Island – die Zweite

Eine kleine Familien-Geschichte

Drei Brüder

Die drei Brüder konnten unterschiedlicher nicht sein.

Der Älteste

Der Älteste war körperlich der größte, ansonsten ziemlich verschlossen, gelegentlich aufbrausend und herrisch, und er ließ kaum eine Gelegenheit aus, seine überdurchschnittliche Intelligenz seine Mitmenschen spüren zu lassen.

Der Mittlere

Der Mittlere der drei Brüder war etwas kleiner als normal, untersetzt und fast immer ein fröhlicher und zu jedem Spaß bereiter Kamerad. Dass auch er sehr klug war, brauchten die anderen nicht zu wissen, sie wurden es schon gewahr, wenn es denn zu seinem Vorteil war.

Der Jüngste

Der Jüngste war von Beruf Nachkömmling. Schmal, sportlich und im Kopf seinen beiden großen Brüdern in nichts nachstehend- aber er war eben 15 Jahre jünger und entsprechend konnte weder er mit seinen Brüdern noch die beiden älteren mit ihm während der gemeinsamen Jugendjahre irgendetwas anfangen.

Immerhin gab es zwei Gemeinsamkeiten, die alle drei von ihrem Vater geerbt hatten:

Sie waren von Jugend an Brillenträger und trugen den Scheitel rechts.
Die Zeiten, in denen sie ihre Jugend in Hamburg verbrachten, waren angenehm.
Dann aber kam ein Mann in ihrem Land an die Macht, der in wenigen Jahren das Heimatland zerstörte. Er begann einen Weltkrieg und die beiden älteren Brüder mussten früh zum Militär. Der Jüngste war gerade mal 18, als auch er Soldat werden musste – seine gesamten Jahre des Erwachsenwerdens waren dadurch für ihn so gut wie verloren.

Der Älteste begeisterte sich für die neue Regierung und stieg in der Hierarchie der Herrschenden auf.

Der Mittlere, der sich hauptsächlich damit beschäftigte, ein irgendwie ruhiges und angenehmes Plätzchen auf dieser Welt zu finden, schaffte es, die Kriegsjahre einigermaßen glimpflich zu durchlaufen.

Der Jüngste lernte während dieser Jahre beim Militär in einem Pionierbataillon, wie man Brücken baut und sie wieder zerstört, wie man Telefone irgendwo in irgendwelchen Kriegsgebieten aufbaut und wieder abbaut.
Er lernte die unterschiedlichsten Dinge kennen und dabei auch in einem kleinen Dorf in der Nähe von Hamburg eine reizende junge Frau.
So viel zu meinem Vater und meiner Mutter.

Der Mittlere

Unser Mittlerer, der sich erfolgreich vor größeren Kampftruppen und sonstigen unangenehmen Sachen drücken konnte, lernte ein Jahr vor Kriegsende in einem kleinen Ort in Süddeutschland eine ebenfalls ganz bezaubernde junge Frau kennen.
Zusätzlich zu ihrer Anmut und ihren immer freundlich blitzenden Augen hatte sie eine Aussprache, die jeden, der ihr zuhörte, verzückte.
Es gab und gibt in Deutschland hunderte von unterschiedlichen Dialekten. Aber diese Aussprache dieses jungen Mädchens war im wahrsten Sinne des Wortes einmalig.

Sie sprach fast fließend Deutsch, aber mit einem Singsang in der Stimme, den niemand vorher gehört hatte.

Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn sie stammte aus der nördlichsten Stadt dieser Welt.

Ganz oben im Norden, so ziemlich kurz vor dem Nordpol, liegt die große und geheimnisvolle Insel Island.

Und auf Island gibt es ganz im Norden am Ende eines langen Fjordes einen kleinen Ort mit Namen Akureyri. Und hier wurde sie geboren, ging zur Schule, lernte Deutsch und als Tochter des Bürgermeisters wurde sie dann zum Schluss ihrer Ausbildung nach Deutschland geschickt, um dort zu studieren.

Wer einmal bewusst gehört hat, wie die Isländer Deutsch sprechen, wird bestätigen, dass es einfach etwas Besonderes ist, ihnen zuzuhören.
Zumal wenn sie noch grammatisch und inhaltlich fließend diese schwere Sprache sprechen, aber eben immer mit einem nicht zu verbergenden isländischen Sing-Sang-Akzent.

Die beiden verliebten sich und nach dem Ende des schrecklichen Krieges nahm die junge Maja (so hieß sie) ihren Arnold (so hieß er) an die Hand und als Isländerin konnte sie sofort nach Kopenhagen ausreisen. Sie heirateten irgendwo irgendwann zwischendurch und kurze Zeit später begann für den fröhlichen Arnold sein neues Leben auf Island.

Er wurde dann irgendwann mein Patenonkel und gleichzeitig auch mein Lieblingsonkel.

Island – der Anfang

Als ich 1945 geboren wurde, war Arnold gerade auf dem Schiff nach Island.
Heute würde man sagen, sie waren auf der Arktischen Hochzeit, damals jedoch war es eine lange Reise in Finsternis und Kälte.

Als ich sechs oder sieben Jahre alt war und irgendwann die vielen Menschen unserer großen Familie ein bisschen unterscheiden und zuordnen konnte, war er derjenige, der zwar sehr wenig zu uns nach Hamburg kam, aber wenn er da war, dann war es ganz prima.

Die Briefmarken

Das nächste, was mich dann mit ihm und mit Island verband, waren die Briefmarken und die ersten Geschäfte, die man damals damit machen konnte.

Mein Vater war inzwischen Chef der Familien-Handelsgesellschaft, die sich ihr Geld damit verdiente, dass sie unaussprechliche Rohwaren aus noch unaussprechlicheren Ländern nach Hamburg holte, um diese dann später an irgendwelche Fabrikbesitzer in Süddeutschland, Ungarn, Schweiz, Russland oder wo auch immer zu verkaufen.
Das Büro – besser gesagt das „Kontor“ der Firma – war direkt in Hamburg am Rathausmarkt und das ganze Geschäft spielte sich normalerweise per Brief ab.

Ganz selten wurden mal Telegramme geschickt und etwas anderes, wie zum Beispiel Telex, Fax oder sonstige Kommunikation, gab es in den fünfziger und sechziger Jahren nicht.
Eines der ganz wenigen Privilegien, die ich als Ältester von drei Geschwistern hatte, war, dass ich jeden Sonnabend als Erster den Briefumschlag aufmachen durfte, den mein Vater aus dem Geschäft mitbrachte.
Mein Vater selber wusste nie genau, was da alles in dem Umschlag drin war, denn das war die Arbeit seiner Sekretärin.

Sie musste jeden Morgen die eingetroffene Post aufschlitzen und dabei die Briefmarken aller ausländischen Briefumschläge fein säuberlich mit einer Schere ausschneiden und in eine Dose tun.
Den Dosen-Inhalt dieser wöchentlichen Briefmarkenmenge bekam ich dann am Sonnabendmittag.
Ich hatte normalerweise den ganzen Nachmittag damit zu tun, die Abschnitte in dickes Seifenwasser zu legen, damit ich irgendwann die Briefmarke vom Briefpapier lösen konnte.

Dann wurden am Sonntagmorgen die Briefmarken getrocknet und am Sonntagnachmittag konnte ich dann endlich damit in den Keller unserer Villa rennen.

Das Hausmeisterehepaar

Da wohnte das Hausmeisterehepaar, sie hießen Familie Söhl.
Sie war zuständig für Wäsche und Geschirr, er für die Heizung, den Garten und die Pflege von Auto und Kindermädchen.

Sein Hobby war das Sammeln von Briefmarken.

In der Ecke des Wohnzimmers im Souterrain unserer Villa hatte er einen ganzen Schrank voller dicker Alben und kannte zumindest von den Briefmarken her wohl die allermeisten der damaligen Länder und Städte.
Was ich ihm an Ausbeute jede Woche vorlegte, waren überwiegend Briefe aus Südamerika, Australien, Indien, China und sonstigen exotischen Ländern – diese Marken hatte er selber aber schon fast alle. Und wenn nicht, dann tauschte er sie ein auf der Briefmarkenbörse, zu der er einmal die Woche in die Eckkneipe ging und wohin ich ihn gelegentlich begleiten durfte, um einen ganzen Haufen von älteren und immer dicke Zigarren rauchenden Rentnern kennenzulernen.

Aber einen Vorteil hatte ich dennoch:
Ich war wohl der einzige Mensch in ganz Hamburg, der ständig einen Nachschub an abgestempelten, aktuellen Briefmarken aus Island hervorzaubern konnte.
In dieser Zeit gab es auf Island wohl nur eine kleine Handvoll deutscher Einwohner, und deren Kommunikation war offensichtlich auch nicht besonders aufregend.

Mein Patenonkel Arnold aber schrieb gerne und viel und immer interessant und mit der Schreibmaschine und somit für die Angestellten im Geschäft gut lesbar – natürlich hauptsächlich über das Geschäft und seine Arbeit auf Island.
Über den geschäftlichen Inhalt seiner Briefe habe ich in meiner Jugend nichts mitbekommen. Aber dass diese Briefmarken aus Island alle völlig korrekt abgestempelt waren, das war in Fachkreisen schnell bekannt.

Der Höhepunkt dieser Briefmarkenepisode war, dass ich mit 10 Jahren zum Profi avancierte.
Im internationalen Briefmarkengeschäft werden unbenutzte und benutzte Briefmarken gehandelt. Die unbenutzten, also postneuen, waren überwiegend wertlos, denn sie wurden in sehr großen Mengen von irgendwelchen Händlern in irgendwelchen Ländern direkt bei der Post gekauft, und dann versuchte man damit etwas Geld zu verdienen.
Viel schwieriger und entsprechend lukrativer waren gebrauchte Briefmarken, wenn sie dazu noch alle Zacken hatten und einigermaßen erkenntlich abgestempelt waren.

Ich erinnere mich, dass unser Hausmeister mir irgendwann sagte, dass ich eine bestimmte große Briefmarke besorgen sollte, und zwar nur abgestempelt.

Sie war die Teuerste einer gerade neu aufgelegten Serie der isländischen Post und hatte einen Gegenwert von ungefähr fünf deutschen Mark.

Niemand in Island schrieb so dicke lange und schwere Briefe, dass er sie mit solchen Briefmarken hätte bekleben und abschicken müssen.

Päckchen und Post von Island zum Kontinent – also nach Europa – gab es wohl auch kaum und so waren diese größten und wertvollsten aller isländischen Briefmarken in Deutschland praktisch nur ungebraucht, also postfrisch zu bekommen.

Ich schrieb einen längeren und mit einem detaillierten Businessplan versehenen Brief an meinen lieben Onkel Arnold nach Reykjavík.

Ich schlug ihm vor, zehn Briefumschläge mit irgendwelchem Inhalt zu schicken und jeden Briefumschlag mit 10 Stück dieser 50-Kronenmarken zu frankieren.

Eine 50-Kronen-Marke kostete in Island auf der Post fünf D-Mark.

Von unserem Hausmeister hatte ich gehört, dass man so viele Briefmarken auf einen Brief kleben konnte wie man wollte – Hauptsache der Mindestwert für eine Briefsendung war in Briefmarken aufgeklebt. Wenn eine Postsendung „überfrankiert“ war, spielte das keine Rolle.

Ich versprach meinem Onkel, dass ich ihm diese 100 Briefmarken bei seinem nächsten Besuch in Deutschland erstatten würde. Ich selber konnte solche abgestempelten Marken für acht bis zehn Mark pro Stück hier über meinen Hausmeister zu Geld machen.

Es klappte alles prima.

Ich bewahrte das Geld für meinen Onkel auf und hatte so im stolzen Alter von zehn oder elf Jahren meine ersten 300 DM verdient.

Neid, Stolz und Kopfschmerzen

Das nächste, was ich mit Island in Verbindung brachte, war der Neid meiner Freunde.
Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, kam eines Tages mein lieber Onkel Arnold zusammen mit seiner Frau Maja und den beiden Töchtern Helga und Hilde, beide in Island geboren und dort aufgewachsen, nach Hamburg.
Helga und Hilde waren reizende junge Mädchen. Beide Sprachen gut Deutsch und beide in dem komischen und so nett anzuhörenden isländischen Sing-Sang-Ton.
Sie waren drei oder vier Jahre älter als ich und bei diesem Besuch wohnten sie in unserer Villa in der großen und oft leerstehenden Wohnung unseres Großvaters.
Am zweiten Abend wurde im Familienrat beratschlagt, was man jetzt mit diesen beiden jungen isländischen Küken machen sollte.

Da Arnold und seine Frau am liebsten abends mit meinen Eltern Bridge spielten, bekam ich 20 oder 30 DM in die Hand gedrückt und sollte jetzt im stolzen Alter von vielleicht 15 Jahren zum ersten Mal mit diesen beiden Teenagern auf die Piste.

Auf der Piste

Meine Kenntnisse über die entsprechenden Lokale waren irgendwo begrenzt.
Ich kannte einige Bunker in Hamburg, wo ich mit Freunden zusammen etwas Jazzmusik spielte, jede Klasse in der Schule hatte ihre Klassenband, aber ob das das Richtige für meine reizende Verwandtschaft war, bezweifelte ich ein wenig.

Ich ging mit den beiden zuerst in unseren Tennis- und Hockeyclub. Der dortige Kellner kannte das gesamte Hamburger Nachtleben sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus den Erzählungen entsprechender männlicher und weiblicher Mitglieder.

Er gab mir eine Liste der einschlägigen Lokale und wir zogen los.

Es war die Zeit der Cocktails und Liköre.

Die Gläser, die man trank, waren mit irgendwelchen grünen, blauen, rosa oder schokoladenbraunen dicken Flüssigkeiten gefüllt, meist noch mit diversen Papierhütchen, farbig markierten Strohhalmen und oftmals einem kleinen Anhänger am Glasrand, meistens in Form einer kleinen Nummer.
Diese Nummer sollte man sich merken, damit man möglichst nur aus dem Glas trank, dessen Nummer man serviert bekommen hatte.

Nach kurzer Zeit gab es keinen Unterschied mehr in den Farben und Nummern.
Die Gläser, die ich mit den beiden jungen Damen in irgendwelchen Bars in Hamburg Winterhude und Umgebung auslutschte, waren grün, rot und blau.

Als die Gläser leer waren, waren unsere Köpfe entsprechend voll mit allen Farben dieser Welt – und wie und wo ich diesen ersten Cocktailabend mit den beiden Isländerinnen bis zum Schluss verbracht habe, weiß ich bis heute nicht.
Nach drei Tagen gingen die Kopfschmerzen etwas zurück, und wir wussten wieder, wo in etwa wir uns befanden.
Ob Arnold und Maja diese Eskapaden ihrer beiden hübschen Töchter je in der gebührenden Ausführlichkeit erzählt bekommen hatten, weiß ich nicht, möchte ich aber in Anbetracht ihrer sonstigen tugendhaften Erziehung bezweifeln.
Schneehühner

Das nächste, was ich dann mit Island in Zusammenhang brachte, waren die dummen Sprüche eines Mannschaftskameraden meines Vaters.

Mein Vater spielte seit der Geburt in einem Hamburger Tennis- und Hockeyclub.
Seine Mannschaft bestand aus elf Spielern, darunter 13 Akademiker und weiteren vier oder fünf Professoren. Gemeinsam hatten sie nur das Bedürfnis, den Sonntagmittag nicht mehr nüchtern erleben zu müssen.
Morgens wurde irgendwo in Hamburg Hockey gespielt und dann ging es zum Feiern. Siege, Niederlagen oder Unentschieden zählten nicht. Hauptsache gespielt.

Man wartete im Prinzip nur auf den Moment, wo der Rechtsaußen dieser fröhlichen Mannschaft anfing, mit den Händen zur Herrentoilette zu laufen.
Dort konnte er dann in dieser etwas ungewöhnlichen Position ins Becken pinkeln ohne zu tropfen, und zur Belohnung gab’s dann wieder die nötige Menge Bier für den nächsten Versuch.

Einer dieser Mannschaftskameraden war Zahnarzt.
Die Treffen unserer Familie mit ihm waren meistens im Spätherbst.
Es kam zu dieser Jahreszeit regelmäßig ein größeres Paket aus Island, das als erstes fürchterlich stank.
Es hatte eine ca. zehntägige Schiffsreise hinter sich und dann noch ein oder zwei Wochen auf dem Hamburger Zollamt. Denn jedes Paket, das aus dem Ausland kam, musste erst mal durch den Zoll.
Mit der sogenannten Zollinhaltserklärung dieser Sendung aus Island konnten die Hamburger Zollbeamten leider nichts anfangen, denn sie bestand aus einer Reihe lateinischer Wörter.

Schneehühner im Pappkarton

Die waren aus isländischer Sicht nötig, denn es handelte sich jedes Jahr um eine größere Menge original isländischer Schneehühner.

Schneehühner sind auf Island wild lebende Hühner, relativ klein und dort eine absolute Delikatesse.
Da die Isländer beim Jagen kräftig trinken, nehmen sie aus Prinzip immer nur Schrotgewehre.
Nach dem Motto „irgendeine Kugel wird schon irgendetwas treffen“, scheuchen sie dann im dunklen und harten isländischen Winter irgendwo in den Bergen eine Gruppe von Schneehühnern hoch und ballern ab, was sie kriegen können.

Diese Hühner werden dann begutachtet, und wenn sie alle für tot erklärt worden sind, wandern sie so wie sie sind – also mit Federn, Kopf und Krallen – in einen Pappkarton.

Plastik gab es zu der Zeit in Island offensichtlich noch nicht.

Der Karton wurde mit Zeitungspapier ausgestopft, und anhand des Datums dieser Zeitungen konnten wir später in Hamburg ziemlich genau feststellen, wie lange die braven Vögel schon im Hühnerhimmel waren.
Dann musste in Island eine Exporterklärung gemacht werden und dafür waren die lateinischen Namen nötig.
Ich bin heute sicher, dass es sich gar nicht um die lateinischen, sondern nur um die isländischen Bezeichnungen für diese armen Tiere handelte, das ist aber für niemanden auf dieser Welt zu unterscheiden.
Dann kamen also irgendwann, nach vielen Tagen, die Schneehühner zu uns in die Küche.
Meine Mutter war einige Tage lang damit beschäftigt, sie zu rupfen, auszunehmen und irgendwas anderes und weiteres zu machen, worüber ich hier nicht weiter berichten will.

Wenn diese isländischen Gletscher-Gockel dann aber schlussendlich als Sonntagsbraten auf dem großen Familientisch landeten, ging das große Stöhnen und Spucken richtig los.

Eine isländische Schrotpatrone besteht offensichtlich aus vielen 100 kleinen Schrotkörnern. Diese Schrotkörner aus dem Fleisch zu lösen ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Einzig ein gut funktionierendes menschliches Gebiss ist offensichtlich in der Lage, hier am Ende das Fleisch vom Eisen zu unterscheiden.

Das Fleisch in den Bauch schlucken, die Schrotkörner auf den Tisch spucken – so ein Essen isländischer Schneehühner dauerte bei uns mehrere Stunden.

Nach einigen Jahren gab es in der Familie im Herbst familieninterne Meisterschaften im Weitspucken von Schrottkörnern, einige wurden erst Jahrzehnte später hinter der Heizung gefunden.
Obligatorisch war dann der Besuch beim freundlichen Mannschaftszahnarzt.
Gerade die Älteren am Tisch konnten nicht immer zwischen Fleischknochen und Schrotkörnern unterscheiden und verschluckten dann schon manchmal die Schrotkörner, um mit den Knochenresten der Schneehühner besorgt unseren lieben Zahnarzt aufzusuchen.

Traurig

Helga, die ältere der beiden isländischen Schwestern, war eine bildhübsche junge Frau geworden.
Sie fing an, für die neu gegründete isländische nationale Luftfahrtgesellschaft als Stewardess zu arbeiten, und da sie neben isländisch auch fliessend deutsch, englisch, französisch und dänisch sprach, wurde sie schnell eingestellt und befördert.

Mitte der Sechzigerjahre bekamen wir einen Anruf aus Island, wo uns mitgeteilt wurde, dass Helga bei einem Flugzeugabsturz in Norwegen ums Leben gekommen war.

Keiner der Passagiere und der Besatzung hat diesen Absturz überlebt.
Ich habe dann einige Jahre keinen Kontakt mehr zu meiner Familie in Island gehabt, wir alle wussten wohl nicht genau, wie wir mit diesem Schicksalsschlag fertig werden sollten oder wie man sich der Familie in Island gegenüber in so einer tragischen Angelegenheit verhält.

Fridolin

Doch das Leben geht weiter, und die nächste Geschichte ist wieder fröhlicher.
Und somit kommen wir zur Geschichte von Fridolin.
Doch zuvor muss ich ein bisschen ausholen – also hier in Kurzform:
Von Feuerland nach USA

Als ich 20 oder 21 Jahre alt war, wurde ich zur weiteren Ausbildung nach Südamerika geschickt. Über diese Zeit gibt es natürlich auch einiges zu erzählen – aber nicht heute.

Nachdem ich zwischen Feuerland und dem oberen Amazonas meine Grundausbildung als zum Teil seriöser Hamburger Kaufmann und zum Teil erfolgreicher Schmuggler und Abenteurer hinter mich gebracht hatte, sollte ich in den USA einen weiteren Einblick in das internationale Leder- und Pelzgeschäft bekommen.
Von New York aus dann wieder zurück nach Hamburg an den Schreibtisch im „Kontor“.
In New York blieb ich einige Monate und lernte dort neben dem Stadtplan nur Sachen, die man mit gutem Gewissen später in die Schublade „unvergesslich-unverkäuflich“ legen konnte.
Außerdem lernte ich meine seinerzeitige Verlobte wieder mal kurz kennen.

Regina

Kurz vor meiner Expedition nach Südamerika hatte ich mich mit einer netten Hamburgerin verlobt. Sie hieß Regina und von ihr blieben mir drei Sachen im Gedächtnis.

Abwärts

Das Erste war, dass wir eine etwas ausgedehnte Verlobungsfeier hatten.
Im Mühlenkamper Fährhaus, der ersten Adresse für Hamburgs Kommerzial-Aristokratie, war für die Familien der beiden Jungverlobten der gesamte erste Stock reserviert worden.
Die Küche dieses Nobel-Restaurants war im Keller, dafür aber gut und teuer.
Das Menü war ausgesucht und 60 bis 80 ziemlich schwarz gekleidete Mitmenschen warteten geduldig und fingen nach einiger Zeit aus lauter Langeweile an, sich die Warterei auf das große Essen mit ziemlich dummen Reden und Trinksprüchen zu vertreiben.

Nach 2 Stunden kam statt des Essens der Geschäftsführer.
Er entschuldigte sich vielmals dafür, dass die vier Kellner, die das Menü in einer Gruppe zusammen an den Tisch bringen sollten, diese ehrenwerte Truppe zusammen und komplett kurz vor Erreichen des ersten Stocks die große Treppe runtergefallen war.

Die Reste der Tablette und dessen Inhalt seien aber inzwischen wieder zusammengefegt worden.
Man fragte freundlich an, ob man die Feier am nächsten Wochenende wiederholen sollte, und der Rechtsanwalt unserer Familie, der unter den geladenen Gästen war, fing laut an zu überlegen, ob die Verlobung nun vollzogen sei oder nicht.

Tür zu

Das Zweite, an das ich mich erinnere, war, dass Regina sich nie so richtig an mich kuscheln konnte.
Ich hatte einen uralten Borgward, der Rost hielt ihn aber noch zusammen.
Dieses Auto, das es heute überhaupt nicht mehr gibt, hatte ich von meinem ersten Lehrlings-Gehalt von ich glaube 140 DM gekauft.

Ich benötigte es dringend, um jedes Wochenende zwischen Hamburg und Kassel hin und her zu pendeln.
Kassel liegt genau 304 km von Hamburg entfernt. Dort arbeitete ich als Lehrling in einer großen Gerberei und hatte auf der Rückseite des Fabrikgeländes ein kleines Zimmerchen.

Regina wollte mich natürlich als zukünftige Frau derer von Henckell so oft wie möglich nach Kassel begleiten.
Sie saß dann auf dem Beifahrersitz und hatte ein großes dickes Stück Tau krampfhaft in beiden Händen. Dieses dicke Band war nötig, denn die Türschlösser des Wagens funktionierten nicht mehr richtig, besonders die Beifahrertür ging während der Fahrt immer wieder auf.

Damit Regina zusammen mit mir einigermaßen lebend in Kassel ankommen respektive wieder zurückkommen konnte, musste sie also 304 km lang ihre Autotür mit diesem dicken Tau festhalten.
Nach der fünften oder sechsten Fahrt nach Kassel und zurück erklärte sie mir, dass sie keine Kraft mehr habe und ich in Zukunft die Beifahrertür selber halten soll, sie würde dann eben so lange in Hamburg warten.
Irgendwie war danach nicht nur das Tau im Auto, sondern auch das Band zwischen uns eingerissen.

Der letzte Knaller

Das Letzte, was ich mich dann noch von Regina erinnere, war, dass sie am Ende unserer langjährigen Fernbeziehung nach New York kam, um mir zu sagen, dass sie dazu keine Lust mehr hatte und beabsichtige, sich jetzt fürchterlich in ihren Chef zu verknallen.
Ob sie das so gemacht hat oder mit jemandem anderem geknallt hat, weiß ich nicht, sie flog alleine zurück von New York nach Hamburg und ich habe sie dann die nächsten 50 Jahre nicht mehr gesehen.
Fridolin – das Telegramm

Doch zurück zu Fridolin.

Ich sollte von New York aus zur weiteren geschäftlichen Ausbildung zurück nach Hamburg. Mein Vater hatte als vermögender und entsprechend sparsamer Chef herausgefunden, dass die günstigste Flugverbindung von New York nach Hamburg über Island mit der nationalen isländischen Luftfahrtsgesellschaft ging.
Diese Gesellschaft war gerade gegründet worden, man hatte ein paar alte viermotorige Propellerflugzeuge gekauft, die den Krieg trotz aller Stürme noch überlebt hatten und flog damit die ersten Touristen und Abenteurer über den Atlantik, immer mit einem Stopp-over in Island.

Bis dahin war das Thema Rückflug nach Hamburg für mich noch normal- dann eben über Island.
Einige Tage vor dem geplanten Abflug bekam ich ein Telegramm.
Telegramme gab es in unserer Familie nur bei mehrfachen gleichzeitigen Todesfällen oder sonstigen dringenden geschäftlichen Erfolgen.

Was mich beim Öffnen dieses Telegramms erwartete, wusste ich nicht, auf alle Fälle wohl nicht viel Gutes.
Es war jedoch von meinem lieben Onkel Arnold aus Island und der Inhalt war ziemlich kurz und lakonisch.
„Bring einen guten großen Truthahn mit, so 5-7 Kilo tiefgekühlt. Arnold.„
Tiefgekühlt

Meine Erfahrungen mit dem Transport tiefgekühlter Truthähne waren bis dahin relativ gering.
– Wie lange würden sie brauchen, bis sie schön matschig aufgetaut sind?
– Kann man sie im Gepäck mit aufgeben?
– Braucht man in den USA Export-Papiere für solche Vögel?
– und für die Einreise nach Island irgendwelche Dokumente?

Es gab leider niemanden, den ich um Rat und Hilfe fragen könnte.
Um nicht immer das Wort Truthahn oder das englische Wort Turkey für diese ganze Sache benutzen zu müssen und damit entsprechende Fragen auszulösen, entschloss ich mich, diesen schönen 5–7-Kilo-Vogel von jetzt an Fridolin zu nennen.

Im Supermarkt wurde mir schnell klar, wie groß so ein eintiefgekühlter Fridolin von 5-7 Kilo ist.
Der würde in keinen Koffer passen, und deshalb beschloss ich ihn als Handgepäck mitzunehmen.
In den alten Propeller-Flugzeugen war der Raum über den Sitzen für das Handgepäck extrem klein. Die Soldaten legten ihre Waffen da hinein, und das war’s dann.

Ich würde meinen lieben Fridolin also irgendwie neben mich platzieren müssen.
Ob es überhaupt einen freien Sitz neben mir geben würde, wusste ich natürlich nicht, aber das spielte nun auch schon keine Rolle mehr.

Ich hatte in den Jahren meiner Schmugglertätigkeit am Amazonas und in den anderen Gebieten zwischen Feuerland und Mexiko gelernt, dass man alles machen kann, vorausgesetzt man hat vorher einen richtig guten Plan.
Ohne Plan geht nichts, mit Plan geht’s fix.

Die Tragetasche

Ich besorgte mir jetzt einen großen – ehrlich gesagt einen sehr großen – Transportkorb.
So einen Transportkorb für Bernhardiner mit Whisky-Fässchen unter dem Hals, kleinen Tigern oder Galapagos-Schildkröten.

In New York gibt’s alles, ich musste nur eine Woche suchen.
Das Prachtstück vom Transportkorb war ungefähr so groß, dass ich Fridolin da von oben reinlegen konnte, um ihn dann im Flugzeug auf dem Sitz neben mir zu platzieren.

Das Archiv

Gleichzeitig stöberte ich intensiv in meinem Privat-Archiv, um Fridolin einen schönen Lebenslauf zu geben.
Ich hatte im Laufe der Zeit in Südamerika eine ziemlich vollständige Sammlung gefälschter Export-Papiere zusammengetragen und alles fein säuberlich in meinem Reise-Ordner abgeheftet.
Solche Dokumente braucht man immer dann, wenn man Felle und Tiere oder deren Pelz aus Südamerika nach Europa senden möchte. Es sind meistens Bescheinigungen einer Regierung, dass man die entsprechenden Waren, um die es gerade ging, aus dem Land rausbringen kann, weil es sich nicht um geschützte Arten handelt.

Warum nicht?
Ganz einfach, weil ich immer wieder neue Tierarten erfand, die es nicht gab und die man deshalb auch nicht zu schützen brauchte.

Darunter waren brasilianische Breitmaul-Katzen, kolumbianische Grinse-Affen, peruanische doppelhaarige Bach-Ottern, bolivianische Hochland-Gnus und viele anderen Tierarten, die jeder Zöllner problemlos durchließ, weil sie ja in keiner Verbotsliste enthalten waren.
Diese Bescheinigungen hatte ich in Südamerika im Laufe der Jahre liebevoll entworfen und mit Stempeln und viel bunter Tinte unterschrieben.
Ich gehe davon aus, dass ein Teil davon noch heute im Hamburger Zollmuseum als Rarität zu besichtigen ist.

Der Steppenhund

So ein Zertifikat nahm ich dann und trug als Gattungsbezeichnung den schönen lateinischen Namen Fridolinus Fridolinus ein, die seltene Unterart eines mexikanischen Steppenhundes.
Doppelte lateinische Namen wirken noch wissenschaftlicher als wenn es nur ein Wort ist.
Fridolin war jetzt also ein mexikanischer Steppenhund, der von mir nach Deutschland gebracht werden sollte.
So jedenfalls hatte ich ihn in seinem Zertifikat verewigt, richtig deutsch mit vielen Stempeln und Unterschriften.

Zugedeckt

Dann kaufte ich noch eine große und richtig amerikanisch-bunte Decke, um sie über den Transportkorb zu legen.
Wenn man mich jetzt fragen würde, wen ich da in diesem großen Korb unter der schönen bunten Decke transportiere, dann brauchte ich an mich nur zu sagen: „Friedolin, aber der Hund schläft jetzt gerade- und schlafende Hunde soll man nicht wecken.

Er schläft

Das war jetzt auch inzwischen das Motto meiner Operation Fridolin geworden.
Das Einchecken mit Fridolin am Flughafen in New York funktionierte problemlos.
Es gab genügend Passagiere, die auf irgendwelchen Flügen irgendwelche Tierchen neben sich hatten, und dass mein Fridolin ein Steppenwolf der etwas größeren Art war, schien niemanden zu stören.
Im Flugzeug gab’s zweimal was zu essen.
Jedes Mal wurde ich gefragt, wie es denn meinem Begleiter ginge.
Wenn ich dann freundlich antwortete „danke gut, er schläft gerade“ – dann waren die Flugbegleiter erleichtert und servierten in der nächsten Reihe weiter.

Angekommen

Nach 9 Stunden kam die Landung in Island und da ich in der ganzen Nacht aus lauter Sorge um den lieben Fridolin kein Auge zugemacht hatte, wurde ich sehr schnell sehr müde.
Aber an Schlaf war nicht zu denken.
Also den großen Käfig mit dem immer noch schlafenden Fridolin unter der großen Decke in die Hand genommen, die Gangway runter und ich war zum ersten Mal auf isländischem Boden.
Der Flughafen war zu dieser Zeit – es war so Ende der Sechzigerjahre – noch ganz klein und typisch isländisch.
Mehrere kleine Häuschen, gelegentlich irgendwelche Männer mit kleinen Karren und ansonsten nur zwei oder drei alte Propellermaschinen, das war der ganze Flughafen.
Aber natürlich gab es einen Eingang für die Zoll-Kontrolle und Gepäck-Ausgabe. Und da musste ich jetzt mit Fridolin als nächstes rein.
Ich hatte die mexikanischen Papiere über meinen braven Steppenhund in meiner Jackentasche und wartete nun darauf, was hier geschehen würde.
Und es geschah etwas.

Begrüßungs-Rufe

Ich hörte aus ziemlicher Nähe meinen guten Onkel Arnold ganz laut „Thewes, hallo Thewes, hallo“ rufen.
Er stand ungefähr 20 m entfernt von mir hinter einer kleinen Absperrung.
Dazwischen waren zwei Tische, auf denen die ankommenden Passagiere ihr Handgepäck zeigen mussten und einem Zöllner ihren Pass.
Arnold rief dann als nächstes ziemlich laut und etwas aufgeregt „Thewes, zur Toilette, sofort zur Toilette.“
Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte und schaute mich erst einmal um.

Die Toilette auf Island

Auf der einen Seite dieses Raumes waren am Ende zwei große Türen mit Symbol für Mann und Frau, also wohl die Toiletten.
Aber was wollte mein lieber Patenonkel mit mir auf der Toilette?
Ich sah, wie er sich auf der anderen Seite ebenfalls ganz gezielt diesem Toiletten-Komplex näherte.
Die WC-Kabinen waren gegeneinander gearbeitet, auf der einen Seite waren die beiden Toiletten-Eingänge für diejenigen, die Passagiere abholten – die also praktisch schon im Inland waren.
Auf der anderen Seite – also auf meiner Seite – waren die gleichen Toiletten für diejenigen, die noch im Zoll-Ausland pinkeln wollten oder mussten.
Die lauten Anweisungen meines lieben Onkels gingen dann weiter:
„Geh auf die Toilette mit deinem Paket.
Rauf aufs Klo

Er meinte sicherlich Fridolin, aber er wusste wohl nicht, dass das Paket Fridolin hieß.
Da ich außer einer kleinen Aktentasche nichts bei mir hatte, nahm ich also Fridolin in die Linke – ich bin Linkshändler und habe links mehr Kraft – und die Aktentasche in die rechte Hand und ging in die Herrentoilette.
Jetzt hörte ich auf der anderen Seite meinen Onkel Arnold wieder rufen. „So, steig auf’s Klo und schmeiß rüber.“
Das waren zwar deutliche Worte, aber für mich trotzdem im Moment noch mit einer gewissen Sinnlosigkeit verbunden.

Ich blickte nach oben. Und sah, dass zwischen den beiden Herren-Toiletten auf der Inland-Seite und auf der Ausland-Seite eine Holzwand war, die ungefähr gut 2 m hoch war.
Darüber war freier Raum bis zum Dach, das Dach war ungefähr in 3 m Höhe.
Allmählich wurde mir klar, was mein Onkel wollte:

Er rief noch einmal „Hochschmeißen und rüberschmeißen“ – und da war mir dann endlich alles klar.

Ich packte Fridolin vorsichtig aus seinem Käfig. Er war inzwischen reichlich matschig geworden, 9 Stunden im Flugzeug unter einer warmen Decke gehüllt bringen auch den abgehärtesten Fridolin ins Schwitzen und somit war mein guter Fridolin richtig schön weich und glitschig geworden.
Dass sich auf dem Boden seines Tiger-Käfigs große Wasserpfützen gebildet hatten, sah ich jetzt zum ersten Mal.
Das spielt aber keine Rolle, die konnte ich ja direkt ins Klo schütten.

Neue Olympia-Disziplin

Und dann begann ich mit der neuen olympischen Disziplin des Fridolin-Hoch-und-Weitwurfs.
Man muss sich auf die Toilette stellen, möglichst die Schuhe vorher ausziehen, dann sieben Kilo weiche Fridolin-Masse umfassen und gezielt schräg nach oben schmeißen.
Wenn man es nicht ganz akkurat macht, kommt der Fridolin wieder auf die gleiche Seite zurückgeflogen und man muss ihn, einigermaßen geschickt auf dem Klo stehend, wiederauffangen, um dann den nächsten Versuch zu starten.
Ich glaube, ich habe mich im Fridolin-Hoch-und-weit-Werfen ganz gut angestellt, denn nach dem zweiten oder dritten Versuch flog er elegant über die Trennwand der beiden Toiletten und hoffentlich meinem lieben Onkel Arnold direkt in die Arme.

Geschafft – Mission completed

Sehen konnte ich dies natürlich nicht, aber aus verschiedenen Geräuschen, die ich vernahm, nachdem Fridolin oben hinter der Trennwand verschwand, konnte ich annehmen, dass mein lieber Fridolin endlich friedlich schlummernd in den Armen meines Patenonkels lag.
Jetzt blieb mir nur noch übrig, den großen Hundekäfig zu entsorgen. Das war recht einfach, er blieb einfach in der Toilette unter der großen amerikanischen bunten Decke.
Was die nächsten Männer dabei dachten, wenn sie im Pinkel-Raum neben dem Klo einen überdimensionalen leeren Hundekäfig unter einer bunten amerikanischen Decke sahen, weiß ich nicht, irgendwie interessierte mich das in diesem Moment auch nicht so besonders.
Lässig mit einer kleinen Aktentasche und einem deutschen Pass, aus dem vorher alle mexikanischen Dokumente entsorgt waren, ging ich durch den Zoll, um endlich meinen Onkel zu begrüßen.
Aber Onkel Arnold war verschwunden.
Er muss sofort mit Fridolin auf den kleinen Parkplatz gelaufen sein, um ihn in seinem alten Wartburg-Auto zu verstecken.

Tak tak tak

Da ich nicht wusste, wo der Parkplatz war, blieb mir nichts anderes übrig als zu warten, bis endlich mein lieber Patenonkel ziemlich erschöpft und grinsend vor mir stand und ganz ergriffen „Tak tak tak tak“ murmelte.
Tak ist isländisch und heißt danke.
Später erfuhr ich, dass der Import von Lebensmitteln nach Island strikt verboten war, da man die dortigen wenigen Tierarten – also überwiegend Schafe und Pferde sowie diverse Vögel und natürlich auch die Schneehühner – vor allen Gefahren dieser Welt schützen wollte.
Die Familie meines lieben Patenonkels hat Fridolin dann nach meiner Abreise aus Island mit Andacht und Würde verspeist.

Island

Während dieses Island-Aufenthalts lernte ich dann noch einiges von Land und Leuten.
Mein Onkel zeigte mir die berühmten Geysire und brachte sie mit einem einfachen Trick zum sprudeln und explodieren:

Man muss nur eine größere Menge Kernseife in die über 100° heißen Löcher im Boden schmeißen und schon sprudelt nach einigen Sekunden ein irre heißer und riesengroßer Wasserstrahl aus dem Boden.
Heute ist das verboten, man muss jetzt ganz brav 7–8 Minuten warten, bis so ein Loch dann wieder einmal von selber explodiert und einen ganz heißen und fürchterlich nach Schwefel stinkenden Wasserstrahl hoch in die Luft schleudert.

Trabbi go

Das Auto meines Onkels war ein alter Wartburg.
Das ist die etwas größere Trabbi-Version, die seinerzeit in Ostdeutschland gebaut wurde. Diese Autos waren unverwüstlich.

Alle anderen deutschen oder amerikanischen Autos fingen bei dem enorm feuchten Klima in Island ganz schnell an zu rosten. Der Wartburg aber war überwiegend aus Plastik und rostete nie.
Es war seinerzeit der einzige Wartburg auf Island und da die Trabbi-Fabrik Reklame machen wollte mit der Unverwüstlichkeit ihrer Autos, bekam mein lieber Onkel alle nötigen Ersatzteile aus Ostdeutschland geschickt.
Er wurde vom Zentralkomitee der Trabbi-Werke zum isländischen General-Importeur ernannt, der bis dahin die stolze Menge von einem Auto importiert hatte, und das war sein eigenes.
Knöpfe

Dann sah ich bei meinem Onkel im Keller seine Knopf-Fabrik.
Die Isländer hatten im Winter nichts anderes zu tun, als kilometerlange Schals, Strümpfe und Handschuhe zu stricken.

Wenn es dunkel ist und es keinen Fernseher gibt, konnte man entweder sich alte Geschichten erzählen oder den Frauen zusehen, wie sie nächtelang strickten.

Stricken war Nationalsport – und für jede Jacke oder Bluse oder Hose brauchte man Knöpfe.

Die Menge an benötigten Knöpfen war aber insgesamt uninteressant für jeden normalen Importeur.
Also baute mein guter Onkel Arnold in Deutschland ein Netz bei den zehn oder zwölf deutschen Knopf-Fabriken auf und kaufte auf Kilobasis sämtliche aus irgendwelchen Serien übrig gebliebenen Knöpfe auf.
Damit kostete ihn selber ein Knopf weniger als einen Pfennig.
Und da es in Island keinerlei Serienproduktion gab, war es völlig egal, ob man für ein Kleidungsstück 4 oder 10 Knöpfe hatte – Hauptsache bei Arnold im Keller konnte man sich unter tausenden von Köpfen die schönsten aussuchen.

Arnold hatte im Keller Hunderte von kleinen Kartons und kleinen Schalen, wo er Knöpfe in allen Größen, Farben und Variationen aufbewahrte. Jeder Knopf kostete dann zwischen zehn und zwanzig Pfennig. Das war in Anbetracht einer Jacke kein großer Betrag und er verdiente sich als Knopfkönig von Island ein schönes Zubrot.

Das Schweigen der Lämmer

Das Wichtigste, was Arnold im Laufe seines Lebens in Island machte, war das Aufkaufen der isländischen Lammfelle.
Dafür fuhr er wochen- und monatelang mit seinem Super-Trabbi quer durch Island.
Er reiste von Bauernhof zu Bauernhof und feilschte mit dem jeweiligen Bauern über den Preis der Felle der isländischen Lämmer und Schafe, die im nächsten Herbst geschlachtet werden sollten.
Es gibt in Island heute ca. 320.000 Einwohner und ca. 800.000 Schafe. Die bekommen jedes Jahr einige 100.000 Lämmer und der größte Teil davon wird geschlachtet, sonst würden die Grasfelder auf den riesigen Lava-Gebieten schnell völlig kahl gefressen werden.

Der isländische Bauer bekommt gutes Geld für Lammfleisch und Lammwolle und dann noch ein geringeres Entgelt für das Fell der geschlachteten Lämmer und Schafe.
So war es damals vor 50 Jahren und so ist es auch heute noch.
Was machte man aber mit diesen Fellen?
Die Wolle ist extrem lang, ca. 15–20 cm und sehr grob.

Jeder, der schon einmal einen Islandpulli oder eine Islandmütze oder Handschuhe angezogen hat, weiß, wie sehr diese Wolle kratzt und pitzt.

Dass diese Wolle vor großer Kälte prima schützt, ist gut und schön, aber so grobe Wolle wie von den Island-Schafen braucht man an sich nirgendwo auf der Welt, außer vielleicht auf Island und Grönland.
Nur die Lammwolle – also die Wolle von Tieren, die ca. 6–8 Monate alt sind und selber noch keine Kinder bekommen haben – diese Wolle ist fein und sehr warm und entsprechend begehrt.
Und was machte man in Europa mit solchen großen Mengen von isländischen Lammfellen?
Die Hälfte davon verschwand in den Touristengebieten und wurde als „Original Heidschnuckenfell“ in der Lüneburger Heide oder als „original Schweizer Heidi-Alpen-Lammfell“ oder unter sonstigen Fantasie-Bezeichnungen an Touristen aus aller Welt verkauft.
Es gab aber in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch einen anderen Verwendungszweck, der heute total verschwunden ist:

Das deutsche Schlafzimmer

In jedem zweiten der 40 Millionen deutschen Schlafzimmer gab es zu jener Zeit kleine runde Hocker, die mit einem Island-Lammafell bezogen waren.

Die gute deutsche Hausfrau wollte sich unbedingt auf solche Hocker setzen, um sich damit vor dem Spiegel hübsch zu machen.

Wer schlussendlich hübscher war, die brave deutsche Hausfrau oder das kaputte Island-Lammfell – das blieb oftmals nur noch eine Geschmacksfrage.

Um auf der sicheren Seite zu bleiben, kauften viele der guten Deutschen sich zusätzlich für’s glückliche Eheleben noch einige Bett-Vorleger aus diesen Island-Lammfellen – manchmal noch eingefärbt in allen möglichen Bonbonfarben.

Aus meiner Kenntnis der isländischen Bettvorleger möchte ich aber doch behaupten, dass die größere Menge der jungen Germanen eher im muffeligen Ehebett gezeugt wurde.
Es gab drei Fabriken in Deutschland, die spezialisiert waren auf die Fertigung und Produktion solcher Lammfellhocker und Lammfelldekorationen – und wir in Hamburg waren die einzigen in Deutschland, die dieses Material aus Island bezogen und weiterverkaufen.
Es war also für meinen Onkel im Prinzip die Hälfte des Jahres die einzige Aufgabe, mit den Bauern über ganz Island verteilt kräftig zu trinken und zu quatschen, um ihnen möglichst billig ihre Lammfelle abzukaufen.

Tara

Wenn man das Wort Tara heute in irgendeiner Quizshow den Kandidaten als Aufgabe stellt, kann ich mir vorstellen, dass es vier Vorschläge gibt, was dieses Wort wohlbedeuten könnte:
– ein russischer Mädchenname
– der Name eines südamerikanischen Steppenhasen
– eine Gewichtsbezeichnung
– ein Gebirge im Süden von Polen

Ich bin ziemlich sicher, 90 Prozent aller Kandidaten tippen auf die russischen Mädchennamen.
Der Rest wird Tara mit Mara, dem argentinischen Steppenhasen, verwechseln.
Und ein kleiner Teil verwechselt vielleicht den Begriff Tara mit den Bergen der hohen Tatra zwischen Polen und der Ukraine.
Natürlich ist das alles falsch – denn Tara ist eine ganz simple Gewichtsbezeichnung. Nur kennt dieses Wort heute keiner mehr.
Wer den Taradoch noch kennt, wird sie leicht erklären können:
Der Unterschied zwischen Brutto-Gewicht und Netto-Gewicht heißt Tara.
Als Beispiel und im Klartext kauft der Kaffee-Importeur in Hamburg aus Brasilien 5.000 Sack Brasil-Hochland-Kaffee ein.
Der Kaffee aus Brasilien kommt immer in Säcken.
Jeder Sack wiegt genau 40 Kilo.
Diese 40 Kilo setzen sich zusammen aus 35 Kilo Kaffee und 5 Kilo für den Sack.
Also 35 Kilo netto + 5 Kilo Tara gleich 40 Kilo brutto.
Soweit alles klar, aber was hat dies mit den isländischen Lammfellen zu tun?

Die christliche Seefahrt

Wer denkt, dass der Autor dieses kleinen Berichts jetzt völlig durchgeknallt ist, liegt daneben, jedenfalls für diesen Moment.
Es ist vielmehr jetzt ganz bewusst ein Abstecher in die christliche Seefahrt von Nöten.
Hauptproblem der Seefahrer und Entdecker im 15. und 16. Jahrhundert war, dass sie auf ihren Segelschiffen nie genügend Proviant hatten.
Zum Trinken nahm man jede Menge von Wasserfässern mit, außerdem Alkohol wie Rum und Wein in verschiedensten Formen.
Zum Essen hatte man aber nur Lebensmittel, die irgendwann anfingen zu verschimmeln oder zu verfaulen.
Das Gemüse fing schnell an zu vergammeln, das Fleisch verfaulte und wurde ungenießbar.
Lebendes Fleisch, wie Schweine und Hühner, konnte man kaum mitnehmen, denn das Futter für dieses Vieh vergammelte ebenfalls.

Es gab nur ein Mittel:
Wenn man Fleisch mitnehmen wollte, musste es konserviert werden – und das ging nur, indem es gesalzen wurde.
So ein gesalzenes Fleisch nennt man gepökelt, also Pökelfleisch.
Beliebige Fleischstücke, Stücke vom Rind und Schwein, wurden in große Tonnen gelegt und mit Salz überschüttet, alles wurde komplett in Salz eingelegt, die Tonne wurde bis zum Rand mit gepökeltem Fleisch gefüllt.
Heute weiß man, dass Fleisch im Grunde genommen eine Masse aus Eiweiß ist – und Eiweiß schimmelt und vergammelt, es sei denn, es wird durch Salz hieran gehindert.
Selbst Fisch hatte man früher auf den Schiffen und an Land auf diese Weise konserviert, eingepökelte Fische, besonders Heringe, waren die einzige Möglichkeit, Menschen fernab der Küste mit Fisch zu versorgen.
Solches Pökel-Fleisch konnte man monatelang in den Pökel-Tonnen aufbewahren.
Der einzige Nachteil war, dass man danach von dem ganzen Salzgeschmack einen unheimlichen Durst bekam. Aber die Mannschaft auf den Schiffen konnte zumindest mit dem Pökel-Fleisch etwas kräftige Nahrung erhalten.

Das Problem:
Wenn wir jetzt also wissen, dass man rohes Fleisch mit ganz viel Salz einstreuen kann und es dann nicht anfängt zu verfaulen und zu stinken – dann können wir uns beruhigt wieder an das isländische Lammfell wenden.
Hier war das Problem im Prinzip genauso:
Das Tier wurde geschlachtet, die Haut wurde abgezogen.
Das Fleisch der Lämmer und Schafe wurde entweder gepökelt oder geräuchert oder gleich aufgegessen.
Aber das Fell war das eigentliche Problem:
Auf der Seite, wo das Fell die Haare und die Wolle hat, passiert gar nichts.

Aber die andere Seite – dort also, wo die Unterseite des Fells mit dem eigentlichen Körper des Tieres verbunden war, diese Seite war ja jetzt offen, blutig und roh und fing an zu verfaulen – das Fell musste also sofort nach dem Schlachten eingesalzen werden.

Mit diesem einfachen Verfahren wurden dann in Island auf jedem Bauernhof die Felle konserviert.
Das Tier wurde geschlachtet, das Fell wurde abgezogen, auf den Boden gelegt und die Fleischseite komplett und dick mit Salz eingestreut. Dann wurde das Fell wieder zusammengelegt zu einem Bündel, in dessen Mitte mehrere Kilo Salz auf der Haut lagerten.

Dann wurde dieses Bündel mit einer Kordel verschnürt, ein Holzstückchen dran mit einer Nummer, damit man wusste, von welchem Bauern dieses Fell kam und ab ging es in den Hafen nach Reykjavik, wo sich in der Zeit der Schlachtungen tausende und abertausende solcher Bündel anhäuften.

Alles dann rein in einen Dampfer. Die Laderäume mit zehntausenden solcher Lammfell-Bündel stanken nach einigen Tagen wie die Pest, aber das waren Kapitän und Mannschaft gewohnt.
Soweit über die Technik des Konservierens.

Der kleine Unterschied – die Tarifierung
Es bleibt jetzt noch die Technik des Handels übrig, und auch hier fanden die Kaufleute einen ausgeklügelten, aber praktikablen Weg.
Wie bei jeder Ware möchte der Käufer viel Ware für wenig Geld haben.
Er möchte, hier zum Beispiel, bei einem isländischen Lammfell so viel Fläche wie möglich haben und dafür so wenig wie möglich bezahlen.

Käufer und Verkäufer sind sich darüber einig, dass man einen Weg finden muss, um sicherzustellen, dass beide Seiten einen gerechten Preis für die richtige Ware bekommen.
Das bedeutet im Klartext: Je größer ein Fell ist, desto schwerer ist es und desto höher darf auch der Preis sein.
Deshalb wurden diese Lammfelle per Kilo gehandelt.
An sich eine richtige Entscheidung, denn Maschinen, um die Ledergröße eines Fells zu messen, gab es seinerzeit nicht, das Gewicht war allein entscheidend.

Und damit sind wir jetzt endlich wieder bei der Tara:
Ein schönes isländisches Lammfell wog in dem Moment, wo es geschlachtet war, ca. 10 – 15 Kilo, je nach Größe.
Dann kamen aber noch mindestens fünf bis sechs Kilo Salz hinzu.
Das Bündel, das also nach kurzer Zeit im Hafen in Island lag, wog also meistens knapp 20 Kilo.
Der Kapitän des Schiffes bekam sein Entgelt für die Fracht auch nach Kilo und zwar dem Bruttogewicht der gesamten Ladung – er musste ja sowohl das Fell als auch das darin enthaltene Salz transportieren.
Aber der Kunde in Hamburg wollte nur das Fell bezahlen und auf keinen Fall das Salz, sonst wäre es das teuerste Salz der Geschichte geworden.

3 mal klatschen

Und jetzt geht die Geschichte richtig los:
Man einigte sich zwischen Käufer und Verkäufer, dass das endgültige Gewicht und somit der endgültige Preis erst festgestellt wurden, nachdem die Ware in Hamburg im Hafen angekommen war.
Vorher war der Käufer – also der Hamburger Kaufmann – nicht bereit, irgendwelche Gewichte, die in Island festgelegt oder festgestellt wurden, zu akzeptieren.

Die Isländer wiederum wussten, dass es in Hamburg Firmen gab, die genau und sorgfältig alle Waren im Hafen kontrollierten, sie hießen Quartiersleute und waren spezialisiert, jede Ware aus allen Kontinenten dieser Welt genau zu prüfen – egal ob Kaffee aus Südamerika, Tee aus Asien, Wolle aus Australien oder Kautschuk aus Indonesien – für alles gab es Regeln und die Quartiersleute hatten das volle Vertrauen sowohl der ausländischen Exporteure als auch der deutschen Importeure.

Zurück zu unseren stinkenden Lammfellen: Es musste nur noch ein Weg gefunden werden, wie man das wirkliche Gewicht einer Partie von sagen wir 30.000 isländischen Lammfellen so genau wie möglich festlegte:
Man nahm 3 Prozent der Menge der Gesamtpartie als verbindliche Mustermenge.
Also bei 30.000 Stück wurden 3 Prozent und somit 900 Felle aussortiert und in eine Ecke des Lagerraums geschmissen.

Dann wurde ein ganz großer Tisch aufgestellt und vier ganz große und ganz kräftige Quartiers-Männer fingen an zu arbeiten.
Alle mit dicken Gummi-Schürzen vor den meist gewaltigen Bäuchen, dazu ausgestattet mit dicken Gummihandschuhen und großen Gummihüten, sogenannte „Südwester“, deren Schutz von der Stirn über die Ohren bis hin über den Nacken verlief.
So waren sie dann also vorbereitet auf eine fürchterliche Salzschlacht.
Meistens war dies Ende November oder Anfang Dezember, und zu dieser Zeit war es in Hamburg im Hafen wirklich kalt und windig.
Unsere vier Männer mussten jetzt „tarieren“, wie das Fachwort dafür heißt, es stammt natürlich ab von unserem Quizwort „Tara“

Also, vereinfacht gesagt, musste jetzt das Bruttogewicht der Lieferung getrennt werden in Netto und Tara, oder plastischer gesagt, ein Bündel musste korrekt zerlegt werden in Fell und Salz.
Der Erste griff sich eins von den 900 Bündeln und schnitt mit einem dicken Messer die Stricke auf, durch die das Bündel zusammengehalten wurde.

Dabei lief schon eine Menge Salz aus dem jetzt offenen Fell heraus.
Dann schmiss er das Fell auf den großen Tisch.
An beiden Seiten des Tisches waren die größten und stärksten Männer der Quartiers-Firma und jeder dieser beiden bärenstarken Männer ergriff 2 Beine des Lammfells. Der eine hat die beiden Vorderbeine, der andere die beiden Hinterbeine.
Und jetzt durften sie „dreimal klatschen“.
Das bedeutet, sie durften dreimal das Fell in die Luft heben, um es dann jeweils mit voller Kraft auf den Tisch zu hauen.

Dabei flog dann jedes Mal eine gewaltige Menge Salz aus dem Fell raus.
Und jedes Mal wurde das Fell leichter.
Nach dreimal Klatschen mussten sie aufhören.
Und jetzt kam der vierte Mann ins Spiel.
Er war der Vize, der Leiter jeder Gang.
Jede Gruppe dieser Spezialisten bestand traditionell aus 4 Leuten, das war die Gang.
Und der Vize, das war derjenige, der am längsten dabei war und alle Regeln, Kniffe und Tricks kannte, die es im Hamburger Hafen so gab.

Er nahm das Fell, welches jetzt praktisch kaum noch Salz enthielt, faltete es zu einem kleinen Bündel und legte dieses Bündel dann auf eine große Waage, die neben ihm stand.
Dann wurde das Gewicht abgelesen und notiert – also zum Beispiel 10,3 Kilo oder 14,6 Kilo oder was auch immer das neue Netto-Gewicht ergeben hatte.
He, Mister Tally man, tell me Banana
Dieser letzte Mann war in diesem Fall nicht nur Vize, sondern auch der Tally-Mann, also der Zähler.
Ein guter Tally-Mann konnte im Schlaf irgendetwas zwischen tausend und hunderttausend durchzählen und verzählte sich nie.

Er war hier verantwortlich für die Gewichts- und Zählliste.
Die Verkäufer aus Island hatten manchmal noch eine andere Firma beauftragt, bei dieser ganzen Prozedur zuzusehen, damit nicht „aus Versehen“ irgendwelche Lammfelle vier- oder fünfmal geklopft und geschlagen wurden, um auch die allerletzten Mengen Salz aus dem Fell rauszuhauen und somit das Fell noch leichter zu machen – denn die Isländer bekamen ja nur das Geld, was zum Schluss als Gewicht – und zwar als Nettogewicht – festgestellt wurde.

Die Gewichtslisten wurden dann abends addiert und am nächsten Tag wusste man ganz genau, dass diese insgesamt 900 Felle zum Beispiel 10.452,6 Kilo Nettogewicht erbracht hatten.
Alles andere war Salz und wurde weder bezahlt noch berücksichtigt.
Auf Basis dieser so festgestellten Gewichte wurde dann abgerechnet und alle waren zufrieden.
Die Quartiersleute schmissen am Schluss die riesigen Mengen an Salz, die bei so einer Prozedur anfielen, mit großen Schneeschiebern in die Fließe der Elbe, die draußen vor den Schuppen vorbei flossen und der Raum war wieder sauber.

Geschafft

Eine solche Prozedur der Tarierung, also der Feststellung von Brutto, Tarif und Netto, habe ich selber viele Jahre lang in Hamburg miterlebt.
Ich war nie kräftig genug, um selber zu schlagen, aber ich weiß, was es bedeutet, isländische Lammfelle zu entsalzen.
Mein Onkel Arnold war der ideale Mittelsmann zwischen den Bauern auf dem kargen und eisigen Island und den Käufern in Deutschland.

Seine Arbeit wurde überall anerkannt.
Und auch, als es später gelegentliche Versuche gab, dass andere Käufer bei den Bauern die Felle aufkaufen wollten, blieb man Arnold so lange treu, bis er aus Altersgründen irgendwann den Beruf aufgab.

Sonstiges

Es gab noch einige andere Produkte aus Island, die ich im Laufe der Jahre ebenfalls einigermaßen erfolgreich handelte. Zum Beispiel Federn und Daunen, aber da gibt es keine großen Geschichten.
Jahre später ging ich dann nach China, um dort die nächsten 20 Jahre zu verbringen.

Das schönste Stück

Mein lieber Onkel Arnold hat alles geschafft in seinem Leben außer dass er irgendwelche Chinesen mit riesig großen Wal-Penisen beglücken konnte.
Island ist neben Norwegen und Japan bis heute das einzige Land, wo noch aktiv Walfang betrieben wird, wenn auch nur für kleine und Kleinstwale.
In Reykjavík gibt es das einzige Penis-Museum der Welt.
Die Isländer haben zu diesem Körperteil der Natur ein wirklich unverkrampftes Verhältnis.
In diesem Museum kann man ziemlich genau erleben, mit welchen riesigen Körperteilen sich die gewaltigen Wale vermehren.

Mein Onkel Arnold hatte immer versucht, solche Gegenstände als Liebesspielzeug in Asien zu verkaufen.
Er wusste, dass die Inder und Chinesen alle möglichen Hörner und tierischen Gegenstände als Potenzmittel begehrten, aber soweit ich weiß, hat trotz intensivster Bemühungen kein isländischer Walpenis jemals chinesischen Boden erreicht.

Man kann also im Leben eine Menge erreichen, wenn auch nicht alles.
Und apropos Erreichen- zumindest erreicht jetzt dieser Bericht sein Ende.

Nachsatz

Arnold und Maja sind lange tot.
Hilde, die jüngere Schwester der so jung verunglückten Helga, heiratete in Island und hatte mit ihrem isländischen Ehemann 2 Kinder.
Hilde wurde Lehrerin und starb sehr früh an Krebs.
Mit Ihrem Sohn, er heißt Hjalti, hatte ich nach dem Tod von Arnold in Deutschland einige Berührungspunkte, wo ich ihm etwas helfen konnte.
Arnold war sein Leben lang Deutscher geblieben.
Er war auch gleichzeitig quasi Angestellter, Vertreter und freier Mitarbeiter der Familien-Firma – genau war es nirgendwo definiert.

Auf jeden Fall mussten nach Arnolds Tod sämtliche Bücher der Firma durchgearbeitet werden, um festzustellen, ob noch Ansprüche oder Vermögen vorhanden war, wenn ja, wie viel und wenn ja, ob die Steuern darauf verjährt waren und so weiter.

Eine typisch deutsche Arbeitsbeschaffungsmassnahme, die Hjalti mehrere Reisen nach Hamburg und mich viele Monate Studium in sehr alten Akten kostete.

Dass ich dabei Interna der Familie kennenlernte, von denen ich vorher keine Ahnung hatte, war zwar interessant, aber in jener Zeit für mich nicht von großem Belang. Heute bin ich dankbar dafür.
Irgendwann war alles geklärt und bezahlt und als sich vor 15 Jahren bei meiner Frau und mir die Frage stellte, wo wir den Rest unseres Lebens verbringen wollten – in Deutschland, in der Karibik, vielleicht in Chile oder sonst wo – da haben mir die Erfahrungen der Vergangenheit doch geholfen, einige richtige Entscheidungen zu treffen.

Vor 2 Jahren reisten wir dann zum ersten Mal nach vielen Jahrzehnten wieder selber nach Island.
Unsere Enkelin Nanda ist heute 11 Jahre und seit vielen Jahren begeisterte Reiterin.
Im vorigen Jahr machten dann Nanda und Oma Nelly und Opa Thewes einen schönen Reiter-Urlaub auf Island.
Wie sehr dies Nanda gefallen hat, kann man daran sehen, dass sie die Frage, ob sie dieses Jahr lieber wieder in die Dom Rep oder nach Island reisen wolle, ganz spontan mit den Worten beantwortet: nach Island, zu den Pferden.

Und so sind wir jetzt wieder einmal auf Island, Nanda reitet auf einem entlegenen Bauernhof, Nelly studiert ihre Bibel und ihr Facebook – und ich habe Zeit genug, mich mit dem zu beschäftigen, was ich ganz gerne tue – ein bisschen erzählen.

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