begriffe zeugt von der Tatsache, dass so ein Sinneswandel öfter passiert als die Chat-Kontrolle auf dem Handy des geliebten Ehemannes.

Und so war es nicht verwunderlich, dass die charmante und anmutige Begleiterin des kleinen weißhaarigen Männchens irgendwann erklärte, dass sie sich entschlossen hätte, jetzt diese Reise doch mitzumachen.

Zwar nicht den ersten Teil durch Mexiko – eine Woche Tempelbesuche hätten ihr vor vielen Jahren in Ägypten schon gereicht.

Aber dafür würde sie im zweiten Teil durch Südamerika mit dabei sein.

Ihre Erfahrung, Ausdauer und Leidensfähigkeit hätten sie nach so vielen gemeinsamen Jahren dazu bewogen, dass der Restfamilie auf diesem Reiseabschnitt eine südamerikanische Begleitung gegeben werden sollte.

Neu

Also, alles wieder zurück auf Los.

Amazonas, wir kommen.

Aber jetzt zu dritt.

Iquitos

Mitten im peruanischen Amazonasgebiet und östlich der Anden gibt es eine Stadt, von der kaum einer bisher etwas gehört hat und die voller Geheimnisse und Rätsel ist.

Es ist die größte Stadt der Welt, die nicht über irgendeine Straße erreichbar ist und die nicht auf einer Insel liegt.
Diese Stadt ist ausschließlich über den Fluss und seit einiger Zeit auch aus der Luft aus erreichbar.

Iquitos hat heute über 150.000 Einwohner, die nach wie vor ausschließlich mit dem Schiff versorgt werden können.

Aufgrund seiner fernen und isolierten Lage weckt diese Stadt die Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Regenwald, dem Lebensraum des dort bereits extrem weiten Amazonas.

Wer einmal dort gewesen ist, hat etwas erlebt, was er sonst nirgendwo auf der Welt finden kann.

Früher

Unser kleines weißhaariges Männchen war vor vielen Jahrzehnten sehr oft dort.

Als Flugplatz diente eine kleine Graspiste, gerade lang genug um mit einem kleinen einmotorigen Propellerflugzeug zu landen, die schweren Säcke mit dem geheimnisvollen Inhalt auf den beiden Notsitzen hinter dem Pilot zu werfen und um dann so schnell wie möglich nach Paraguay zu fliegen.

Die seinerzeitigen Familien in Iquitos, mit denen es unser Protagonist damals zu tun hatte, waren freundlich, kooperativ und konnten gut rechnen.

Sie wussten nicht, wozu all das, was sie heranschaffen, um es dem seinerzeit noch nicht ganz so weißhaarige Männchen zu verkaufen – wozu das gut sein würde.

Aber sie kannten ziemlich genau den aktuellen US-Dollar Kurs in New York und in der Schweiz.

Und hier in Iquitos sollte jetzt nach Mexiko der zweite Teil der Reise losgehen.

Die Zeit

Im Sommer beträgt der Zeitunterschied zwischen Deutschland und Peru 6 Stunden.

Es gibt die Faustregel, dass die Menschen ungefähr ab der Mitte ihres Lebens pro Tag eine Stunde Zeitunterschied verarbeiten können.

Bei einer Reise von Deutschland nach Iquitos sollte man also mindestens sechs Tage vor Ort sein, um sich innerlich und äußerlich zu akklimatisieren.

Da der Großvater zusammen mit der Enkelin irgendwann direkt aus Mexiko dort eintreffen würde, musste Vorsorge getroffen werden, dass die aparte Frau, auf die der Begriff Großmutter weder äußerlich noch sonst wie zutreffend war, dass diese gepflegte Dame eine Woche lang in dieser abgeschiedenen Urwaldstadt verweilen und sich auf die Amazonas- Reise vorbereiten kann.

Das hat alles gut geklappt – sie gehört jetzt zum erlesenen Kreis der ein oder zwei Deutsch-Chilenen, die in dieser geheimnisvollen Stadt eine komplette Woche verbracht haben, um auf den Rest ihrer Familie zu warten.

Seltsam

Eine Besonderheit von Mexiko ist, dass alle wichtigen Wörter dort mit M beginnen.

Angefangen von Mexiko gehen die Begriffe dann nahtlos über zu Maya, Mango, Museum, Maus und Märchen.

Der vorsorgliche Opa hatte für seine Enkelin zwei Business-Flüge gebucht, die es in dieser Variante wahrscheinlich noch nie gegeben hat.

Deswegen waren sie im Computer der Condor wohl auch unter der Rubrik “ unvergesslich – unverkäuflich “ als äußerst seltsam gespeichert.

Den Wert dieser exotischen Flugkombination hatte davor wohl noch niemand angefordert, geschweige denn ausgerechnet.

Ein Hinflug von Berlin nach Cancun verbunden mit einem Rückflug von Manaus – der größten brasilianischen Stadt am mittleren Amazonas -direkt zurück nach Berlin – der angebotene Preis war für Businessflüge auf beiden Strecken so günstig, dass der Opa zuschlug.

Und gleichzeitig in seinem Notizbuch vermerkte, dass man diese Strecke zukünftig ruhig einmal im Jahr als Alternativprogramm durchführen sollte.

Tiere

Mit Mexiko verband der Opa bis dahin nur zwei Episoden seines bunten Lebens.

Als junger Mann hatte er eine längere Zeit versucht, dort den sagenumwobenen blauen Ozelot zu finden.

Hierüber schrieb er dann später auch noch die kleine Geschichte „Der Häuptling“.

Einmal, vor über fünfzig Jahren, hatte er Erfolg.

In einer Gegend, in der heute Mord und Mafia herrscht, gab es einige kleine Siedlungen, wo tatsächlich dieser blaue Ozelot noch vorkam.

Er versprach den Dorfbewohnern viel Manna und anderen Reichtum, wenn sie ihm einige dieser wunderschönen und extrem seltenen Pelzfelle irgendwann einmal verkaufen wollen.

Zwei oder drei Jahre später besuchte er den Ort noch einmal.

Und tatsächlich hatte man eine kleine Menge für ihn gesammelt und die Dorfbewohner zeigten ihm den stinkigen Schatz voller Stolz.

Der Häuptling und seine Dorfbewohner tauschten damit ihre bisherige geistige und körperliche Freiheit gegen viele mexikanische Pesos, welche sie wiederum schnell für einige gebrauchte Fernseher und ein altes Auto für den Häuptling eintauschen.

Der Sack

Der Transport dieser so seltenen und wertvollen Ladung wurde fachgerecht organisiert.

Der Opa wusste, dass es ein Tier in Mexiko gab, das von allen gemieden wurde.

Es sah zwar fröhlich und verspielt aus und ähnelte in etwa einem kleinen Waschbären.

Aber sowohl das Fleisch als auch andere Teile dieses Tieres stanken so erbärmlich, dass es hauptsächlich dafür benutzt wurde, einen solchen Kadaver seinem Nachbarn oder dem Geliebten seiner Frau vor die Eingangstür seiner Hütte zu schmeißen.

Unser weißhaariges Männchen organisierte dann, dass die zwanzig oder dreißig blauen Ozelot-Felle fachmännisch in einen großen Sack gesteckt wurden.

Um diesen Inhalt herum wurde danach genauso fachmännisch eine sehr große Zahl der berüchtigten Stinker-Felle drapiert.

Diese Arbeit wurde von den jungen Frauen gemacht, die gerade die Windeln ihrer Sprösslinge wechseln mussten.

Dann einige Lagen Jute und Plastik – und es war es sicher, dass man mangels fehlender Gasmasken diesen Sack auf dem Transport von Mexiko nach Paraguay und später von Paraguay nach Hamburg und dann weiter in die Schweiz nirgendwo aufmachen würde.

Wegen der Besonderheit und Bedeutung dieses Sacks und dessen Inhalt reiste unser Opa extra zurück nach Hamburg.

Der Experte

Er war dort inzwischen oberster Spezial-Experte bei den Hamburger Flughafen-Zollbehörden geworden – für alles was mit Exotik, Dreck und bösen Geruch zu tun hatte.

Gleichzeitig war er beim Tierpark Hagenbeck registriert als Experte für das gesamte Fachgebiet Leder, Pelz und Fellen.

Mit diesem Zertifikat von Hagenbeck wurde er beim Zoll automatisch als Chef aller exotischen Angelegenheiten in die entsprechenden Kontrolllisten eingetragen.

Jetzt brauchte er am Hamburger Flughafen in den Waschräumen des Zolls nur noch seine eigene Ware kontrollieren und schon war seine Ware als gesetzmäßige und legale Einfuhr zertifiziert.

Coatis

Also wurde er einige Tage später auch vom Leiter der Flughafen Zollbehörde angerufen und gebeten, in einem etwas sehr seltsamen Fall möglichst schnell zu erscheinen.

In den Papieren, die diesen größeren Sack begleiteten, stand in der Spalte “Inhalt der Verpackung“ irgendetwas, was man als “Coatis“ entzifferte.

Aber in keinem Zoll-Buch oder irgendeiner Einfuhr-Liste war dieses Wort zu finden.

Unser Opa lächelte freundlich, als ihm der Sachstand berichtet wurde.

Er bat dann als erstes, sämtliche Fenster zu öffnen und holte aus dem kleinen Messerbesteck, was beim Zoll immer vorrätig war, um die verschiedenen dubiosen Gegenstände aufzuschneiden, das schärfste und dünnste Messer heraus.

Dann machte er wie Professor Sauerbruch in einem seiner berühmten Filme einen Schnitt an einer bestimmten Stelle des Sacks und klappte die beiden Öffnungen auseinander.

Es trat umgehend ein so penetranter und widerlicher Geruch aus dem Sack heraus, dass die anwesenden beiden Zollbeamten einige Schritte zurückwichen.

Der Opa erklärte den beiden Zöllnern kurz, dass diese Coatis- Felle zwei Bestimmungen hatten.

Sie würden in Süddeutschland in einer bestimmten kleinen Fabrik einige Tage gekocht und die Suppe würde dann als Grundbestandteil für Fliegengitter eingesetzt.

Keine Fliege hätte es bisher geschafft, durch ein Gitternetz zu fliegen oder zu krabbeln, das mit dieser Masse beklebt war.

Und zum anderen würde diese Coatis-Masse in einigen Gebieten Bayerns als Fleckentferner für heimische Hirschleder-Latzhosen erfolgreich eingesetzt.

Der Inhalt dieses Sacks sei also volkswirtschaftlich wertvoll und könne problemlos freigegeben werden.

Einige Tage später war der Sack dann in der Schweiz und der Inhalt erfreute einige sehr reiche und sehr alte Damen des europäischen Hochadels.

Gesperrt

Der andere Bereich, den unser weißhaariges Männchen mit Mexiko verband, hat eine Sperrfrist von dreißig Jahren ab dem Todestag des Verfassers und kann deswegen hier nicht weiter geschildert werden.

Das war in kurzen Worten die Erinnerung des Opas an seine Zeit in Mexiko vor vielen Jahrzehnten.

Die Rundreise

Reisebücher gibt es mehr als nötig.

Darunter auch in allen Facetten Informationen über Mexiko und seine Geschichte, die mit Maya, Azteken und anderen Bewohnern verbunden ist.

Diese Art der normalen Fachliteratur wurde vom weißhaarigen Opa strikt abgelehnt

Jeder soll auf so einer Reise seine eigenen Erfahrungen gewinnen.

Deswegen soll auf seinen Wunsch an dieser Stelle über die normalen Reise – Erlebnisse “Land und Leute“ nichts weiter gesagt oder geschrieben werden.

Wer aber das Glück hat, eine solche Woche ganz harmonisch strukturiert und von seiner Enkelin bestens und aufs angenehmste geplant und organisiert serviert zu bekommen, der hat mehr Glück als er wahrscheinlich verdient hat.

Jedenfalls war dies das Lob, das er nach einer wirklich angenehmen Woche seiner geliebten Enkelin aus vollem Herzen aussprach.

Sie freute sich natürlich und war ihrerseits gespannt, was nun in den nächsten zwei Wochen auf sie zukommen würde.

Island

Normalerweise haben Island, Mexiko und der mittlere Amazonas nicht viel miteinander zu tun.

Aber was ist heutzutage noch normal.

Es gab in Mexiko einen Moment, da wurde Island zum Gesprächsthema, wenn auch völlig unbeabsichtigt und nur aus in jenem Moment gegebenen Situation heraus.

Über die andere Geschichte, was der mittlere Amazonas mit Island zu tun hat, wird am Ende dieser Chronik in angemessener Form berichtet.

Hier die Kurzform zum Thema Mexiko und Island.

Der Eintritt

Am zweiten Tag besuchten Enkelin und Opa einen der weltberühmten Maya-Tempel mitten im Urwald von Yucatan.

Diese Tempelanlage war bereits vor Jahrzehnten entdeckt worden und hatte inzwischen die Bedeutung als größtes Touristen-Highlight von ganz Mexiko.

Entsprechend war auch die Infrastruktur, die die beiden dort an diesem Vormittag vorfanden.

Bereits sehr früh parkten vor den Eingängen Hunderte von Bussen, Autos und neuerdings auch Eisenbahn-Waggons, die die Touristen aus dem ganzen Land täglich hierher spülten.

Der Eingang zu diesen Maya-Tempelanlagen war gigantisch.

Man sah auf großen Schildern Abbildungen der Maya-Tempel-Ruinen, die stoisch darauf warteten, wie jeden Tag zigtausend mal von den Handykameras der Besucher fotografiert zu werden.

Das erinnerte den Opa stark an die vielen Strand-Touristen, die jeden Morgen bei ihm vor seiner Terrasse am Strand vorbeiliefen, jede zweite Palme umarmten, um sich so in allen möglichen und unmöglichen Lagen abfotografieren zu lassen.

Teuer

Nur dass das Fotografieren am Strand gratis war, während man hier einen ziemlich happigen Eintritt von 30 bis 50 US-Dollar pro Person zahlen sollte, um dann Teil des Massen-Rundgangs zu werden.

Da sowohl Enkelin als Opa fließend Spanisch sprachen, fiel ihnen auf, dass neben den vielen Touristen-Kassen-Schaltern es auch ein kleines Gebäude gab, wo offensichtlich spezielle Eintrittskarten verkauft wurden.

Bei näherem Hinschauen konnte man dann lesen, dass Besucher mit mexikanischem Ausweis, die älter als sechzig oder siebzig Jahre waren, gratis eingelassen werden.

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mexikaners lag etwas darunter, so dass hier kaum Verluste für die Betreibergesellschaft zu erwarten waren.

Dann gab es noch freien Eintritt für Invaliden, Rollstuhlfahrer sowie Blindenhunde und deren Begleiter.

Unser weißhaariges Männchen fing innerlich an, etwas zu rotieren.
Seine Enkelin kannte diese Metamorphose und entfernte sich vorsichtshalber.

Papiere

Dann suchte er in seiner großen alten Tasche nach irgendwelchen Papieren, die er gut verpackt in Plastik-Hüllen immer bei sich führte.

Das war neben dem Blutgruppenausweis und der Bescheinigung, dass er vor fünfundsechzig Jahren aus der Schule geschmissen wurde, auch noch sein deutscher Schwerbehinderten-Ausweis.

Die Bezeichnung “sein“ ist in diesem Zusammenhang vielleicht etwas zu optimistisch.

Bei näherem Hinschauen handelte es sich um den Ausweis, den sein Vater in den letzten Lebensjahren erhielt; und wo ihm eine hundertprozentige Schwerbehinderung bestätigt wurde.

Das ganze war dann ein bisschen retuschiert im Bezug auf das Geburtsdatum, mehrfach geknickt und wieder zusammengefaltet, um für den normalen deutschen Verkehrspolizisten ziemlich unleserlich zu erscheinen.

Der eigentliche Sinn dieses Papiers lag darin, dass er sich damit bei jedem Supermarkt oder anderen öffentlichen oder privaten Besucher-Parkplätzen dort hinstellen konnte, wo alte Menschen, Rollstuhlfahrer, Schwangere, frisch Vermählte und sonstige Behinderte parken durften.

Das hat in den letzten Jahrzehnten zu seiner Zufriedenheit fast immer geklappt.

Die Unterhaltung

Er ging damit also zu einem der beiden kleinen Glasfenster, hinter denen eine freundliche, aber trotzdem resolute mexikanische Kassiererin saß und sich offensichtlich jeden Tag über die gleichen Themen mit den Besuchern unterhielt, die bei ihr kostenlosen Eintritt erhofften.

Dass die Unterhaltung in Spanisch geführt wurde, war ein erster Erfolg.

Dass er ihr seinen uralten und nur noch durch das Plastik des Laminats zusammengehaltenen Behindertenausweis übergab, erregte ihr Interesse.

Aber mehr auch nicht.

Dann wollte sie wissen, welche Behinderungen denn auf diesem Zertifikat vermerkt seien.

Ansonsten müsse er wiederkommen, wenn er eine gültige und notariell beglaubigte Übersetzung seines Schwerbehindertenausweises vorweisen könne.

Unser kleiner weißhaariger Opa hatte im Laufe seines Lebens schon viele Spontan-Entscheidungen treffen müssen.

Für ihn war das, was jetzt folgte, eine seiner leichteren Übungen.

Das Restrisiko für ihn bestand nur darin, dass er während seiner jetzt folgenden Erzählung nicht selber anfangen würde, an irgendeiner Stelle zu lachen oder auch nur zu grinsen.

Aber mit der Erfahrung eines Mannes, der auch die schlimmsten Gespräche mit seinen Bankdirektoren überstanden hatte, bei denen er nach außen hin mit sehr feuchten Augen kurz vor Ausbruch eines Tränenanfalls stand und gleichzeitig innerlich sich vor Glucksen kaum halten konnte – mit dieser Erfahrung im Gepäck überstand unser Männchen das folgende Gespräch ohne Zwischenfall und Spätfolgen.

Arme

Er blickte also der freundlich-resoluten Kassiererin fest in die Augen.

Dann hob er seine Brille auf den Kopf, weil er ihr zum einen die eigene Sehschwäche und zum anderen mit den Fingern auf dem Ausweis etwas zeigen wollte.

“Schau mal hier“ fing er an und benutzte sofort die in Mexiko vorherrschende Form der Kommunikation, bei der Gott, die ganze Welt und der Präsident von allen sofort geduzt werden.

“Hier steht, dass ich eine neunzigprozentige Behinderung habe“.

Die Kassiererin sah ihn freundlich, aber auch sehr skeptisch an.
“Und was steht da genau?“

“Hier steht, dass ich sehr stark behindert bin, weil ich nur noch zwei Arme habe.“

Der Kassiererin fiel auf diese Antwort nichts ein.

Deswegen fuhr der alte Opa mit sehr feuchten Augen und leicht zittrigen Fingern fort, den Text des Ausweises zu übersetzen.

„Du weißt, dass in Island sehr starke Menschen leben.

Sie sind so stark, dass die Natur ihnen ausnahmsweise drei Arme gegeben hat.

Damit können Sie alle ihre Feinde besiegen.

Durch einen unglücklichen Unfall hat mir ein großer Hai beim Baden in der blauen Lagune einen Arm abgebissen.

Dann konnte ich nicht mehr weiter arbeiten – und seitdem bin ich 90 % behindert.

Einen neuen Arm kann ich mir als armer Rentner nicht leisten und somit bitte ich freundlich um das Papier, mit dem ich jetzt hier euren wunderschönen Park betreten kann.“

Rollstuhl

“Und hier“, fuhr er fort , um die kleine Pause zu überbrücken, “ steht auch der Name der Pflegerin, die mich aufgrund meiner Behinderung seit Jahren Tag und Nacht betreuen muss.

Sie steht dahinten und sucht nach einem Rollstuhl für isländische Behinderte mit zwei Armen – hoffentlich findet sie einen passenden Rollstuhl.

Die resolute, aber auch immer noch freundliche Beamtin im Innenraum dieses Verkaufsraums hatte im Laufe der letzten Minuten ihren Gesichtsausdruck stark verändert.

Ihre Menschenkenntnis war aufgrund der jahrelangen Geschichten, die ihr die Einlass-Suchenden erzählt hatten, wirklich groß.

Aber hier war sie an ihre Grenzen gestoßen.

Mit einem mexikanischen Blick, der eine Mischung aus Bewunderung, Mitleid und Skepsis darstellen sollte, griff sie zu ihrem Block, riss zwei gelbe Spezial-Eintrittskarten heraus und gab sie dem kleinen weißhaarigen Männchen.

Dieser hatte seine Brille inzwischen wieder auf der Nase gewischt und mit einem Taschentuch irgendetwas in seinem Gesicht.

Ob es Tränen der Freude, der Trauer um die eigene Unvollkommenheit oder auch nur der Versuch war, die beschlagenen Brillengläser wieder zu putzen – daran erinnerte sich später weder die Kassiererin noch unser Opa.

Zweites Buch

Flieger

Ungefähr zur gleichen Zeit starteten drei verschiedene Flieger.

Der eine von Punta Cana aus nach Panama.
Dort stieg der weißhaarige Opa um und war einige Stunden später in der berühmten Touristenstadt Cancun in Mexiko.

Ein anderer großer Flieger brachte die hübscheste aller Enkelinnen in einem super Luxus-Business Flug von Frankfurt direkt nach Cancun.

Wie es sich gehört, wurde sie dort von ihrem Opa abgeholt, der inzwischen Hotel und Auto organisiert hatte und jetzt bereit war, sich seiner neuen Reiseführung so gut es ging bedingungslos zu unterwerfen.

Und schließlich startete ganz früh morgens im kalten Hamburg ein Flieger nach Madrid.

In der ruhigen Business Class der IBERIA verbrachte die Schönste aller Großmütter einen angenehmen Vormittag.

In Madrid stieg sie in einen sehr komfortablen Langstreckenflieger und flog in dieser angenehmen Business-Klasse nonstop nach Lima in Peru.

Da dieser Flug mit fast 14 Stunden einer der längsten Nonstop Flüge zwischen Europa und Südamerika ist, hatte ihr treu sorgender Pfleger dafür gesorgt, dass auch sie die Vorzüge der Business Class auf dieser langen Reise erleben konnte.

Am nächsten Morgen flog die fröhliche Oma dann weiter mitten in den peruanischen Urwald und landete mittags im geheimnisvollen Dschungelort Iquitos.

Komplett

In einem kleinen und recht angenehmen Hotel direkt am Amazonas verbrachte sie dann die nächsten sieben Tage in aller Ruhe.

Als eine gute Woche später die beiden Mexiko-Reisenden ebenfalls in Iquitos landeten, waren die Mitglieder dieser abenteuerlichen Familienexpedition komplett – es konnte losgehen.

Ebbe

Das kleine weißhaarige Männchen wusste aus sehr weit zurückliegenden Zeiten, dass der riesige Amazonas einen extrem unterschiedlichen Wasserstand hatte.

Jedes Jahr in den Sommermonaten fiel der Pegel des Amazonas um 6 – 7 Meter.

Im Herbst begann die große Regenzeit, es regnete Tag und Nacht und der Wasserstand des riesigen braunen Flusses stieg wieder um 6 – 8 Meter in die Höhe.

Die gesamte Natur, die Tiere, die Pflanzen und alle, die in diesem riesigen Gebiet lebten, kannten diese Jahreszeiten und ihre Folgen.

Sie hatten sich im Laufe der Jahrtausende auf diesen Rhythmus eingestellt.

Als unser Trio Infernale die Idee hatte, mit dem Schiff von Iquitos den Amazonas runter zu reisen bis, sie schließlich mehrere tausend Kilometer flussabwärts in Manaus am mittleren Amazonas ankommen würden, da war ihnen bewusst, dass es Sommerzeit war und der Wasserstand tief lag.

Aber im wasserreichsten Fluss der Welt machte das normalerweise keinen großen Unterschied.

Normal

Die Bezeichnung normalerweise war hier völlig fehl am Platz.

Es hatte seit mehreren Jahren in der Sommerzeit immer größere Trockenstände gegeben und in diesem Jahr war der Wasserspiegel des Amazonas nicht nur 6 – 8 m sondern 12 – 13 Meter gefallen.

Die dort lebenden Eingeborenen betrachteten dies als eine Fügung ihrer jeweiligen Götter und kümmerten sich nicht weiter darum.

Aber die wenigen größeren Schiffe hatten mit dieser extremen Trockenheit sehr stark zu kämpfen.

Man muss sich nur klarmachen, dass zum Überleben in Iquitos jeden Tag über hunderttausend Menschen komplett versorgt werden müssen.

Zusätzlich müssen Baumaterialien und alles, was zum normalen Leben gehört über Schiffe Tag und Nacht nach Iquitos gebracht werden.

Es gab dafür ganz spezielle Fährverbindungen von Zentral-Peru hoch nach Iquitos.

Hunderte von kleinen und etwas größeren großen Schiffen waren nur damit beschäftigt, diese Stadt am Leben zu halten.

Trocken

Und jetzt war die Trockenheit der Nebenflüsse so stark, dass nur noch wenige Dampfer ihr Ziel erreichen konnten – und diejenigen, die irgendwann während dieser Zeit in Iquitos ankamen, mussten sich andere Hafenplätze suchen als normal.

Es gab in dieser Stadt fünf oder sechs Anlege- und Liegeplätze für diese Zubringerschiffe.

Aber drei oder vier waren seit Wochen ausgetrocknet und somit hatten die ankommenden Schiffe keine Möglichkeit, ihre Waren über Kräne oder sonstige Transportmittel an Land zu bringen.

Es wusste niemand, wann welches Schiff jetzt an welchem Teil von Iquitos ankommen würde.

Und genauso wenig wusste man, wann und wo die beiden Passagierschiffe, die normalerweise zweimal die Woche von Iquitos aus stromabwärts Richtung Kolumbien und Brasilien reisten – wann diese abfahren würden und von wo aus.

Das alles hatte das weißhaarige Männchen versucht seiner lieben Frau in einfacher Form zu erklären, damit sie sich erkundigen konnte, wie es ab Iquitos weitergehen könnte.

Wann, von wo aus und mit welchem Schiff.

Tiefgang

Doch der Großmutter hatte man bei jeder Reederei in Iquitos nur gesagt, dass man sich von Tag zu Tag neu entscheiden wird, wie, wann und von wo es eventuell mal weitergehen wird.

Um ein einigermaßen treffenden Vergleich zu finden, muss man sich folgendes vorstellen:

Die Elbe hatte als zweitgrößter deutscher Fluss jahrhundertelang einen Tiefgang von 7 – 8 m.

Das war ausreichend für Segelschiffe aller Größe, die bis ins neunzehnte Jahrhundert von der ganzen Welt kommend nach Hamburg segelten und ihre Waren im Hafen ablieferten.

Mit Beginn der Dampfschifffahrt vergrößerten sich die Schiffe von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Ab dann musste die Elbe immer weiter und immer tiefer ausgebaggert werden.

Heute hat sie 14 – 15 Meter Tiefgang und nur so können die riesigen Containerschiffe noch Hamburg erreichen.

Wenn jetzt aber durch irgendein natürliches Ereignis plötzlich der Wasserstand der Elbe um acht Meter sinken würde, dann wäre dieser große Fluss wohl nur noch mit Alsterdampfer zu befahren.

Große Segelschiffe gibt es ja bekanntlich nicht mehr.

So ungefähr muss man sich die Situation im Urwald von Iquitos vorstellen.

Dort, wo normalerweise die Anlegestellen in den verschiedenen kleinen Häfen dieser Urwald-Stadt sind, gab es jetzt nur noch einsame Kräne, deren Arme nicht mehr in die Schiffe ragten, weil es keine Schiffe mehr gab.

Stattdessen lagen jetzt auf dem Boden des Amazonas nur noch Kühe, Schafe und Ziegen. Sie dösten müde in der Sonne vor sich hin, nur manchmal unterbrochen vom Pupsen der wiederkäuenden mageren Rinder.

Steilküste

Und dort, wo man jetzt noch genügend Wasser im Amazonas hatte, um mit einem Schiff stromabwärts zu fahren, da musste man eine Steilküste von 8-10 Meter irgendwie runterkrabbeln, um auf das neue Niveau des Wasserspiegels zu kommen.

Eine ganze Armee von jungen Peruanern verdiente sich ihr Geld inzwischen damit, dass sie sämtliche Frachten und auch Passagiere diese Steilküsten herauf und herunter transportierten.

Das war gefährlich, und auch für Menschen, die schon Jahrzehnte dort lebten, ein wirklich ungewöhnlicher Anblick.

Auch hier wieder der Vergleich:

8-10 Meter sind die Höhe eines dreistöckigen normalen Hauses.

Wenn man in diesem Haus nur eine steile Außenwand hat, weil innen nie Treppen oder Stufen benötigt wurden, dann weiß man, auf was man sich einlässt, wenn man diese Höhenunterschiede als Tourist oder als Einwohner alleine oder mit Hilfe bewältigen muss.

Ab geht’s

Zwei Tage später war es dann soweit.
Das Taxi fuhr an eine Stelle, von der man nur das Dach eines kleinen Schiffes in einiger Entfernung sehen konnte.

Dann musste jeder Reisende irgendwie die Uferwände runtergetragen werden.

Die Koffer mussten geschleppt werden und natürlich auch jede Wasserflasche, oder was auch immer man mitnehmen wollte.

Bis all das zum weit entfernt liegenden Passagier-Boot gebracht wurde, vergingen Stunden.

Einen solchen Abschied aus Iquitos hatte selbst das weißhaarige Männchen noch nie erlebt. Aber es war ja lernfähig.

Und damit fing der nächste Teil der Reise dann auch an.

Einmalig

Ziel dieser ersten Bootsfahrt war nach zwei Tagen Reise eine kleine Stadt, die es in dieser Form auch nur einmal auf der Welt gibt.

Mitten im Urwald gibt es ein Dreiländereck, wo die Grenzen von Brasilien, Kolumbien und Peru aufeinander stoßen.

Dieser Ort war dem Großvater sehr gut in Erinnerung.

Hier konnte er innerhalb von wenigen Stunden seine Waren ganz bequem im Koffer von einem Land zum andern und dann wieder zum dritten rüber tragen lassen – und schon waren aus brasilianischen Wildkatzen wie durch ein Wunder kolumbianische Kurzschwanz-Tiger oder peruanische nachtaktive Brüll-Katzen geworden – je nachdem, für welche Tierart er sich entschloss, während er mit seinen Koffern in diesem völlig isolierten 3-Ländereck hin und her pendelte.

Das Ganze war vor sechzig Jahren ein Zentrum seiner Tätigkeit.
Aber er hatte bis heute mit niemandem so richtig darüber geredet.

Länder

Es gibt auf der Welt nur wenige Inseln, wo auf einer kleinen oder größeren Insel mehrere Staaten ihr Nationalgebiet haben.

Er selber wohnte in einer solchen Insel. Sie heißt en Espanola und besteht zu zwei drittel aus der dominikanischen Republik und einem Drittel aus Haiti.

Dann gab es noch andere große Inseln mit mehreren Staats Gebieten wie zum Beispiel Neuguinea, aufgeteilt in Indonesien und Papua-Neuguinea

Oder Borneo, aufgeteilt in Indonesien, Malaysia und Brunei

Oder Feuerland, halb Argentinien, halb Chile.

Alle diese Inseln waren groß – mindestens über 50.000 km² – und die verschiedenen Nationalitäten spielten darin eine wichtige Rolle.

Es gab aber auch bei ihm in der Karibik eine ganz kleine Insel, die so ungefähr das darstellte, was unsere 3-Personen Expedition am Ende ihrer ersten Schiffs-Reise vorfand.

Diese Insel in der Karibik heißt Saint Martin.

Sie ist nur 90 km² groß und gehört zu einem Teil zu den Niederlanden und zum andern Teil zu Frankreich.

Es gibt keinerlei Kontrollen, es ist alles offen und wenn man nicht vorher wüsste, dass man hier zwei Länder hat, auf der gleichen Insel – es würde niemandem auffallen.

Nebenbei bemerkt und nur für Historiker interessant – die deutschen Inseln Sylt und Föhr sowie die dänische Insel Romo haben eine ähnliche Geschichte.

Alle drei gehörten in der Vergangenheit zum einen Teil Dänemark und zum anderen Teil dem Herzogtum Schleswig.

Unser kleines Männchen wusste dies, weil er zu einer dieser Inseln viele sehr persönliche Erinnerungen hatte.

Amazonas

Zurück zum Amazonas.

Hier, an diesem exotischen Urwald-Dreiländereck, hatte sich irgendwann eine kleine Siedlung entwickelt, die heute zu drei Ländern gehört.

Die Kolumbianer beanspruchten ihr Gebet bis zum Amazonas, die Brasilianer sowieso und die Peruaner meinten, ihre eigenen Ansprüche dort müssen auch verteidigt werden.

So gab es dann im Laufe der letzten zweihundert Jahre folgende Situation:

Die Kolumbianer nannten diesen Ort Leticia.

Die Brasilianer bestanden auf dem Namen Tabatinga.

Und für die Peruaner war es Santa Rosa.

Die Peruaner kamen als letzte. Für sie blieb nur eine kleine Insel auf der anderen Seite des großen Amazonas übrig.

Das war dann also die Insel Santa Rosa, genau gegenüber von Leticia und Tabatinga, auf der anderen Amazonas-Seite.

Grenzenlos

Zwischen Leticia und Tabatinga gibt es keine Grenzen.

Wer in dieser Stadt ankommt, kann mit dem Taxi quer durch den Ort fahren und muss nur aufpassen, dass er auf der einen Seite mit Pesos und auf der anderen Seite mit brasilianischen Real bezahlen sollte.

Außerdem sprechen die beiden ineinander verschmolzenen Städte auf der einen Seite ein schlechtes Spanisch und auf der anderen Seite ein ziemlich abwegiges Portugiesisch.

Unser Männchen konnte sich an all das erinnern, er hatte im Laufe seines Lebens beide Sprachen gelernt, und hier wurde von den Bewohnern alles durcheinander gemischt.

Die Landung

Die drei landeten also irgendwann morgens auf dieser Insel Santa Rosa und es musste als erstes wieder mehr als 10 Höhenmeter Uferböschung überwunden werden.

Auch hier wartete eine Armada von Lastenträgern, um Passagiere und Güter diesen steilen Weg nach oben zu ermöglichen.

Als das nach 10 – 20 Minuten glücklich überstanden war, sah man oben auf dem Boden der Insel einige uralte Taxis, die nur noch benutzt wurden, wenn die wenigen Touristen ankamen oder wieder abfuhren.

Die drei mussten in ein peruanisches Büro, um ihre Pässe ordnungsgemäß abstempeln zu lassen.

Auf dem Grund

Dann ging es mit einem Motor-Dreirad wieder runter zum Fluss.

Und jetzt gab es etwas, was man vorher noch nie gesehen hatte.

Mit 3 Personen und dem gesamten Gepäck, was zwei vorsorgliche Damen zu dieser Exoten-Reise mitgebracht hatten – also die etwas größeren Gepäck-Variante – fuhren unsere drei Abenteurer mit zwei Uralt-Taxis runter auf den seitlichen Grund des Amazonas.

Von dort aus ging es dann über den Boden des Amazonas noch einige hundert Meter weiter Richtung Flussmitte.

Als sie endlich in ein Gebiet kamen, wo etwas Wasser durchfloss, sahen sie eine Reihe von kleinen Motorbooten, die alle darauf warteten, die Menschen von Santa Rosa über den kläglichen Wasserrest des Amazonas hinüber auf die kolumbianisch-brasilianische Seite zu schippern.

Das kostete einen Dollar pro Person und war in wenigen Minuten erledigt.

Das weißhaarige Männchen bat darum, in Tabatinga – also dem brasilianischen Teil dieses surrealen Städtchens – abgesetzt zu werden.

Und nach 3 Minuten waren sie in Brasilien, auf ebener Erde und zurück in einem Rest von Zivilisation.

Brasilien

Der Opa hatte vorsichtshalber das beste Hotel des brasilianischen Ortsteils im Voraus gebucht.

Das war nicht so schwer, denn es war gleichzeitig auch das einzige Hotel.

Durcheinander

Die drei kamen aus einem verhaltenen Staunen nicht heraus.

Sie nahmen ein Taxi und fuhren eine Stunde lang so oft zwischen Kolumbien und Brasilien hin und her, bis sie leicht schwindelig wurden.

So eine Spaß-Reise zwischen 2 Ländern, wo man wie in einem Kettenkarussell immer im Kreis über verschiedenen Ländern schwebte, gab es sonst nirgendwo auf dem ganzen Kontinent.

Im Gegenteil – Grenzübertritten sind überall ein Vorgang, der einen Berg von Formularen, Papieren, Visa-Genehmigungen und sonstigen Einfuhr-Zertifikaten benötigt.

Vor einigen Jahren, auf ihrer gemeinsamen Südamerika-Reise, waren sie am Titicacasee und hatten erhebliche Schwierigkeiten damit, dass die Enkelin die Weiterfahrt mitmachen konnte, nur weil sie einen anderen Nachnamen hatte als ihr Vater.

Daran mussten sie denken, als sie hier fröhlich und vergnügt so lange im Kreis zwischen den Ländern hin und her fuhren, bis sie selbst nicht mehr wussten, wo sie denn gerade waren.

Gebucht

Der Aufenthalt in dieser merkwürdigen, aber auch sympathischen kleinen Doppelstadt war laut Programm des weißhaarigen Männchens auf anderthalb Tage begrenzt.

Er hatte während der Vorbereitung dieser kleinen Expedition eine Firma in Brasilien gefunden, die laut eigenen Angaben darauf spezialisiert sei, Schiffsverbindungen in ganz Brasilien und insbesondere auf dem Amazonas zu organisieren.

Dort hatte er für einen Dampfer, der am nächsten Tag ab Tabatinga in Richtung Manaus abfahren sollte, zwei Kabinen gebucht.

Die nächsten vier Tage sollten dann in gepflegter Monotonie auf dem riesigen Amazonas stattfinden.

Militär

Diese Amazonasdampfer sind das einzige Verkehrsmittel in der gesamten riesigen grünen Lunge Brasiliens.

Alle schlafen wie beim Militär in einer Reihe.

Nur statt in Doppel- oder Dreifach-Betten übereinander schliefen die Schiffsreisenden auf ihren Booten ausschließlich in Hängematten.

Auf allen Decks dieser meist hölzernen und mittelgroßen Amazonas-Dampfer waren eine unüberschaubare Menge von Haken in die Seiten und in die Wände reingeschraubt.

Jeder, der hier mitfuhr, suchte sich zwei Haken und befestigte daran seine Hängematte, um darin die restlichen Tage und Nächte leicht schaukelnd zu verbringen.

Irgendwie erinnerte diese Form der Übernachtung den Opa an einige sehr alte und sehr große Höhlen, die er im Laufe seines Lebens irgendwann mal besichtigt hatte.

Dort gab es an den Höhlendecken Millionen von Fledermäusen, die alle nebeneinander hängend vor sich hin träumten.

Luxus

Der Amazonas Reiseleiter-Opa hatte aber herausgefunden, dass es alle zwei Wochen ein etwas größeres Schiff gab, wo im vorderen Bereich auch einige richtige Kabinen eingebaut waren.

Sogar mit eigener Dusche und Toilette – ein absoluter Luxus in diesem Gebiet.

Er hatte für so ein Schiff schon vor Wochen zwei Kabinen gebucht.

Der Dampfer sollte am nächsten Tag den exotischen Stadtteil Tabatinga verlassen und in Richtung Manaus abfahren.

Diese über 1000 km Amazonas Flussfahrt sollten dreieinhalb Tage und Nächte dauern und dabei wurden laut Plan vierzehn kleinere Dörfer, Städte und Siedlungen angelaufen.

Mit der Ladung dieses Schiffes sollte die Bevölkerung mit allem versorgt werden, was sie für ihr normales Leben am Ufer des riesigen Stroms brauchten.

Suche

Auch in dieser kleinen brasilianisch-kolumbianischen Doppel-Stadt gab es das Problem, dass die Anlegestellen der vielen kleinen und kleinsten Fähren und Fluss-Boote nicht mehr dort waren, wo man sie normalerweise platziert hatten.

Die enorme Trockenheit und die Tatsache, dass es den Schiffen nicht mehr möglich war, in geordneter Form irgendwo anzulegen, das war auch hier überall das Tagesthema.

Also nahmen sich die drei ein Taxi und fuhren erst mal los, um festzustellen, wo denn ihr Dampfer liegt – denn am nächsten Morgen um neun Uhr morgens sollte dann dort das Einschiffen beginnen.

Insgesamt gab es fünf kleine Hafenbecken am Randes Amazonas.

In der Halle des dritten Hafenbeckens waren große Schilder mit Fotos, Preisen, An- und Abfahrt – Informationen und dem Hinweis, dass es verboten sei, größere lebende Tiere mit in die 3 Aircondition – Kabinen zu bringen.

Das Essen sei nur in der Gemeinschaftsküche erlaubt.

Diese Hinweise waren mit Sicherheit schon einige Jahre alt.

Leer

Den 3 Suchenden bot sich folgendes Bild:

Der große Raum, wo normalerweise all die Säcke, Ballen, Kisten und Kartons lagen, die mit dem Schiff weiter transportiert werden sollten – dieser große Raum war völlig leer.

Ganz am Ende einer Wand gab es einen kleinen Schalter.

Dort schliefen zwei nette brasilianische Damen mit dem Kopf auf dem Schreibtisch.

Laut einem kleinen Schild an ihrer Kleidung waren es Mitarbeiterinnen der Reederei, die sich wohl um Fracht und Passagiere dieser Schifffahrt – Linie kümmern sollten.

Überrascht

Sie waren sehr überrascht, plötzlich Besuch zu bekommen.
Noch dazu in einer äußerst seltenen männlich – weiblichen Konfiguration.

Mann: alt, Frau fast alt, und junge Dame, überhaupt nicht alt.

Auf die Frage, wo denn das Schiff sein würde, und ob morgen tatsächlich ab 9:00 Uhr das Einschiffen beginnen würde, waren sie nicht vorbereitet.

Sie fragten zuerst, welches Schiff und dann fingen sie an, in verschiedenen Büchern und sonstigen Papieren zu suchen.

Das Ergebnis war eindeutig.

Den gebuchten Dampfer gab es zwar irgendwo in Brasilien, aber mit Sicherheit nicht hier in diesem Ort und nicht in diesem Hafen.

Und zwar weder heute noch morgen noch sonst wann in den nächsten 10 Tagen.

Hektik

Die eine Dame fing hektisch an zu telefonieren.

Danach kam sie mit der stolzen Mitteilung, dass der Dampfer zurzeit in Manaus liegt und morgen oder übermorgen oder in drei Tagen dort abfahren würde.

Stromaufwärts – also gegen den Strom – braucht man immer 5-7 Tage und in ungefähr 2 oder vielleicht 3 Wochen würde er dann wahrscheinlich hier ankommen, um uns mitzunehmen.

Rechnen

Eine überschlägige Berechnung des weißhaarigen Männchens ergab, dass in ziemlich genau einer Woche die Enkelin im Flugzeug sitzen würde, um von Manaus aus zurück nach Berlin zu fliegen.

Wenn Sie jetzt mit dem Schiff – so ist dann überhaupt einmal kommen sollte – weitereisen wollten, würde die Enkelin 1 oder 2 Monate später in Berlin sein als geplant – und irgendwie passte dies der Enkelin nicht wirklich.

Man ging zurück zum Taxi und klapperte alle anderen Häfen ab.

Es gab eine Möglichkeit, in drei Tagen mit einem normalen Hängemattenschiff weiter zu reisen – ansonsten keine Kabine, kein Schiff, kein Wasser auf dem Amazonas und kein vernünftiges Weiterfahren.

Der Vorname

an diesem Abend erfuhr die Enkelin wahrscheinlich zum ersten Mal, was der Zusammenhang von einem bestimmten Teilen ihres hübschen Namens zu tun hat mit der Tatsache, dass sie hier im Urwald saß – und dies ohne die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff kommen wird.

Der Opa brauchte eine sehr lange Zeit, um diese Geschichte zu erzählen.

Das war bei ihm zwar nichts Besonderes.

Aber der Bogen, den er dabei spannte, war doch manchmal sehr gewagt und an einigen Stellen wohl nur ihm selber verständlich – eine Tatsache, die man bei seinen Erzählungen gelegentlich aushalten musste.

Deswegen hier nur eine sehr komprimierte Zusammenfassung –

Der Vorname der Enkelin war Nanda.

Auf Wunsch der Großmutter und auch der Standesbeamten, der mit dem Wort Nanda nicht viel anfangen konnten, wurden diesem Vornamen noch zwei andere Vornamen hinzugefügt.

Das ergab nach vielen Überlegungen am Ende den schönen Vornamen Nanda Lily Malin.

Phonetisch genauso wie der Titel des Liedes der großartigen Sängerin Lale Andersen, der im den fünfziger Jahren in Deutschland von allen mitgesummt wurde – … vor der Laterne, vor dem großen Tor … das Lied von Lili Marleen.

Irgendwann war es der großartigen Lale Andersen aber Leid, jeden Abend das Lied von Lili Marleen zu singen.

Sie suchte und fand ein noch besseres und einprägsameres Lied, mit dem sie dann einen weiteren Welterfolg feierte.

Dieses Lied hatte den schönen Titel “Ein Schiff wird kommen“.

Und damit sah der Opa sich kurz in der Runde, um festzustellen, ob auch alle den großen Bogen seiner Familien-Erzählung verstanden hatten.

Ein Schiff wird kommen – für Lili Marleen – und dann geht’s weiter – irgendwohin in diesem wunderschönen riesigen Urwald.

Und wenn es nicht kommt, dann bleibt die Frage, warum die Welt so grausam ist.

Suche

Am nächsten Morgen fuhren die drei noch einmal alle bekannten Anlegestellen in diesem exotischen brasilianischen Teil der kleinen Urwaldstadt ab.

Sie fanden nirgendwo auch nur die Spur eines Schiffes, was sie mitnehmen könnte und damit war der Punkt einer Weiterreise per Schiff abgeschlossen.

Es gab weit außerhalb des Ortes irgendwo in der Pampa einen ziemlich großen und ziemlich neuen Flughafen, der wurde einmal am Tag angeflogen.

Gott sei Dank von einer brasilianischen Gesellschaft, die immer die gleiche Strecke flog – von Tabatinga nach Manaus und zurück.

Die drei schifflosen Reisenden kauften auf dem Flughafen drei Flugtickets für den Nachmittagsflug an diesem Tag.

Schiffchen

Dann nahm der Opa aus seiner dicken Reise-Vorbereitungs-Tasche drei gelbgrüne Tickets heraus und gab jedem der Mitreisenden sein teuer erkauftes und jetzt wertloses Schiffs – Ticket.

Sie falteten es geschickt zu kleinen Papier-Schiffchen, setzten diese vorsichtig am Ufer des Amazonas ins Wasser und verfolgten wehmütig, wie diese drei Papierschiffchen ihren Weg auf den großen Strom in Richtung Manaus nahmen.

Ob sie dort jemals angekommen würden interessierte niemand mehr.

Weiter

Dann fuhren sie zurück zum Flughafen, stiegen in ihren Urwald-Luft-Express und landeten 2 Stunden später in der viertgrößten Stadt Brasiliens, dem sagenhaften Manaus.

Drittes Buch

Küchentisch

1888 baute Henry Ford an seinem heimischen Küchentisch seinen ersten Verbrennungsmotor.
Das war der Anfang einer beispiellosen Karriere.

26 Jahre später, am 14. Januar 1914, begann in seiner Fabrik eine weitere bahnbrechende Entwicklung.

Die Erfindung des Fließbandes.

Bis dahin baute jeder Arbeiter in vielen hundert Stunden ein Auto zusammen.

Jetzt bauten hundert Arbeiter hintereinander am gleichen Ort an einem Fliessband das gleiche Auto in wenigen Stunden. Ein Riesensprung ins Industriezeitalter.

Das erste Modell T-1908 war der größte Erfolg der seinerzeitigen gesamten amerikanischen Industrie. Es wurde über zwanzig Millionen Mal verkauft.

Im Ergebnis: sehr viel Licht und nur ein einziger Schatten.

Das weiße Gold

Henry Ford saß mit seinen Direktoren am Konferenztisch.

Er hatte nur eine einzige Frage gestellt und die Antwort war ein allgemeines betretenes Schweigen.

Die Frage war ganz einfach:

“Wie zum Teufel bekommen wir diese verdammten Indios dazu, uns nicht weiter zu erpressen “?

Der Chef-Ingenieur – einer der ganz wenigen Menschen, der sich auch in dieser Runde traute seinem Chef Henry Ford die Wahrheit zu sagen – hatte eine kurze aber eindeutige Antwort.

“Gar nicht“! War sein lakonischer Kommentar.

Die anderen Anwesenden trauten sich nicht einmal mit dem Kopf zu nicken, um damit zu erkennen zu geben, dass sie mit der Meinung des Ingenieurs schlicht übereinstimmen.

Henry Ford erhob sich von der Stirn des großen Konferenztisches und setzte zu einer kurzen Rede an. Das tat er immer dann, wenn ihm keine Lösung zu einem ein Problem einfiel.

Zusammenfassung

Er stellte dann in seiner klaren und nüchternen Art das Problem dar – vielleicht macht es dann bei irgendeinem Klick und eine Lösung wurde geboren.

“Fassen wir also einmal zusammen:

Wir bauen das beste, meistverkaufte und günstigste Auto der amerikanischen Geschichte.

Wir haben es geschafft, dass sämtliche Teile, die wir dazu benötigen, von mindestens einer Handvoll Lieferanten hergestellt werden.

Sei es Stahl oder Metall für Motor und Karosserie, sei es das Glas für die Fenster oder die Möbel der Sitze – wir können uns jede Woche aussuchen, wo wir die besten und günstigsten Teile für unsere Produktion einkaufen.

Wir produzieren neben unseren eigenen Autos also auch Konkurrenzdruck, das bringt uns immer den günstigsten Preis und wir sind somit in der Lage, optimal zu produzieren.

Dann machte er eine kleine Pause und sagte mehr zu sich selber:

“Mit einer einzigen Ausnahme – diesen beschissenen Reifen…“.

Keine Chance

Wir können unser Auto konstruieren wie wir wollen.

Wir können so viel oder so wenig Sitze einbauen wie wir wollen.
Wir können sogar von unserer berühmten Farbpalette abweichen, in der bis heute nur eine einzige Farbe im Verkauf vorgegeben ist, unser wunderschönes berühmtes schwarz.

Wir können also alles steuern und bestimmen.

Bis auf diese beschissenen Reifen, ohne die wir überhaupt kein Auto bauen und verkaufen können.

Opfer

Wir sind seit bald zwanzig Jahren Opfer dieser schwarzhaarigen Indios, denen nichts weiter einfällt, als immer öfter Telegramme zu schicken.

Mit immer höheren Preisen für ihren blöden weißen Stoff.

Henry Ford vermied es den korrekten Begriff für diesen blöden weißen Stoff auszusprechen.

Der Name allein bewirkte bei ihm eine Mischung aus Zorn und Übelkeit.

Und diese beiden Komponenten zusammen ergaben das, was für ihn am Schlimmsten war – die Hilflosigkeit.

Telegramm

Der Chef-Ingenieur erhob sich, nahm ein Zettel mit einer darauf aufgeklebten Papierzeile aus seiner Tasche und las den Text dieses Telegramms laut vor:

“Ab 1. Oktober beträgt der neue Preis 148 Dollar. „Gruss aus Manaus.“

Er schob den Zettel wieder in sein Jackett und sagte nur lakonisch:

“Solange wir keine Alternativen zu diesem verdammten Kautschuk haben, werden wir jede weitere Preiserhöhung akzeptieren müssen – Kautschuk ist das weiße Gold dieses Jahrhunderts.“

Dann setzte er sich und lies die anderen reden.

Kautschuk

Das Harz des Kautschukbaums wurde von den Indios im Amazonasgebiet seit Jahrhunderten gesammelt, da sich dieser Naturkautschuk aufgrund seiner elastischen Eigenschaften für sehr viele verschiedene Zwecke nutzen ließ.

Angefangen von der Produktion für alle traditionellen Ballspiele bis hin zur Vulkanisierung, die der Amerikaner Charles Goodyear 1839 erfand und damit die Grundlage dafür schuf, dass Kautschuk eine der wichtigsten Rohstoffe für die Industrialisierung Europas und Amerikas wurde.

Regenmäntel, Schuhe, Fahrradreifen und schließlich Autoreifen – das waren die Haupt- Verwendungszwecke.

Ohne diesen Kautschuk aus Manaus konnte Henry Ford kein einziges Auto fertigstellen.

Der Handel

Der Kautschuk wurde in den tropischen Regenwäldern Amazoniens von wild wachsenden Kautschukbaum gesammelt.

Die Rinde wird angeritzt und der langsam ausströmende weiße Harz – Saft wurde in Eimern aufgefangen, dann zum Boot gebracht und von den Händlern, die mit kleinen Booten den gesamten Amazonas auf und ab fuhren, aufgekauft um ihn dann von Manaus aus nach Nordamerika und Europa zu verschiffen.

Im seinerzeitigen Kaiserreich Brasilien war die kleine Stadt Manaus am mittleren Amazonas das wichtigste Zentrum für Produktion und Handel mit Kautschuk.

Um 1890 wurde aus dem kleinen Dorf Manaus eine weltweit bekannte und extrem reiche Stadt.

Breite Straßen, eine elektrische Eisenbahn, elektrischen Straßenlampen – Der Kautschukboom machte in dieser Stadt ihre Bewohner zum Mittelpunkt einer unvorstellbaren extravaganten Lebensart.

Die Chefs der vorher kleinen Handelsfirmen schwammen innerhalb von kurzer Zeit in mehr Gold und Geld als Dagobert Duck in seinem besten Comic.

Sie nannten sich Kautschuk-Barone, weil im Kaiserreich der Baron eine sehr hohe Stellung hatte.

Ein Baron baute einen Palast für seine Pferde, der so imposant wurde, dass er am Ende dort selber einzog.

Die Oper

Den Höhepunkt der Extravaganz stellte jedoch der Bau des Theater Amazonas in Manaus dar.

Als größtes Opernhaus Amerikas und mitten im Amazonas-Dschungel bestand es fast ausschließlich aus importierten Materialien, angefangen von italienischem Marmor bis hin zu französischen Stoffen für Sitze und andere Ausstattungen.

Allein der Bau dieses riesigen und exotischen Opernhauses mitten in der kleinen Amazonasstadt kostete Beträge, von denen in Amerika und Europa ganze Staaten viele Jahre lang leben mussten.

Kautschuk war teurer als Gold und wurde zu Recht als das neue weiße Gold bezeichnet.

Wer Kautschuk hatte, konnte jeden Preis verlangen – Konkurrenz dafür gab es nirgendwo auf der Welt.

Manaus

Diese brasilianische Stadt Manaus ist einzigartig.

Mitten im tiefsten Amazonas bildet sie einen nichts zu überbietenden Gegensatz zwischen dem tausendjährigen Urwald und dem Großstadt-Trubel einer Weltstadt, die heute über vier Millionen Einwohner zählt.

Kaum ein Ort spiegelt die Widersprüchlichkeit zwischen Urwald und Großstadt besser wider als das Theater Amazonas.

Vor der tropischen Kulisse des Urwalds thront dieses mächtige Opernhaus mitten im Zentrum von Manaus, als wäre es von seinem Erbauer an einem völlig falschen Ort gesetzt worden.

Das Theater Amazonas ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Kautschukbooms, als Geld überhaupt keine Rolle spielte und man zur Uraufführung irgend eines italienischen Opern – Klassikers den seinerzeit größten Sänger der Welt – Enrico Caruso – mitten in den Dschungel holte, damit er auf der Bühne der Dschungeloper von Manaus seine Arien schmettern konnte.

Filme

Die Geschichte dieses Opernhauses hat immer wieder Filmemacher und Schriftsteller inspiriert.

Am bekanntesten ist wohl der Film Fitzcarraldo von dem Regisseur Werner Herzog, der seinen besten Freund und größten Feind Klaus Kinski dazu bewog, hier die Hauptrolle zu übernehmen.

1982 wurde Fitzcarraldo verfilmt und wenig später ein Welterfolg.

In dieser exotischen Stadt landeten unsere drei Abenteurer abends, nachdem sie unfreiwillig von dem Urwald-Städtchen Tabatinga abfliegen mussten, um dort nicht einen weiteren Teil ihres Lebens zu verbringen.

Erinnerungen

Unser kleines weißhaariges Männchen kannte Manaus noch sehr gut.

Allerdings so, wie sich diese Stadt vor gut sechzig Jahren präsentierte, als er mit seinem kleinen Boot von dort aus in viele kleine und größere Nebenflüsse schipperte, um Sachen zu kaufen und zu tauschen, die in Europa begehrt waren.

Es hatte sich inzwischen in Manaus sehr viel geändert.

Aber Gott sei Dank war das eigentliche, traditionelle und kleine Zentrum am Hafen noch genauso wie vor vielen Jahrzehnten.

Die gesamte Innenstadt war inzwischen zur Museumsstadt umfunktioniert worden.

Es gab keine Genehmigungen, dort neue große Häuser zu bauen und somit war dieser Teil von Manaus im Prinzip noch so, wie er es von sehr viel früher her kannte.

Und in der Mitte dieser Altstadt am Hafen war nach wie vor das Opernhaus.

Zeit

Die drei hatten durch die Tatsache, dass sie die Schiffsreise nach Manaus nicht durchführen konnten, jetzt einige Tage mehr in Manaus als ursprünglich geplant.

Das sollte sich im Nachhinein als Glücksfall herausstellen.

Sie hatten Gelegenheit, viele alte und neue Teile der Riesenstadt im Urwald kennenzulernen.

Und abends waren sie dort, wo jeder hingehen der sich für so eine Stadt interessierte – am großen Platz vor dem Opernhaus.

Kultur

Die Kulturbehörde der Stadt weiß natürlich um die Attraktivität dieses Hauses und sie hatte ein sehr schönes Programm vorbereitet.

Jeden Abend gab es unterschiedliche Veranstaltungen.

Klassische Musik, Ballett, moderne Musik, Oper und Theater – alles, was im Bereich Kultur möglich war, wurde in diesem Theater angeboten.

Und da die Bevölkerung in Manaus zum großen Teil immer noch sehr arm ist, hatten alle Brasilianer jeden Abend freien Eintritt, sofern sie auf die vier großen Rängen rund um die Bühne Platz nehmen wollten.

Für die mit edlem Stoff bezogenen Sitze im Parkett wurde eine kleine Gebühr erhoben, und so war das Theater praktisch jeden Abend ziemlich ausverkauft.

Schock

Unsere kleine Gruppe genoss diesen unerwarteten Kulturschock.

Rückblickend kann man nur sagen, dass es ein Glücksfall war, dass sie die vier Tage nicht auf einem monoton dahin plätschernden Frachter auf dem Amazonas, sondern in einer exotischen Stadt direkt im Herzen Amazonien verbringen durften.

Aufgelaufen

Wochen später recherchierte der Opa im Internet und fand heraus, dass der Dampfer, der statt in Tabatinga an diesem Tag anscheinend in Manaus den Hafen verließ, zwei Tage später in Tefe, einer anderen kleinen Hafenstadt am Amazonas, stecken blieb.

Das Niedrigwasser war zu stark.

Er lief auf Grund und wurde zwei Tage lang von dortigen kleinen Fischerbooten und sonstigen Helfern freigeschaufelt, um dann irgendwann später seine Reise fortsetzen zu können.

Wäre so etwas passiert, während unsere drei an Bord waren – der letzte Teil der Reise wäre anders und mit Sicherheit nicht so schön verlaufen, wie sie es jetzt erleben durften.

Weiter

Nach einer kurzen, aber intensiven und wunderschönen Woche endete der Besuch in dieser aufregenden Stadt.

Irgendwann morgens um 2:00 Uhr sollte für unsere 3 Amazonas-Spezialisten der Rückflug von Manaus in die Zivilisation stattfinden.

Nachtflug

Wenn man irgendwann in der Nacht zwischen 2:00 und 3:00 Uhr morgens ein Flugzeug betritt um die nächsten 5-6 Stunden darin auszuharren, dann gibt es über solche Reisen nicht viel zu berichten.

Die drei Abenteurer schliefen die nächsten Stunden.

Für die beiden Senioren sollte in Punta Cana das Ende dieses Ausflugs sein.

Die hoffnungsvolle Enkelin durfte sich auf einen Rückflug am gleichen Tag abends mit der Condor von Punta Cana nach Deutschland freuen – ihr Platz in der Business Klasse war gebucht und sie hatte die Annehmlichkeiten eines solchen Flugs in dieser Luxusklasse schon auf dem Hinflug nach Cancun in vollen Zügen erleben können.

Der Abschied von den Großeltern war kurz und herzlich.

Die letzten Stunden dieses Abenteuers sollten dann auch noch der letzte Höhepunkt für die Enkelin werden.

Halbschlaf

Die Durchsage hörte die hübsche Enkelin im Halbschlaf.

Mit der einen Hälfte ihrer Gedanken war sie noch im tropischen Brasilien und in dieser wundersamen Stadt Manaus.

Mit der anderen Hälfte des bestens entwickelten Gehirns räumte sie bereits in ihrem Zimmer in ihrer Wohnung in Berlin die Sachen aus dem Koffer und beendete damit endgültig diese exotische Reise zu den Wundern der Vergangenheit.

Aufgeweckt wurde sie durch ein Geräusch, das sich zuerst wie eine Art Gewitter anhörte.

Es entwickelte sich in diesem großen Flugzeug ganz schnell von ganz hinten nach vorne.
Es war erst eine Art von leichtem Grummeln, dann wurde es ganz schnell immer stärker und endete in einem allgemeinen Aufschrei.

Voll bis auf den letzten Platz waren die 290 Menschen in diesem Flieger bereit, die nächsten 9-10 Stunden auszuharren, um dann in Deutschland wieder frische kalte Luft zu genießen.

Der Unterschied zwischen ausharren und genießen war auch innerhalb des Fliegers spürbar.

270 Urlauber der Dominikanischen Republik saßen eng an eng, warteten auf die obligatorische Frage, ob man Hühnchen oder Pasta bevorzugt und hofften trotzdem auf eine kleine Mütze Schlaf in der Nacht.

Den wenigen Menschen, die ganz vorne saßen und die gepflegte Businessklasse der Condor genossen, war die Durchsage im Prinzip egal.

Sie hatten es sich schön bequem gemacht, lagen teilweise bereits in den zu Betten umgebauten großen Schlafsitzen oder warteten darauf, mit einem kalten Schluck Champagner in den Schlaf geschickt zu werden.

Sorry

Und jetzt dieses Grollen von immer lauter werdenden Stimmen, vom hinteren Teil des Fliegers ausgehend und ganz schnell durch das ganze Flugzeug bis fast nach ganz vorne verlaufend.

Es war im Prinzip nichts weiter als die Reaktion auf eine Ankündigung des Piloten.

Er teile routiniert und freundlich mit, dass man bei den Startvorbereitungen einige kleine Anzeigen im Cockpit bekommen hätte, die dazu führten, dass sie noch einige weitere Kontrollen am Motor und im Cockpit durchführen müssen.

Wie lange es hier noch auf dem Flugfeld noch dauern würde, konnte er leider nicht sagen.

Er würde sich aber zu gegebener Zeiten selbstverständlich mit aktuellen Informationen bei den lieben Passagieren melden.

Die Enkelin befand sich zu diesem Zeitpunkt wieder in Gedanken im großen Theatersaal im Opernhaus in Manaus, hörte einige ihrer Lieblingsstücke und schwebte damit langsam dem Dämmerschlaf entgegen.

Frisch

Wenn man 2 Stunden geschlafen hat und dann aufwacht, ist man richtig frisch. Jedenfalls für die nächsten paar Minuten.

Und als nach ihrem Business-Schläfchen die nächste Durchsage vom Cockpit kam, lauschte sie dieser Durchsage bei klarem und vollem Bewusstsein.

Diese Durchsage hatte es in sich.

Sie war so geschickt aufgesetzt, dass der Pilot seine Mitteilung sogar bis zum Ende durchsagen konnte, ohne von einem Sturm der Passagiere unterbrochen zu werden.

Durchsage

Sie lautete ungefähr wie folgt

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Reisende, liebe Kinder – das war die Standard Ansage dieser Fluggesellschaft seit vielen Jahren.

Hier spricht Ihr Kapitän.

Ich habe zwei Nachrichten für Sie.
Sie können entscheiden, ob sie sie für gut oder weniger gut erhalten, ändern kann ich sie jedoch nicht.

Die Prüfung unserer Startvorbereitungen hat ergeben, dass wir bereits drei der Probleme beseitigen konnten.

An dem vierten und letzten Problem arbeiten die Techniker draußen noch und ich gehe davon aus, dass es innerhalb der nächsten Stunde auch gelöst werden kann.

Sie sind dann bereits 3 Stunden in diesem schönen Flugzeug.

Leider dürfen wir Sie aus Sicherheitsgründen nicht zurück ins Terminal bringen – es sei denn, wir entscheiden uns, unseren Flug abzubrechen und morgen Abend wieder neu zu starten.

Wir haben uns entschieden, dies nicht zu tun.

Wir wissen aus Erfahrung, dass das plötzliche Einchecken von fast dreihundert Menschen in verschiedenen Hotels auch in Punta Cana ein Problem sein wird.

Wir müssten sie verteilen, wieder einsammeln und alles organisieren, wozu wir als Piloten und Crewbesatzung leider nicht ausgebildet und somit nicht in der Lage sind.

Sie wissen von ihrem Flugticket, dass die Flugzeit von Punta Cana nach Frankfurt normalerweise ungefähr 9 Stunden beträgt.

Leider haben wir über dem Atlantik sehr starken Gegenwind, so dass wir bereits bei unseren ersten Flugberechnungen vor 3 Stunden mit einer Flugzeit von 10 Stunden und 35 Minuten rechnen.

Wir sind eine deutsche Fluggesellschaft und unterliegen den deutschen Sicherheitsgesetzen.

Diese sagen ganz klar, dass zur Sicherheit der Passagiere die Arbeitszeit einer Flugbesatzung – egal ob in der Kabine oder im Cockpit – nicht länger als 11 Stunden dauern darf.

Wir haben jetzt bereits 3 Stunden Verspätung und wenn wir demnächst starten, haben Cockpit und Crew noch maximal 8 Stunden Arbeitszeit.

Wir können schwer mitten über dem Atlantik von einer anderen Crew abgelöst werden.

Es gibt auch keine zweite Crew hier in Punta Cana, die jetzt noch bei uns mitfliegen könnte.

Wir haben also nur die Alternative, entweder alles abzubrechen oder in einer völlig neuen Route nach Europa zu fliegen.

Nur so können wir den ersten europäischen Flughafen noch wenige Minuten erreichen, bevor unsere Arbeitszeit beendet werden muss.

Positiv

Dieser erste Teil der Rede war so positiv vom Piloten gestaltet, dass die Passagiere interessiert zuhörten, ohne dass sie sich vorstellen konnten, wie denn nun das Ende der Geschichte sein würde.

Änderung

Das änderte sich umgehend, als der Pilot weiter sprach und die Passagiere wie folgt informierte:

Wir werden, wie schon gesagt, eine völlig andere Route fliegen.

Richtung Norden – fast bis zum Nordpol.

Dort sind die Windbedingungen für uns so günstig, dass wir dann vom Nordpol noch den ersten europäischen Flughafen erreichen können.

Es ist der Flughafen Reykjavík, der Hauptstadt von Island.

Dann machte er eine längere Pause, um den Aufschrei der gesamten Passagiere abzuwarten und über sich ergehen zu lassen.

Als es endlich wieder etwas ruhiger wurde, kam er zum Ende seiner Durchsage.

Er informierte die Passagiere, dass in Kürze eine zweite Besatzung von Frankfurt nach Island fliegen wird.

Sie würde dann dort auf unseren Flieger warten.

Die Crew und die Besatzung dieses Flugzeugs würden in Island diesen Flieger verlassen und mit einer neuen Crew würde man dann den Rest der Strecke – also weitere ungefähr dreieinhalb Stunden – von Island nach Frankfurt fliegen.

Nur auf diese Art und Weise sei es möglich, dass alle noch wohlbehalten am nächsten Tag in Deutschland ankommen können.

Dann machte er schnell das Mikro aus und überließ den mühsam lächelnden Flugbegleitern den Rest.

Erfahrung

Unsere Enkelin war im Laufe ihres inzwischen achtzehnjährigen Lebens mit ihren Großeltern schon so oft in den verschiedenen Teilen der Welt gewesen, dass sie das Fliegen als anstrengende, manchmal langweilige aber fast immer nützliche Art der Fortbewegung akzeptierte.

Sie hatte in ihrer kleinen Suite in ihrer Luxusklasse keine Nachbarn und bereitete sich somit auf ihren dritten Flug nach Island vor.

Sie war vor einigen Jahren schon zweimal dort gewesen.
Ihre Großeltern hatten Familie in Island und sie selbst war zu der Zeit eine sehr ambitionierte Reiterin.

Beides zusammen ergab das Ferienziel Island mehr oder weniger von allein.

Kurz bevor sie endgültig einschlief, fragte sie sich noch, wie viele Menschen auf dieser Welt bisher einmal einen Direktflug vom brasilianischen Manaus nach Island erlebt haben.

Sie beantwortete sich die Frage selbst, indem sie sagte, wahrscheinlich nur Nanda Lili Marleen, die hier ganz bequem sitzt und alles genießt.

Nordisch

Nach einem ausgiebigen First Class Frühstück über Nord-Grönland landete die Maschine dann auch wenige Minuten vor dem endgültigen Dienstende der Crew in Reykjavík, der Hauptstadt von Island.

Crew-Wechsel, Auftanken und alles was sonst noch dazugehört – es dauerte seine Zeit im kalten Norden.

Aber irgendwann flog man wieder los, als letztes Stück dieser ungewöhnlichen Reise.

Nach knapp 4 Stunden landeten alle in Frankfurt.

Zweihundertsechzig Menschen total verspannt, gerädert und völlig fertig.
Zwanzig Menschen ruhig, glücklich und entspannt.

Meldung

Der Großvater erhielt direkt nach der Landung in Frankfurt eine lakonische Meldung:

Bin in Frankfurt. danke für die Businessklasse. Gruß und Kuss deine Enkelin.

Der allerletzte Teil dieser ungewöhnlichen Rückreise bestand laut Flugticket aus einem kurzen Flug von Frankfurt zurück ins heimatliche Berlin.

Durch die Verspätung in der Karibik, den ganzen Umweg und die Aufenthalte in Island und allem was damit zu tun hatte, kam sie statt am Vormittag jetzt abends in Frankfurt an.

Der letzte Flieger nach Berlin würde in vier oder 5 Minuten starten.

Es war unmöglich, dort noch mitfliegen zu können.

Service

Also ging sie zusammen mit den gut hundertfünfzig Passagieren, die alle von Frankfurt aus noch woanders hin weiterfliegen wollten, zum Condor – Kundenservice, um zu prüfen, wie es weitergehen würde.

Hier standen bereits hundertfünfzig aufgeregte, müde und frustrierte Menschen.

Einer nach dem anderen erfuhr, dass er sich selbst um seinen Weiterflug kümmern muss, weil er zwar die Langstrecke mit Condor gebucht hatte, aber die Strecke von seinem Heimatort nach Frankfurt hin und zurück – damit hatte Condor nichts zu tun.

Das bedeutete für die allermeisten, dass sie wohl irgendwie in Frankfurt übernachten mussten.
Außerdem mussten sie irgendwie ihr Gepäck bekommen und selber einen neuen Flug buchen – dorthin, wo sie zu Hause waren.

Die Condor Mitarbeiter, die abends an diesen Schaltern Dienst haben, gehören zu den erfahrensten Kundenberatern der ganzen Luftfahrtindustrie.

Sie leben in einer permanenten Zone der Beschimpfung, Bedrohung, Verzweiflung und das ganze hat mit Urlaub und dem fröhlichen Image dieser Luftfahrtgesellschaft überhaupt nichts mehr zu tun.

Schalter

Daneben gab es aber noch einen kleinen Schalter, wo nur drei oder vier Leute warteten.

Er war speziell für die Passagiere der Businessklasse aufgemacht und eine ältere Dame, die jahrzehntelange Erfahrung hatte, kümmerte sich freundlich um die wenigen Passagiere, die jetzt mit ihr zu tun hatten.

Die Enkelin zeigte ihr Flugticket.

Die freundliche ältere Dame bediente ihren Computer und wenige Momente später hatte sie das Ergebnis ausgedruckt.

Hier, bitteschön, sagte sie, ist ihr Gutschein für eine Suite im Frankfurter Flughafen Hotel.

Alles inklusive.

Sie werden jetzt dorthin gebracht, um ihr Gepäck kümmern wir uns natürlich und dann werden sie morgen früh abgeholt und zu Ihrem neuen Flug nach Berlin gebracht.

Augenwinkel

Unsere frisch und ausgeschlafene Enkelin sah aus den Augenwinkeln nach links auf die Schlange der Verzweiflung.

Es ist manchmal schwer, Schadenfreude zu unterdrücken.

Berlin

Am nächsten Vormittag war sie in Berlin – und Mexiko, der Amazonas und Island samt allem was davon übrig geblieben war – es war Vergangenheit.

Sie war jung, hatte das Leben vor sich, hoffte auf eine kleine und glückliche Schar von Kindern und später von Enkelkindern.

Sie wusste, dass sie für alle etwas hatte, was sie der nächsten und übernächsten Generation erzählen konnte.

Und dafür war sie dankbar.

Epilog

Am Strand

Die Reise der drei Freunde liegt jetzt einige Monate zurück.

Der weißhaarige Opa ging nach seiner Rückkehr weiterhin jeden Morgen in aller Frühe zwischen 6:00 und 8:00 Uhr seine 10 Kilometer am wunderschönen weißen karibischen Strand spazieren.

Und langsam bildete sich bei ihm dabei das Konzept für diesen kleinen Bericht heraus.

Er hatte zuerst versucht, das ganze so unpersönlich wie möglich zu schreiben.

Aber das war keine gute Idee.

Damit warf er dann aber auch seinen vor vielen Jahren aufgestellten Grundsatz über den Haufen, der da lautete, dass er über alles in seinem bunten Leben berichten kann – aber in einer Form, so unpersönlich wie möglich.

Leidvoll

Er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass die Reise-Erzählungen seiner Freunde, seiner Familie und seiner Bekannten unwiderruflich die Tendenz zur Langatmigkeit hatten.

Sie ermüdeten und erfreuten am Ende nur noch denjenigen, der jetzt Gelegenheit hatten, endlich einmal in aller Ausführlichkeit alles zu erzählen, was er irgendwann irgendwo mal erlebt hatte.

Am Ende war der Erzähler der Geschichte der Einzige, der an einem solchen Abend ausschweifender Monologe zu später Stunde noch wach war.

Das hatte er also jetzt beiseite geschoben – um das zu erzählen, was er für berichtenswert ansah – berichtenswert in seiner persönlichen Art, etwas zu erzählen.

Aber so ganz glücklich war er noch nicht.

Sprüche

Er versuchte mit den ihm gegebenen Möglichkeiten in den verschiedensten Variationen einen Bogen zu spannen von dieser kleinen Reise-Erzählung hin zu der Tatsache, dass er in Kürze seinen achtzigsten Geburtstag wird über sich ergehen lassen müssen.

Der einzige Trost bei diesem Gedanken war der Spruch, den er sich selbst aufgeschrieben hatte, nachdem er die ersten seiner vielen kleinen und manchmal auch etwas größeren Geschichten zu Papier gebracht hatte.

Der Spruch war kurz, ehrlich und traf auf ihn zu wie die Faust aufs Auge.

Er lautete:

Jetzt bist du alt genug, um alles zweimal zu erzählen.

Abgeleitet war dieser Gedanke von einem Kalender-Spruch, der für den achtzigsten Geburtstag meinte:

Jetzt bist du alt genug, um es besser zu wissen.
Und jung genug, um es trotzdem zu tun.

Der Bogen

Er schloss leicht die Augen, ließ die Ereignisse der letzten Monate noch einmal in Gedanken Revue passieren und fand dann endlich auch den großen Bogen.

Sein gesamtes Leben war ein Auf und Ab.

Eins davon – egal ob Auf oder Ab – war meistens etwas größer als das andere, aber anstrengend und schön waren sie alle beide.

Offensichtlich hing alles miteinander zusammen.

Erfolg im Beruf brachte oftmals Misserfolg im Privaten, und umgekehrt.
Ausschweifende Erzählungen bewirkten größere Veränderungen.
Kurze Sätze bewirken oftmals noch viel mehr.

Macho

Er selbst bemühte sich nach wie vor, der letzte Macho Norddeutschlands und der östlichen Karibik zu sein.

Sein Vorbild war hier viele Jahre lang der gute Gunter Sachs.

Als dieser letzte Playboy den Entschluss fasste, sich an seinem achtzigsten Geburtstag mit seinem Gewehr an seinen Schreibtisch zu erschießen, traf das nicht nur seine letzte Fangemeinde, sondern auch unseren heimlichen weißhaarigen Bewunderer sehr tief.

Die beiden hatten, ohne dass sie sich jemals auf normale Weise kennengelernt hatten, recht viel gemeinsam.

Im Sommer wohnten sie vor vielen Jahrzehnten nur ein Dorf entfernt.

Unser Opa als Jugendlicher mit seiner Familie auf einem Bauernhof in Keitum auf Sylt

Der gute Gunter ein Dorf weiter in Kampen.

Um dort meist zwischen Go-Gärtchen und Kupferkanne hin und her zu pendeln.

Auf dem Bauernhof in Keitum gab es hinter dem Pferdestall ein uraltes Piano.

Außerdem ein Trecker mit einem leeren flachen Anhänger, der als Milchwagen diente.

Zusammen mit den Jungs vom Bauernhof schafften sie es, dieses Piano auf den Anhänger zu heben.

Und dann fuhr man fast jede Nacht gemütlich die paar Kilometer durch die Sylter Heide bis vor die Kupferkanne.

Das war seinerzeit eine Künstlerhöhle mitten unter der Kampener Heide, wo die bekanntesten und skurrilen Menschen aus aller Herren Länder jede Nacht durchfeierten.

Es gab jedes Mal ein kleines Ständchen, wenn unser damals noch sehr junger Opa zusammen mit seinen Bauern-Freunden, dem Trecker und dem Piano-Milchwagen dort ankamen.

Gunter konnte recht gut Klavier spielen und einige andere Leute hatten auch irgendwelche Instrumente dabei, um in dieser berühmtesten Erdhöhle Deutschland die Musik zu machen, nach der man die ganze Nacht hindurch tanzen konnte – bis die Sonne über dem Watt wieder aufging.

Brigit

Irgendwann entschloss sich Gunter, nicht mehr kiloweise rote Rosen aus dem Flugzeug auf das Anwesen seiner geliebten Brigit Bardot runter zu schmeißen – was sie gar nicht gut fand.

Eine ihrer unzähligen Trennungen stand bald wieder auf der Tagesordnung.

Brigit Bardot hatte aber auch für unseren Opa eine nicht unerhebliche Nebenwirkung.

Wann immer sie sich mit neuen Pelzmänteln zu irgendwelchen Film – oder sonstigen Festivals zeigte, wollte die Schar ihrer weiblichen Bewunderer und Neider genau so einen Pelzmantel ebenfalls von ihrem eigenen Playboy geschenkt bekommen.

Also wurde der Opa wieder in den südamerikanischen Dschungel geschickt, um genau das zu besorgen, was Brigit Bardot auf dem letzten Festival oder in ihrem letzten Film gezeigt und getragen hatte.

Alternativen

Heute ist Brigit Bardot eine erklärte Pelzgegnerin.

Als sie sich damals in einer recht theatralischen Weise zur obersten Tierschützerin erklärte, war auch für unseren jungen Opa die Zeit der Pelze endgültig vorbei.

Er kam zwar nicht auf die Idee, für diesen Sinneswandel die gute Brigit zu heiraten – sie hätte es wahrscheinlich bei der Hektik ihres Glamour-Lebens auch gar nicht so richtig bemerkt und mitbekommen – sondern er fand im Reich der Inkas eine viel schönere und attraktivere junge Prinzessin.

Zusammenhänge

Die Abfolge all dieser einzelnen Ereignisse zeigte dem jetzt allmählich wirklich alten weißhaarigen Männchen wieder einmal, dass es im Leben nichts gibt, was nicht irgendwie nach oben oder unten fließt.

Heute weiß der gute Opa, dass alles irgendwie miteinander zusammenhängt.

Nur dass es achtzig Jahre dauern würde, bis ein Mensch wie er die Begriffe Gut und Böse oder Oben und Unten oder Tag und Nacht so richtig begreifen und definieren konnte – diese Zeit hätte er vielleicht anders und sinnvoller nutzen können.

Aber womit?

Bevor er endgültig einschlief, beschäftigte ihn noch die Frage, warum dieser ewige Wechsel von Rauf und Runter bei vielen Menschen gleichgesetzt wird mit Gut und Böse oder Erfolg und Misserfolg.

Der Begriff

Er suchte nach einem Begriff, womit dieser ewige Wandel schlicht, einfach und neutral – aber trotzdem zutreffend beschrieben werden kann.

Als Norddeutscher, der so viele Tage, Nächte und Wochen seines Lebens am Meer – und hier besonders auch am Watt – gelebt hat, kam ihm dann endlich auch der letzte und abschließende Gedanke.

Es gibt ein Wort, mit dem dieser uralte ewige Wechsel ganz neutral und endgültig beschrieben werden kann.

Es hat zu tun mit unserem 4,5 Milliarden Jahre alten Mond und unserer ebenfalls 4,5 Milliarden alten Erde – dagegen sind die 2 Millionen Jahre unserer Menschheit ein kleiner Hauch.

Wer diesen ewigen Wechsel als Ausdruck der Beständigkeit akzeptiert und ihn gleichzeitig kurz und einfach beschreiben möchte, der hat dafür ein Wort:

die Gezeiten.

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