Hebbies Abschied

An Väterchen, mit Dank fürs Timing und für alles andere auch.

Kurzbeschreibung:

Als mein Vater 2008 starb, sollte es eine ganz normale Beerdigung geben. Da er schon vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten war, sollte ich eine kleine Abschiedsrede halten, um ihn dann auf dem Familiengrab in Hamburg Ohlsdorf zu beerdigen.

Meine Eltern waren weit über 50 Jahre verheiratet, alles war auf gut hamburgisch „normal“.

Einen Tag vor der Beerdigung erklärte meine Mutter, dass sie nicht zur Beerdigung gehen wolle.

Sie wolle ihren Hebbie nicht in irgendeiner Kiste sehen, sondern so in Erinnerung behalten, wie sie sich seit Jahrzehnten kannten. Er auf dem Sofa, seine Zeitung lesend und seine Papiere ordnend und sie daneben im Sessel beim Lesen, Stricken oder Telefonieren.

Also organisierte ich, dass genau zu dem Zeitpunkt, als ich selber in Ohlsdorf die kleine Rede auf meinen Vater hielt, das Manuskript in die Wohnung meiner Mutter gebracht wurde. Sie konnte es dann selber lesen und war auf diese Weise uns und ihrem lieben Hebbie genauso verbunden, wie sie es sich immer gewünscht hatte.

Auf diese Weise ist die Rede erhalten geblieben.

Die Enkel fragten mich danach, wann ich wieder eine Beerdigung mache, sie hätten sich manchmal gut amüsiert und wenn die nächsten Beerdigungen so seien, würden sie gerne wiederkommen.

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Liebe Freunde,

Ihr seid heute hier hergekommen, um euch von unserem Hebbie Henckell zu verabschieden.

Er war nicht gläubig und eine ganze Menge anderer Eigenschaften, über die man normalerweise leicht plaudern könnte, hatte er auch nicht – deswegen ist es nicht ganz so einfach, hier über ihn zu sprechen.

Er war zum Beispiel ziemlich unmusikalisch – ich kann mich kaum erinnern, dass wir irgendwann zusammen etwas Längeres gemeinsam gesungen haben.

Trotzdem mochte er Musik – und deshalb habe ich für ihn 2 ganz einfache und schöne Musiktitel ausgesucht, von denen ich mich erinnere, dass er sie zumindest immer mitgesummt hat – die eben gehörte Kleine Nachtmusik von Mozart war ja auch jahrzehntelang die Erkennungsmelodie im Radio für den Anfang und das Ende des Schulfunks und den hat er immer – sofern er zuhause war – sehr gerne und interessiert mitgehört.

Dann nachher das schönste Lied aus Gershwins „Porgy and Bess“- es heißt „Summertime“, und dieses Lied hat er ganz bestimmt gerne gehört, denn Ella Fitzgerald und Luis Armstrong waren die beiden einzigen Sänger, die er immer ganz schnell im Familien-Spiel „Land-Stadt-Fluss“ eingesetzt hatte, wenn wir dort zur Erschwernis des Spieles ab und zu die Spalte „Künstler oder Prominente“ eingefügt hatten.

Bevor ich euch etwas aus dem Familienleben erzähle, möchte ich aber über ein Ereignis berichten, das mich in den letzten 10 Tagen praktisch Tag und Nacht beschäftigt hat. Und zwar so intensiv, wie ich es mir zuvor nie habe vorstellen können:

Vor 18 Jahren erzählte mir Nelly eines Morgens, dass sie in der Nacht geträumt hatte, ihr Vater sei in seiner Heimat in Chile gestorben.

Bevor ich das in meiner dann stets leicht arroganten Art und Weise mit irgendwelchen Kommentaren über ihre Kirche und ihre typisch weiblich, leicht überkandidelte Art und Weise kommentieren konnte, klingelte das Telefon und eine der Schwestern aus Chile meldete ihr aufgelöst und weinend, dass ihr Vater heute Nacht gestorben sei.

Ich selber habe die ganzen folgenden Jahre geglaubt, dass Nelly in dieser Nacht bereits vorher einen Anruf aus Chile erhalten hatte und dass das Ganze dann eine Vermischung von Realität und Emotion gewesen war.

Heute vor 12 Tagen war ich mit Nelly und unserer kleinen Enkeltochter in der Karibik, genauer gesagt in der Dominikanischen Republik.

Dort haben wir uns in den letzten 15 Jahren ein zweites Zuhause aufgebaut, unsere Tochter Aylin wohnt dort seit vielen Jahren und wir fühlen uns auf dieser kleinen Insel alle wirklich sehr wohl.

Am Morgen dieses Tages vor knapp 2 Wochen erzählte ich Nelly, dass ich in der Nacht plötzlich von meinem Vater geträumt hatte – und zwar ganz intensiv.

Ich war am Vossberg, auf dem Gelände des HTHC, und dort sah ich, dass auf dem Rasen ein Hockeyspiel stattfand, an deren Spieler ich mich aber nicht mehr erinnerte.

Auf der großen Besuchertribüne stand ganz alleine mein Vater – ungefähr so alt wie er jetzt war, in seinem alten, dunkelbeigen Stoffmantel, mit dicker Brille und mit einem praktisch regungslosen Blick.

Ich muss von meinem eigenen Traum ziemlich erschrocken gewesen sein, denn ich kann mich nicht erinnern, in den letzten 10 Jahren von meinem Vater geträumt zu haben.

Er stand dort und sah weder dem Spiel zu noch mich an, er sah irgendwie über alles hinweg oder durch alles hindurch – es war aber ein ganz intensiver Blick, nicht fordernd oder mahnend oder strafend, auch nicht abwesend oder verträumt.

Sein Blick war auch nicht irgendwie freundlich oder zärtlich oder lächelnd oder verschmitzt – es war einfach nur ein ganz intensiver Blick, klar und ruhig.

Es war, wie ich jetzt glaube zu wissen, einfach der Versuch, noch einmal mit mir in Verbindung zu treten.

Er hat nichts gesagt, ich auch nicht.

Und es gab auch keinerlei sonstige Handlung in diesem Traum – er hatte einfach nur eine Verbindung aufgebaut und das hatte geklappt – wir waren so für diesen kleinen Moment im Traum auf seltsame Weise noch einmal zusammengetroffen.

Es muss dies, dem Kalender nach, der Tag gewesen sein, an dem er hier in Hamburg ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Er wusste, dass es nunmehr einen Abschied geben würde, und er hat mich dort genauso über zehntausend Kilometer Entfernung erreicht, wie es der Vater meiner Frau viele Jahre vorher geschafft hatte, sich von seiner Tochter in Deutschland per Gedanken zu verabschieden.

So, wer mich kennt, weiß, dass ich gerne und mit viel Spaß an Worten und Begriffen arbeite oder herumspiele oder, wie meine Mutter es einfacher sagt: Ich spinne gerne – und das habe ich eben von ihr und ihrem Vater aus Mölln.

Aber wer mich kennt weiß auch, dass es hier eine sehr feine Grenze gibt, die ich niemals überschreiten würde. Deswegen ist das, was ich eben über die Begegnungen mit unseren verstorbenen Vätern erzählt habe, einfach passiert, es ist genauso unerklärlich wie es wahr ist.

Damit habe ich jetzt aber auch gleichzeitig schon fast den gesamten Komplex, der sich mit Glaube und Hoffnung befasst, abgearbeitet.

Es bleibt die Realität – und da kann doch so einiges mehr über Vatern gesagt werden.

Natürlich berichte ich aus der Perspektive des Sohnes, des berühmt-berüchtigten Erstgeborenen, an dem alle die vielen erfreulichen und missglückten Versuche stattfanden, die sich um die Erziehung eines Nachkriegskindes rankten.

Die frühesten Erinnerungen an meinen Vater habe ich in Verbindung mit seinem damaligen Hobby, dem Autofahren.

Als einer der allerersten Mitglieder des ADAC fuhr er begeistert Gelände-Rallyes aller Arten mit.

Im Volkswagen, Modell Käfer der ersten Baureihe, hatte ich als 2- oder 3-jähriger genügend Platz, um während solcher Auto-Rallyes hinter dem Rücksitz in der Mulde der Hutablage nächtelang zu schlafen.

Es gab Nachtfahrten, Geländefahrten, Zielfahrten – die oftmals für mich als ganz kleinen Jungen überhaupt kein Ziel hatten – und es wurde diese Art von Fahrten überwiegend zu zweit gefahren: Vatern am Steuer und am Suchscheinwerfer, der bei allen Autos irgendwo an der Windschutzscheibe angeklebt war – Muttern als perfekte Beifahrerin, denn sie konnte stundenlang schweigen und wenn sie irgendwann mal gefragt wurde, wo wir denn gerade waren, sagte sie ihren Standard-Satz: „Ich habe keine Ahnung. Ich denke, Du bist der Fahrer und wohnen tun wir übrigens, soweit ich mich erinnere, irgendwo in Hamburg…„ Und dann ging Vatern weiter auf die Pirsch nach dem nächsten Kontrollpunkt seiner nächtlichen Auto-Rallye.

Nachdem ich so einige Jahre in der Hutablage verbracht hatte und mein 3 Jahre jüngerer Bruder auch so alt war, dass er ebenfalls mit in die Hutablage gesteckt werden konnte, streikte meine Mutter irgendwann und diese Nacht- und Geländefahrten wurden eingestellt.

Als krönenden Abschluss gönnte mein Vater sich dann noch einmal zusammen mit dem bekannten Rennfahrer Löffler die Teilnahme an der Rallye Monte Carlo – ich habe es erst später an dem Medaillen-Gürtel erkannt, den sich die Autofahrer seinerzeit vorne auf die Motorhaube schnallten und der dann noch jahrelang bei uns im Wohnzimmer an der Wand hing.

Es war die größte Rallye meines Vaters und es gab dafür seltsamerweise die kleinste aller Medaillen.

Diese Erkenntnis, dass es für den größten Aufwand meistens nur den geringsten Erfolg gab, war eine wichtige Erkenntnis sowohl für meinen Vater als auch für uns Familienmitglieder.

Da er mathematisch hochbegabt war, hatte er schon sehr bald den Umkehrschluss dieser Feststellung erkannt und dies sollte dann auch jahrzehntelang seine Lebensdevise sein – nämlich mit dem geringsten Aufwand den größten Erfolg zu erzielen.

Als Kind merkte ich es an verschiedenen kleinen, aber dennoch prägenden Erlebnissen.

Es wurde sehr viel gelesen bei uns – in den fünfziger Jahren gab es kein Fernsehen und Radio wurde meistens nur zur Sportübertragung und am Sonnabendabend für die Familien-Quiz-Sendungen gehört.

Da waren dann Just Scheu, Peter Frankenfeld und Heinz Ehrhard, aber auch Chris Howland und Dr. Walter von Holander die Personen, die es schafften, dass wir am Wochenende mehrere Stunden konzentriert Radio hörten.

Ganz besonders gefiel uns allen Herbert Zimmermann, nicht nur weil er den Fußballsieg über Ungarn zu uns brachte, er war auch ein sehr guter Hockey-Reporter und Vatern hatte verschiedene Male Fachgespräche mit ihm am Voßberg, wenn dort in Auszügen über die Hockeyspiele der ersten Damen oder Herren des HTHC im Radio berichtet wurde.

Ich musste manchmal ganz schnell mit dem Fahrrad vom Vossberg nach Hause in die Bellevue fahren, um stolz eine Hockey-Übertragung vom Vossberg zu Hause anzukündigen.

Gelesen wurde die schöne gutbürgerliche Literatur von Tucholsky über Kästner, etwas Krieg und Frieden, ein bisschen Satre und weil er bei Großvater 2 Meter breit im Regal stand, auch mal eine Prise Schopenhauer.

Mit minimalem Aufwand schaffte mein Vater es dann, mir den Unterschied von Richtig und Falsch im ersten jugendlichen Alter ein für alle Mal klar zu machen:

Ich stibitzte mir leihweise aus dem Wohnzimmer den großartigen Roman-Schinken „Exodus“ und begann ihn eine Woche lang nachts unter der Bettdecke mit der Taschenlampe zu lesen. Immer nur ein Kapitel, dann bekam ich keine Luft mehr.

Also verdunkelte ich das Kinderzimmer mit Mutterns besten, neuen, echten Nylonstrümpfen, die ließen, über die Nachtisch-Kerzenlampe gestülpt, gerade noch so viel Licht durch, dass man vernünftig lesen konnte.

Da wir zu dieser Zeit in der Schule noch keinen Chemieunterricht hatten, wusste ich nichts von der Wirkung, wenn Nylon anfing zu schmelzen, um dann stinkend auf Kopfkissen, Bettdecke und Pyjama zu fließen.

Ich hatte in weiser Voraussicht und in Anbetracht der Dicke des Buches gleich mehrere Pakete feinster Strümpfe vom Eltern-Schlafzimmer in unser Kinderzimmer verschleppt und verbrauchte dann pro Nacht genau ein Paar Nylon: einen Strumpf, bevor ich verdroschen wurde, und einen weiteren, wenn die Dresche vorbei war und Vater wieder zu seiner Zeitung ins Wohnzimmer zurückgekehrt war.

Das Ganze artete in eine Art Ritual aus – ich wurde eine Woche lang jeden Abend mit dem Stiel unseres Badeschrubbers verhauen – aber mein Vater war wie immer ganz gerecht, er hat mir niemals mehr als 3 oder 4 stramme Schläge auf den nackten Hintern verpasst.

Das tat ganz schön weh; aber irgendwie tat es ihm auch wohl selber leid, denn er kam, nachdem er seinen Sohn in dieser klaren Weise über Recht und Ordnung belehrt hatte, danach nie noch einmal ins Kinderzimmer zurück – und ich konnte mit schmerzendem Hintern das jeweilige Kapitel zu Ende lesen.

Er war sowohl langmütig als auch von kurzer Entschlossenheit.

In den ersten Jahren nach dem Krieg bekamen wir nachmittags öfter Besuch zum Tee.

Ich wurde dann in die sauberste Strickhose gesteckt und ein Onkel Adsche erschien pünktlich um Viertel nach Vier.

Ich hatte keine Ahnung, wer das war, und habe erst viele Jahre später erfahren, dass es sich um einen früheren Verlobten meiner Mutter handelte, der somit ja auch vielleicht fast irgendwie mein Vater hätte werden können.

Onkel Adsche ging dann regelmäßig um viertel vor sechs, wenn mein Vater nach Hause kam.

Ich erinnere noch eine manchmal recht unterkühlte Begrüßung zwischen diesen beiden netten Erwachsenen und mein Vater fragte mich hierbei auch häufig, ob ich den ganzen Nachmittag „vorne“ im Wohnzimmer gewesen sei- was ich immer bestätigen konnte, denn es gab bei diesen Nachmittags-Besuchen für mich richtigen Kakao und Zucker-Kekse.

Was das alles mit Onkel Adsche zu tun hatte, war mir nicht klar, bis ich eines Tages mitbekam, dass mein Vater diesen netten, etwas vergesslich wirkenden Menschen fragte, ob er nicht vielleicht irgendwann mitbekommen hätte, dass seine ehemalige Verlobte inzwischen die Frau des Herrn Henckell geworden sei.

Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass Vatern hier wirklich sehr langmütig waren.

Ganz anders und ungewöhnlich kurz entschlossen konnte er auch sein.

Hierzu zwei Beispiele aus seinen früheren und späteren Jahren:

Als ich die Lehre in einem Hamburger Kaufmannshaus beendet hatte, hätte ich damals für knapp 3 Jahre zur Bundeswehr gehen müssen.

Vatern fand das irgendwie total verlorene Zeit und fragte mich, ob ich zum Bund oder alternativ nach Südamerika gehen wollte – dort hatten wir gute Geschäftsfreunde, die sich schon vorher bereit erklärt hatten, aus mir einen einigermaßen vorzeigbaren Pampa-Gaucho zu machen.

Als ich die Bundeswehr verneinte, hatte ich nach kurzer Rücksprache mit der ärztlichen Abteilung seiner Hockey-Mannschaft innerhalb von 2 Tagen die Röntgenbilder in der Tasche, die ich dann bei der Musterung vorlegte.

Ich ging Zigarillo rauchend – das war gerade große Mode – zur Musterungs-Behörde ins Alstertal.

Man sah erst die Bilder und dann mich an, dann wieder die Bilder, und sehr ernst und ruhig gab man mir wenige Augenblicke später eine Ersatz-Wehrpass-Bescheinigung mit der Note 4 – das war schlechter als die Note 6 und sagte einfach aus, dass der Inhaber dieses Wehrpasses untauglich sei für jeden Einsatz im Kriegs- und Friedensfall.

Später erfuhr ich dann, dass diese Röntgenbilder jemandem gehörten, der in der Woche zuvor an Lungenkrebs gestorben war.

Genauso schnell und spontan wie er damals über die nächsten 3 Jahre meines Lebens entschied, war er viele Jahrzehnte später mit seinem Entschluss, uns im Jahr 2000 in unserer zweiten Heimat in der Dominikanischen Republik zu besuchen.

Wir saßen in Witzhave bei Kaffee und Zitronenschnittchen und da ich gerade mit Nelly aus der Dom. Rep. zurückgekommen war, fragte ich – mehr aus Höflichkeit – ob denn die beiden Eltern nicht auch irgendwann einmal Lust hätten, dieses kleine Paradies dort zu besuchen.

Ich hatte mit meiner Mutter vorher schon verschiedene Male über einen Besuch der Eltern in der Dom Rep gesprochen. Aber sie sagte jedes Mal nur ganz klar: „Vatern würde so etwas nie tun…“

Als ich nun einfach wieder einmal an diesem Nachmittag das Thema anschnitt, blickte Vatern ganz kurz zu Mütterlein und meinte dann nur: „Na gut, von mir aus ja, wenn Mütterlein auch Lust hat…“ Und schon war alles abgemacht.

Da mein Vater zu diesem Zeitpunkt schon etwas Demenz hatte, die sich aber nur auf das Kurzzeitgedächtnis auswirkte, sei hier eine liebe kleine Geschichte angehängt:

Als wir einige Tage im Hotel dort in der Dom Rep waren, fing er an, sowohl seine Morgenzeitung als auch seinen richtigen Kaffee und seine Tagesschau zu vermissen. Kurz gesagt wollte er nach 5 oder 6 Tagen ganz einfach, aber ganz bestimmt nach Hause.

Irgendjemand von uns hatte dann einen wunderbaren Einfall, diese etwas prekäre Situation zu retten.

Er sagte Vatern einfach: „Väterchen, Du warst doch schon zuhause – und jetzt bist Du wieder hier. Und dann nickte Vater glücklich lächelnd und meinte, dann sei ja alles in Ordnung.

Und so verbrachten wir noch eine Reihe schöner und harmonischer Tage dort in der Karibik.

Das Geschäft war sein Leben, das steht ganz einfach fest.

Da ich gut 35 Jahre mit ihm im Geschäft zusammen gearbeitet habe, davon 20 Jahre als sein Lehrling und 15 Jahre als sein Chef, könnte ich so manches hier berichten.

Keine Angst, ich werde es nicht tun – wir wollen diese Beerdigung so durchführen, wie sein Leben war und wie er es sich sicherlich gewünscht hätte: ein bisschen ernst, ein bisschen heiter, mit einer großen Portion Ordnung und ab und zu einer kleinen Prise Chaos – so habe ich ihn in all den Jahren erlebt – und so wollen wir ihn in Erinnerung behalten.

Wenn er im Laufe der Jahre im Geschäft jemanden einstellte, fragte er oftmals ganz zu Anfang des Vorstellungsgespräches: „So, nun sagen Sie mal, was sie alles nicht können…“ Das war die einfachste Art, um in kurzer Zeit so viel wie möglich aus einem Kandidaten herauszubekommen.

Wenn ich also jetzt überlege, was ER denn so zum Beispiel alles nicht konnte, so fallen mir spontan einige kleine Sachen ein: Er konnte sich zum Beispiel nicht freuen.

Da gab es die schönsten Erfolge im Geschäft oder privat – er war im Grunde genommen oft unglücklich, einfach weil er am liebsten immer das Haar in der Suppe dieses Erfolges suchte und es noch nicht gefunden hatte.

Hatte ein Kunde einen großen, lukrativen Auftrag erteilt, fing Vatern von da an zu grübeln und zu zittern – ob der Kunde nicht pleite ging, bevor er alles bezahlt haben würde.

Hatte ein Kunde wider Erwarten nur einen kleinen Auftrag gegeben, fragte er mich immer wieder, was er denn falsch gemacht hatte, weil die Bestellung doch so viel geringer ausfiel als erwartet.

Hatte ein Kunde etwas bestellt, was erst in 6 oder 9 Monaten geliefert werden sollte, schloss er alle Lieferanten, Schiffskapitäne und sonstige Verantwortlichen in sein tägliches Nachtgebet mit ein, damit kein Lager abbrenne, kein Dampfer untergehe oder keine Bank Pleite mache, bevor die vom Kunden bestellte Ware im Hamburger Hafen und dann auf unserem Lager eingetroffen sein würde.

Richtig aufgeblüht habe ich ihn gesehen, als nach dem israelischen Sechstagekrieg drei deutsche Schiffe im großen Bittersee in der Mitte des Suez-Kanals eingeschlossen waren und diese Dampfer dort geschlagene fünf Jahre warten mussten, bis sie wieder freikamen.

Wir hatten einige hundert Ballen roher Lammfelle aus Australien auf einem dieser Dampfer, und mein Vater schaffte es als einziger Hamburger Kaufmann, von den Versicherungen den gesamten Wert der Ware bis auf den letzten Pfennig ersetzt zu bekommen. Wie, weiß ich auch nicht genau, aber unser Versicherungsmakler sagte mir in späteren Jahren immer noch bei diversen Gelegenheiten, dass er es nie mit einem sorgfältigeren und penibleren Menschen zu tun gehabt hätte als Herbert Henckell, der über diese 5 Jahre Suez-Wartezeit einen ganzen Schrank voller Akten angesammelt hatte, um zu seinem Recht und zu seinem Geld zu kommen.

Was konnte er sonst nicht? Er konnte auch oftmals nicht richtig zuhören.

Wenn es Reklamationen der Kundschaft gab – und die waren früher genauso regelmäßig wie heute, nur damals war alles irgendwie noch persönlicher – wenn es also Reklamationen gab, wurde darüber am Telefon gesprochen.

Wenn mein Vater der Überzeugung war, eine Reklamation sei unbegründet und der Kunde wolle auf diese Art nur den Preis noch einmal drücken, so konnte er wirklich stundenlang auf den Kunden einreden.

Der Telefonhörer wechselte alle 20 Minuten vom linken an das rechte Ohr, aber die ansonsten sehr einseitige Unterhaltung nahm unverändert ihren Lauf.

Er konnte einfach nicht begreifen, dass der andere auch irgendwelche Argumente hatte, denn diese waren ja doch nur zum Schein herausgesucht – und das war eben nicht in Ordnung.

Als ich später das Kommando in der Firma übernahm und dabei des Öfteren einem Kunden, der auf so eine Art und Weise noch einen Sonderbonus herausholen wollte, einfach Recht gab – um mich dann in der gleichen Art und Weise bei unseren eigenen Vorlieferanten zu beschweren – gab es anfangs schon so manche Auseinandersetzungen.

Da mein Vater praktisch, mit Ausnahme einer Reise nach China 1976, nie in der Welt herumreiste, ich selber aber jedes Jahr oftmals monatelang zwischen Amazonas, China und Feuerland hin und her düste, hatte ich längst mitbekommen, dass es immer und bei jedem Geschäft noch einen Vorlieferanten gab, der eben mitbluten musste in diesem komischen Spiel – und nur wer stur auf seinem Recht bestand, hatte zum Schluss oftmals das Nachsehen.

Es war dann auch diese Art des permanent unpersönlicher werdenden Geschäftsablaufes, den mein Vater irgendwann in den 90er Jahren nicht mehr mitmachen wollte.

Vielleicht war ihm selber der Grund nicht ganz klar, aber seine alten Kunden, meistens die Inhaber kleinerer oder mittelständischer Handelshäuser und Fabriken, starben mit der Zeit oder gaben ihr Geschäft auf.

Vatern hatte jedenfalls irgendwann nicht mehr den Spaß und die Freude an dieser neuen Art der Geschäftemacherei und zog sich somit einfach mehr und mehr aus dem Geschäftsleben zurück.

Gut, ich habe also jetzt ein bisschen darüber berichtet, was er nicht war – und was war er dann also?

Ganz einfach: Er war alles das, was dann noch übrig bleibt – der ganze Katalog von schönen und guten Eigenschaften.

Er war genau, er konnte pingelig genau sein.

Dies zusammen mit seiner 150-prozentigen Ehrlichkeit brachte ihm in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Ruf ein, der ehrlichste Makler zu sein, den es in Europa in jenen Jahren in der Branche gab.

So hatten die Franzosen zum Beispiel in dieser Zeit einige Regierungen, die ihren Bürgern einfach verboten hatten, Gelder im Ausland zu haben. Die Franzosen hatten schon damals noch weniger Steuern gezahlt als die Deutschen.

Also fing Herbert Henckell an, als Privatbank der französischen Leder- und Pelzindustrie zu fungieren.

Hätten diese netten Baujolais- und Froschschenkelvertilger ihr Geld in Deutschland einfach auf eine Bank gebracht, so hätten diese deutschen Banken eine Kontrollmeldung nach Frankreich schicken müssen und unsere französischen Freunde hätten mit Sicherheit sehr viel Steuern nachzahlen müssen.

Auf die Idee, dass eine solche Bankfunktion auch ein einfacher hanseatischer Kaufmann übernehmen könnte, ist man bei den gesetzgebenden Beamten anscheinend nie gekommen – und somit war alles, was Herbert an Geldern einnahm und nach Jahren brav mit Zins und Zinseszins wieder den Eigentümern aushändigte, völlig legal.

Und von den damit verbundenen Kommissionen lebten wir recht gut in Zeiten, wo es oftmals schwer war, für die eigentliche Ware zuverlässige Lieferanten und korrekte Käufer zu finden.

Bis heute hat Herbert Henckell in Frankreich und in vielen Teilen der übrigen Welt einen Namen, der einfach mit Respekt und Hochachtung verbunden ist.

Aber ein bisschen liegt es wohl auch irgendwie im Blut eines jeden braven Geschäftsmannes, die eigene Steuer zu ärgern und zu behumpsen.

Ich rede hier bewusst von ärgern und behumpsen, denn Größeres in dieser Beziehung würde sich Herbert Henckell nie geleistet haben.

Hierzu abschließend noch zwei kleine Anekdoten:

Um einmal im Jahr mit der Familie in Sylt den gemeinsamen Sommerurlaub zu genießen, musste ein Kunde auf dieser schönen Nordsee-Insel aus dem Hut gezaubert werden, der zumindest die Reise Hamburg – Sylt und zurück als geschäftlich notwendig und somit als Betriebskosten absetzbar machen würde.

Also hatten wir Ende der Sechzigerjahre bereits einen kleinen Souvenirladen in der Friedrichstrasse in Westerland auf Sylt gefunden, dem wir regelmäßig jedes Jahr 10 Hamsterfelle lieferten. 

An sich wollte der Laden diese Felle überhaupt nicht.

Er hat sowieso nie ein einziges Fellchen davon verkauft, dementsprechend bekamen wir jedes Jahr im Herbst dann eine komplette Retoure von 10 kleinen, graubraunen Hamsterfellen.

Aber im Frühjahr begann dann brav „the same procedure as last year“ – es wurden wiederum 10 kleine, bunte Fellchen nach Westerland geschickt, im Sommer erkundigte sich Herbert Henckell persönlich gewissenhaft, ob auch noch alle da waren und ich glaube, er kaufte irgendwann sogar einmal ein Stück, damit eine gewisse Knappheit am Markt eintrete, welche den Verkauf der restlichen Felle dann nur beschleunigen würde.

Soweit zum Finanzamt, erster Teil.

Wir hatten aber in manchen Jahren schon auch das Problem, dass wir recht gut verdient hatten.

Und um hier nicht alles bis auf den letzten Pfennig dem lieben Vater Staat zu übergeben, bekam Hebbie der Kühne die waghalsige Idee, in seinem kleinen Sommerhäuschen in Witzhave eine stille Reserve anzulegen.

Uns Kindern wurde unter striktem Ehrenwort untersagt, hierüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren.

Ganz genau weiß ich deshalb auch bis heute noch nicht, was da im Einzelnen ablief.

Aber es war wohl so, dass Vatern in einer lauschigen Sommernacht auf dem Grundstück irgendwo ein tiefes Loch aushob, um dort irgendwelche Papiere zu versenken.

Es gab in den letzten 20 Jahren anlässlich verschiedenster Gelegenheiten Gespräche im engsten Familienkreis darüber, was und wo denn nun eigentlich etwas vergraben war.

Zuerst hat unser Vater dabei so intensiv und unschuldig aus dem Fenster gesehen, dass wir alle spürten, dass er dieses Thema mit absoluter Nichtachtung strafen wollte.

Dann, in späteren Jahren, lächelte er mit einem Hauch von Altersweisheit, wenn wir am Sonntagnachmittag wieder mal vom Schatz unter den Kuhfladen redeten – und dann trat seine Demenz ein.

Wir haben bis heute nichts gefunden.

Und das ist auch ein schöner Übergang, um hier zu sagen, er hat dieses kleine Geheimnis mit in sein Grab genommen.

Ich habe bisher ganz bewusst nichts von unserem Vater als Ehemann und Lebensbegleiter gesagt.

Ich finde, das ist ganz alleine Sache unserer Mutter.

Sie hat in weit über 50 Jahren gemeinsamer Ehezeit genug gehabt, sich hier ihr eigenes, privates und ganz persönliches Bild zu schaffen.

Und dabei soll es, meiner Meinung nach auch bleiben.

Es ist natürlich schade, aber in Anbetracht des Alters und der vielen Krankheiten, die sie tapfer erträgt, sicherlich auch für alle verständlich, dass sie heute bei dieser Beerdigung nicht dabei ist.

Sie hat mir klar gesagt, sie möchte von ihrem Hebbie auf ihre ganz persönliche Art Abschied nehmen, und das haben wir zu respektieren. 

Ich selber bin diesem Wunsch gefolgt, indem ich diese kleine Rede in dem Ton gehalten habe, den sie sicherlich am liebsten von mir hört.

Wir hier als Kinder, Verwandte und Freunde wollen unseren Hebbie so in Erinnerung behalten, wie er sich uns ein Leben lang gezeigt hat:

  • als gütiger, liebevoller, strenger und nachsichtiger Vater
  • als gewissenhafter, verschmitzter, bekümmerter und gelegentlich etwas
  • verschrobener, aber immer toleranter Chef
  • als jahrzehntelanger mannschaftsdienlicher Linksaußen in seiner geliebten Hockeymannschaft
  • als gewiefter Skat- und guter Bridge-Spieler
  • als jemand, der bis zuletzt im Kopf besser rechnen konnte als die Hälfte aller Freunde hier zusammen
  • und als einen der wenigen Menschen, denen man immer und zu jeder Zeit vertrauen konnte.

Er hat seine Zeit gehabt, er hat sie genutzt und wir haben nur noch eines zu sagen:

Danke.

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