Sonnenschein und Vollmond

 

Die Geschichte einer wundersamen Rettung

Prolog

(Die Feuerzangenbowle ist nicht zu toppen – sei’s drum.)

Die Wette

Die drei älteren Herren sahen sich an und nickten.

Dann griffen sie fast gleichzeitig zu den vor ihnen auf dem Tisch stehenden Rotweingläsern.

Die Gläser waren edel, handgeschliffen und von genauso guter Qualität wie der Rotwein, der sich in ihnen befand.

Sie stießen miteinander an und sagten leise und verschmitzt: „Top – die Wette gilt“.

Freundschaft

Die Zeiten, als sie mit ihrer Familie vor dem Fernseher saßen und diesen Spruch aus der damaligen Show „Wetten das“ mehrmals am Abend hörten, waren lange vorbei.

Sie hatten sich vor sehr vielen Jahren irgendwann und irgendwo kennengelernt.

Daraus waren im Laufe der Zeit erst eine nette Bekanntschaft und später eine ehrliche Freundschaft geworden.

Jetzt trafen sie sich in unregelmäßigen Abständen alle paar Monate, um in diesem kleinen und sehr exklusiven Restaurant gemeinsam zu essen, zu trinken und einander zuzuhören.

Themen wie Frau, Enkelin, Urlaub und im Zusammenhang mit der Gesundheit die allgemeine Lage der Fachärzte in ihrer Stadt waren verpönt und verboten.

Es wurde zum Ritual, dass einer der Drei am Anfang eines Abends kurz das Thema bekannt gab, unter dem sie heute den Abend verbringen würden.

Und es war immer wieder interessant, welche Themen von diesen dreien Honoratioren ausgewählt wurden.

Das Thema

Diese Bekanntgabe des Themas des Abends war für alle drei bereits der erste kleine Höhepunkt in der geselligen Runde.

Sie hatten in ihrem Leben sehr unterschiedliche Berufe.

Waldemar war ein recht erfolgreicher Architekt, der sich seit mehreren Jahren hauptsächlich mit immer kleiner werdenden Tiny-Häusern beschäftigte.

Thomas, der jüngste in dieser Runde, hatte in seinem Leben so viele Berufe gehabt, dass er diese selber schon seit Jahren etwas durcheinander brachte.

Und Balthasar, der Dritte am Tisch, hatte sein großes Hobby zu seinem Beruf machen können.

Er war Besitzer eines Varietés, das viele Monate im Jahr durch Deutschland, Österreich und die Schweiz zog, um den Menschen ein paar fröhliche und manchmal nachdenkliche Momente zu schenken.

Balthasar

Heute Abend war es Balthasar, der für das Thema des Abends verantwortlich war.
Bei ihm wusste man nie genau, was gerade durch seinen Kopf ging.
Er konnte stumm sein wie eine Kaulquappen, und im nächsten Moment machte er die Metamorphose zum Frosch durch und quacke und brüllte so laut, dass der freundliche ältere Restaurantbesitzer die drei Stammkunden schon seit Jahren in sein wunderschönes separates Gästezimmer einlud, wenn sie wieder einmal ihren speziellen Herrenabend zusammen bei ihm feiern wollten.
Keiner konnte so gut formulieren wie Balthasar.
Darauf war er auch ein bisschen stolz und versuchte jedes Mal, wenn er an der Reihe war, aus seinem Thema eine kleine Varietee-Nummer zu machen.
Er stand also auf, nahm sein Glas in die Hand und fing an –
„Uns verbindet nicht nur eine schöne, lange und feste Freundschaft, sondern auch die Tatsache, dass wir alle drei irgendwann in unseren Leben eine Pleite hingelegt haben.“
Die anderen sahen sich erst etwas betroffen an, dann nickten sie aber beide und warteten, was jetzt kommen würde.
Wir wollen uns heute Abend mit Geschichten beschäftigen, die von Niederlagen, Pleiten, Insolvenzen und sonstigen fröhlichen Ereignissen erzählen.
Zwei davon werden wir heute Abend hören.
Sie können kurz oder etwas länger sein – aber Limit ist ein halbvolles Rotwein-Glas.

Sie müssen einen wahren Kern haben und dürfen keinerlei Selbstmitleid beinhalten.
Ansonsten können diese beiden Geschichten frei nach Schnauze erzählt werden.
Derjenige aber, der jetzt gleich das Streichholz ohne Kopf gezogen hat, wird hiermit verdonnert, seine Geschichte aufzuschreiben und die Reinschrift das nächste Mal mitzubringen.
Wenn die Geschichte gut ist, werde ich daraus eine schöne und ansprechende Nummer in meinem nächsten Varietee-Programm konzipieren.
Wenn sie schlecht ist, wird unser Clown daraus eine Pausennummer machen.
Dann nahm er die große Streichholzschachtel, die auf dem Absatz vor dem Kamin in der Ecke des Zimmers lag, öffnete sie, holte drei Streichhölzer heraus und knipste bei einem den roten Streichholzkopf ab.
Er legte die drei Hölzer in seine Hand, verdeckte mit dem Daumen die Fläche, wo die roten Köpfe am Ende der Streichhölzer waren, und forderte die andern auf, jeweils ein Streichholz zu ziehen.
Derjenige, der das Streichholz ohne Kopf zog, würde bis zum nächsten Treffen Zeit haben, seine ganz private Pleite aufzuschreiben.
Und der Freund ohne Streichholzkopf wird dann auch derjenige sein, der beim nächsten Treffen seine Geschichte vorlesen muss.
Und zwar zwischen dem Begüßungsrotwein und den Vorspeisen.
Danach ist dann Waldemar dran, er wird für das Thema des nächsten Abends verantwortlich sein.
Dann setzte er sich wieder und sah auf die Streichhölzer in seiner Hand.
Thomas zog das Streichholz ohne Kopf.

Der Vorleser

Beim nächsten Treffen brachte Thomas einen freundlichen älteren Herrn mit.
Er stellte ihn als Jan-Hendrik vor, Mitglied des kleinen Privattheaters in der Innenstadt und deutscher Synchronsprecher für einige internationale Filmstars.
Jan-Hendrik werde heute Abend die Geschichte einer etwas außergewöhnlichen Insolvenz erzählen.

Dann legte er zwei Umschläge auf den kleinen Tisch unter dem Spiegel.
„In dem einen Umschlag“, sagte er, „ist meine Geschichte, wie versprochen, schriftlich und ohne Selbstmitleid.“
Und in dem anderen Umschlag ist die Bestätigung meines HNO-Arztes, dass ich aufgrund einer ziemlich seltenen Stimmband-Erkältung nicht in der Lage bin, meine Geschichte selber zu erzählen.
Jan-Hendrik wird dies mit der nötigen Ruhe und Professionalität gerne für mich erledigen –
Ich selber muss während seines Vortrags meine Stimmbänder mit etwas Rotwein wieder gesund trinken.
Ich wünsche euch bei aller Ernsthaftigkeit des Themas trotzdem jetzt einige hoffentlich unterhaltsame Minuten.
Dann setzte er sich an den Tisch, hob sein Glas und sagte leise aber bestimmt:
„Ich wette, dass ihr so eine Geschichte noch nie gehört habt“.
Jan-Hendrik zog ein kleines Bündel Papier aus dem Umschlag, setzte sich zu den anderen an den Tisch und begann mit seiner wunderbar weichen und tiefen Stimme vorzulesen.
Die andern hoben ebenfalls ihr Glas, prosteten Balthasar zu und antworteten gemeinsam.
„Top, die Wette gilt.“

Erstes Buch

Eine Geschichte von Sonnenschein und Vollmond.

Oder auch die Geschichte einer wundersamen Rettung.

Erzählt von Thomas Deckel.

Die Familie

Als ich die Firma meiner Familie Mitte der achtziger Jahre übernommen hatte, war es eine Einzelfirma.
Zwei Menschen hafteten für die Verbindlichkeiten der Firma, einer mit seinem gesamten Vermögen, ein anderer mit einer bestimmten Menge Geld, auch Einlage genannt.

Derjenige, der mit seinem privaten gesamten Vermögen haftet, ist natürlich der, der am gefährdetesten ist, falls es mal zu einer Schieflage kommt.
Aus diesem Grund hatte meine Familie auch immer einen einfachen Grundsatz, wenn es um Geschäftsführung und Haftung ging.
Immer der Jüngste – der bis dahin am wenigsten Geld verdient hat und der somit aus der Sicht der Firma das geringste Risiko hatte – wurde als komplett Haftender in die Geschäftsleitung genommen.
Das war bei meinem Großvater so, das war bei meinem Vater so, und das sollte auch bei mir dann so sein.
Nur dass es in den beiden Generationen vorher jeweils eine größere Auswahl von Menschen – immer Männer – gab, die entweder persönlich mit allem oder nur mit einem Teil hafteten.
Aber das Prinzip war klar.

Als ich die Firma übernahm, gab es neben mir keinen anderen, der noch als haftender Gesellschafter in Frage gekommen wäre.
Das war aber auch nicht so schlimm, denn ich selber war zu dem Zeitpunkt ungefähr knapp vierzig Jahre alt und ich hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Privatvermögen.
Ich hatte für meine Familie zehn Jahre vorher das Haus in Hamburg gekauft und war dabei, den damit verbundenen Kredit jedes Jahr brav abzustottern.
Ich verdiente normal, konnte mir aber keine großen Sprünge erlauben.
Der Firma ging es wirtschaftlich gut.
Ich hatte zehn Jahre lang von Südamerika aus dazu beigetragen, dass viel Geld verdient wurde mit den ganzen Sachen, die ich dort in Südamerika praktisch alleine machte.
Einzelheiten spielen hier jetzt keine Rolle.

Der Umbruch

Als Südamerika 1976 aufhörte und 78 durch China ersetzt wurde, gab es natürlich einen ganz großen Umbruch.
Ich fing an, in China etwas aufzubauen, was es vorher dort in dieser Form nie gegeben hatte.
Dazu brauchte man natürlich viel Geld.
Am Anfang wurde dieses Geld fast nur von chinesischer Seite bereitgestellt.

Respektive meine chinesischen Geschäftspartner konnten irgendwelche Bankchefs überreden und bestechen, dass sie viel Geld in diese Gerbereien oder diese Fabriken steckten, wo man Leder für Schuhe und Bekleidung herstellt, und Lammfelle für Autositzbezüge.
In Deutschland änderte sich das Geschäft der Firma Deckel sehr schnell und sehr stark.
Alles, was mein Vater und in ganz kleinem Teil auch sein Vetter Frank, der Vater von Thimo, jahrzehntelang vom Schreibtisch aus machten, wurde schnell Vergangenheit.
Die große Diversifikation – in der Form, wir bis dahin überall auf der Welt ganz unterschiedliche Artikel kauften, mit irgendwelchen Banken finanzierten und an irgendwelche Fabriken in Europa verkauften – diese Diversifikation fand bald nicht mehr statt.
Alles konzentrierte sich auf eine völlig neue Geschäftsidee.

Die Finanzierung

Ich baute dieses neue Geschäft ebenfalls praktisch alleine in China auf.
Es war von Anfang an erfolgreich.
Aber auch wir brauchten natürlich eine Bank, die möglichst viel finanzierte.
Nur war die technische Möglichkeit, Geld einer Bank zu benutzen, um irgendwo in Australien, Südafrika, Südamerika oder in China damit irgendetwas zu machen – das war den Bankdirektoren in Hamburg einfach zu viel, zu exotisch und zu unsicher, und die allermeisten sagten nach eingehender Prüfung „Nein danke“.
Damit verloren wir bis auf eine Bank praktisch alle anderen Bankverbindungen, die wir in der Firma bis dahin hatten.
Dafür gab es dann plötzlich eine neue Bank, die ums Verrecken gern all das machen wollte, was normalerweise die traditionellen Banken in Hamburg zusammen mit ihren Kunden machten.
Das war die Hamburger Komerzialbank.
Es war die zweit- oder drittgrößte Bank in Deutschland.
Spezialisiert an sich auf Industriekredite und Kleinkredite für den normalen Bürger.
Man wollte aber auch mit allen Mitteln in das große internationale Geschäft der Banken eindringen und dort mitspielen.
Dieses große Geschäft war eine Domäne der Deutschen Bank, die mehr als die Hälfte aller solcher Operationen in Deutschland leitete und durchführte.

Dann noch die Dresdner Bank, die aber nie richtig stark wurde und die irgendwann dann auch von der Deutschen Bank aufgekauft wurde.
Damit gab es nur noch die Deutsche Bank und als internationaler Neuling jetzt die Hamburger Komerzialbank.

Die KOZBANK

Diese Hamburger Komerzialbank war extrem schlecht organisiert, führte sich oftmals in der altehrwürdigen Hamburger Kaufmannschaft unangenehm laut mit Tendenz zu Vorlaut auf und wurde deswegen in den entsprechenden Kreisen schlicht mit der Abkürzung Kozbank betitelt.
Einzelheiten will ich jetzt hier nicht erzählen, das würde zu weit führen.
Aber die Kozbank erklärte sich bereit, einen großen Teil der Geschäfte zu finanzieren, die ich seinerzeit in der ganzen Welt durchführte.
Hier muss ich jetzt etwas unterbrechen, sonst versteht man die nächsten Abschnitte nicht so richtig.

Normal

Das normale Bankgeschäft läuft ungefähr so ab – als Beispiel für eine typische Bank-Finanzierung:
Man erklärt seiner Bank, dass man gerne ein Auto kaufen würde. Die Bank prüft das, und wenn sie feststellt, dass der Käufer privat auch noch Geld hat, dann gibt sie dem potentiellen neuen Autobesitzer sagen wir 50 oder 60 % der Kaufsumme als Kredit.
Als Sicherheit behält die Bank die Wagenpapiere des neuen Autos so lange bei sich im Safe, bis der Kredit völlig zurückbezahlt wurde.
Die Bank ist also die ganze Zeit Eigentümerin des Autos, der Kunde und der Fahrer des Wagens sind nur Besitzer.
Der Unterschied zwischen Eigentum und Besitz dürfte bekannt sein.
Jetzt wurde es schwierig für mich, auch mit der Kozbank das durchzuführen, was ich benötigte.

Beispiele

Um bei dem Beispiel mit dem Auto zu bleiben:
Ich hätte der Bank sagen müssen, dass ich zum Beispiel in China festgestellt hatte, dass dort kaum neue Autos fahren und dass die Chinesen dringend sowohl Privatwagen als auch Lastwagen für den Transport ihrer Waren benötigen.
Solche Autos von Deutschland aus nach China zu schicken, würde nicht funktionieren.
Die deutschen Autos waren viel zu teuer für die Chinesen.
Also hätte ich in diesem Beispiel der Bank dann vorgeschlagen, dass ich in Japan und Südkorea günstige Autos kaufen kann.
Teilweise neu, teilweise gebraucht, aber in guter Qualität.
Hierfür brauche ich aber Kredit.
Das bedeutet, die Bank würde jetzt etwas finanzieren, wo sie die KFZ-Briefe nie zu Gesicht bekommen würde.

Weltweit

Sie müsste Geld nach Südkorea oder Japan schicken an irgendwelche Adressen, die ich aufgebe – dann erst wird mit dem Geld dort im Land ein kleiner Fahrzeugpark gekauft.
Dieser wird nach China gebracht.
In China kenne ich Leute, die diese Wagen gut und schnell und direkt verkaufen können
Das war in China nicht so einfach, wie es sich anhört.
Seinerzeit gab es in China in diesem Beispiel nur Autos, die über die staatliche Import-Export-Gesellschaft nach China gebracht wurden und wo die Import- und Exportgesellschaft das Monopol hatte, diese Wagen an irgendwelche chinesischen Firmen oder später auch Privatleute zu verkaufen.
Das Ganze dauerte in China dann oftmals Monate, manchmal mehr als ein Jahr, bis irgendeine Fabrik oder ein Privatmann so ein von den staatlichen Organisationen importiertes Auto zur Verfügung gestellt bekam.
Das musste alles umgangen werden.
Meine Autos sollten also vorbei an den staatlichen Behörden direkt auf den Markt in die Kleinstadt gebracht werden. Danach wird es dann schnell und günstig bar verkauft.
Oder mit einem Kredit einer lokalen Bank, wo der Direktor die Möglichkeit hatte, einer kleinen Firma oder auch Privatleuten ohne große staatliche Formalitäten einen Kleinkredit zu geben, damit das Auto bezahlt werden kann.

Nach einigen Monaten war dann diese ganze Transaktion vorbei.
Die Kozbank hätte – ich sage jetzt bewusst, hätte –, wenn sie das Geld nach Japan oder Südkorea geschickt hätte, dann einige Monate warten müssen.
Ohne irgendwelche Garantien, ohne irgendwelche Informationen, was mit den Autos geschieht, und ohne irgendwelche Information, wie gerade der Stand der verschiedenen Transaktionen ist.
So sollte es laufen.
So war es aber auch die einzige Möglichkeit, mit solchen Autos zu handeln und Geld zu verdienen.
Aber keine Bank der Welt oder besser gesagt keine Bank in Deutschland war bereit, so ein undurchsichtiges und diffuses Risiko einzugehen.
Der Handel mit Autos war hier nur ein Beispiel zum Verständnis.

Realität

In Wirklichkeit ging es um viel kompliziertere Waren und Artikel.
Um dieses Panorama, was ich jetzt hoffentlich einigermaßen klar und verständlich als Beispiel erzählt habe, zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, blieb nur die Möglichkeit, etwas zu versuchen und zu organisieren, was ich einmal als typisch Thomas Deckel bezeichnen möchte.

Operationen

Die folgenden Seiten sind das Resultat von mehrjährigen, langwierigen und komplizierten Operationen, die ich fast alle persönlich durchführen musste.
Nur unterstützt von meinem guten Freund Franziskus und meinem späteren sehr guten chinesischen Freund Liu Bo Pin.
Der Grundgedanke war an sich einfach:
Die Kozbank wollte Geld verdienen und kein exotisches Risiko dabei eingehen.
Sie war aber bereit, das normale Bankrisiko einzugehen, was ja auch die Möglichkeit beinhaltet, dass der Kunde mit dem Kredit eventuell schlecht arbeiten würde und der Kredit zum Schluss notleidend und schließlich seitens der Bank als verloren erklärt werden muss.
Meine Lösungsidee war, dass ich in der Schweiz ein oder zwei Organisationen gründen muss, die sich mit Recht als so seriös darstellen würden, dass die Kozbank diesen Organisationen Kredite gibt.
Auf der andern Seite darf niemand offiziell bei der Kozbank wissen, dass hinter einer solchen Schweizer Firma am Ende auch ein Mensch namens Thomas Deckel steckt.
Das wäre sowohl für die Bank als auch für mich ein nicht wieder gutzumachender Nachteil geworden.
Anonym
Solche anonymisierten Geschäftsvorfälle gab es davor in der Schweiz, sogenannten Nummernkonten.
Da sagte keine Schweizer Bank, wer der Inhaber eines Kontos ist, und die Sache war erledigt.
Das gab es aber nicht mehr.
Die Amerikaner hatten mit großem Druck auf die Schweiz es geschafft, dass diese Art der anonymen Geldverwaltung gestoppt wurde.
Und damit hatten sie Erfolg.
Aber wie bei jeder guten neuen Idee gibt es auch oftmals Wege, das zu erreichen, was man gerne möchte.
Ich muss zum Verständnis jetzt einen gedanklichen Sprung machen.

Panama

Wir befinden uns jetzt in Panama.
In Panama gibt es große Anwaltskanzleien, die nichts weiter tun als in Situationen, wo es um anonyme Geldtransfers geht, zu helfen, um damit Geld zu verdienen.
Das Prinzip ist auch hier ganz einfach:
Ein Anwalt in Panama gründet ganz offiziell eine kleine Firma.
Nennen wir sie einfach „Sonnenschein“.
Diese Firma Sonnenschein wird ganz legal gegründet.
In der Gründungsurkunde steht der Anwalt als einziger wirtschaftlich Berechtigte, also auch als einziger Gesellschafter.
Jetzt verkauft die Firma Sonnenschein ihre Firma an irgendeine internationale Firma, die sich ebenfalls mit Geldgeschäften beschäftigt.
Nennen wir diese neue Firma Vollmond.
In dem Moment, wo die Firma Vollmond jetzt die Firma Sonnenschein gekauft hat, verschwindet in Panama der Name des Anwalts, weil es mit der Firma Vollmond einen neuen Inhaber gibt.
Einziger jetzt erkennbarer neuer Besitzer der Firma Sonnenschein ist somit jetzt die Firma Vollmond.
Meist mit Sitz irgendwo auf einer kleinen Insel auf der südlichen Erdhalbkugel oder in irgendeinem kleinen Ort, den sonst niemand kennt.
Der einzige Zweck dieser beiden Operationen, die hier mit Sonnenschein und Vollmond bisher durchgeführt wurden, war eine komplette Anonymisierung der Besitzverhältnisse von Sonnenschein und Vollmond.

Die Stiftung

Jetzt zurück in die Schweiz.
Dort wird die Firma Vollmond in eine Stiftungsliste eingetragen.
Sie wird also als eine ganz spezielle Firma geführt, deren Zweck in einer Stiftung besteht.
Wer oder was damit bezweckt werden soll, spielt hier keine Rolle.
Die Besitzer der Firma Vollmond gehen jetzt in der Schweiz zu irgendeiner großen internationalen Schweizer Bank und beantragen ein Konto für die Firma Vollmond.
Da die Firma inzwischen als Stiftung eingetragen ist, kann die Bank offiziell davon ausgehen, dass dies keine böse Firma ist, und Vollmond bekommt ein Schweizer Bankkonto.
Die Firma Vollmond wird geleitet von einem Anwalt oder einem Anwaltskonsortium, deren Lebensaufgabe nur darin besteht, solche Firmen zu leiten.
Sie brauchen im Rahmen ihrer Tätigkeit auch nicht viel zu dokumentieren.
Es gibt ja auch nicht viel zu dokumentieren, denn außer der Tatsache, dass die Stiftung Vollmond eine inzwischen total anonymisierte Firma Sonnenschein aufgekauft hat, ist nichts weiter passiert.
Jetzt muss die Firma Vollmond aber allmählich auch anfangen, etwas konkret zu tun.
Sie bespricht mit der Schweizer Bank, die der Firma Vollmond ein Konto eingeräumt hat, eine Geschäftsidee.

Die Idee

Die Bank soll der Firma Vollmond einen Kredit geben, und zwar ungefähr in der Höhe wie eine andere Bank, mit der die Firma Vollmond eine erste Transaktion durchführen wird.
Hört sich kompliziert an, ist aber einfach:
In Hamburg wird der Kozbank mitgeteilt, dass eine Firma Vollmond in der Schweiz eine gute und seriöse Abwicklung eines etwas komplizierten internationalen Geschäfts durchführen möchte.
Dazu braucht die Firma Vollmond weitere internationale Kreditgeber.
Einen Kreditgeber hat sie schon.
Die Kozbank fragt jetzt, wer der Kreditgeber ist und wie hoch der Kredit ist, und Vollmond sagt: Das ist die Schweizer Bank XY und der Kredit beträgt nur als Beispiel eine Million Euro.
Jetzt prüft die Kozbank, ob die Schweizer Bank einen solchen Kredit auch wirklich an Vollmond geben wird und fragt dort an.
Die Schweizer Bank antwortet ganz einfach und nüchtern: Ja, wir sind bereit, der Firma eine Million Kredit zu geben.
Sie sagt nicht direkt, dass diese Million nur dann von ihr kommen würde, wenn auf der anderen Seite auch von der Kozbank eine Million kommt.
In diesem Fall, wenn die Kozbank-Million gezahlt wurde, hat die Schweizer Bank mit der Kozbank-Million eine hundertprozentige Sicherheit ihres eigenen Kredits.
Bei der Kozbank wiederum ist man beruhigt, dass eine renommierte Schweizer Bank eine Million Kredit zusagt, und man informiert Vollmond, dass man bereit ist, auf dieser Basis der Firma Vollmond eine Million Kredit zu geben.

Die Waage

Das alles ist bis jetzt so ungefähr wie ein Spielchen mit einer Waage, wo man gleichzeitig immer beide Teller mit ein bisschen Gewicht belegen muss, damit die Waage immer schön im Gleichgewicht bleibt.
Der Schluss dieser kleinen Episode ist einfach:
Die Kozbank zahlt eine Million an die Bank von Vollmond.

Nicht mehr nötig

Vollmond erklärt jetzt der Schweizer Bank, dass man im Prinzip den Kredit der Schweizer gar nicht mehr benötigt, sondern bittet, dass die Schweizer Bank diese Million, die jetzt von der Kozbank eingetroffen ist, nach Australien, Südafrika und Südamerika weiterleite.
Und zwar an dortige Auktionsfirmen und Rohwaren-Exporteure, weil man sich entschlossen hat, in das internationale Leder- und Schuhgeschäft einzusteigen.
Man würde in Australien, Südafrika und Südamerika Rohware wie zum Beispiel Rindleder oder Schweinehäute kaufen, diese nach China schicken, dort zu Schuhen verarbeiten und die fertigen Schuhe zurück nach Europa und Nordamerika verkaufen.

Der Kreislauf

Das Ganze wird sich innerhalb des Zeitraums des Kredits bewegen, der zum Beispiel mit einem Jahr ausgelegt war.
Vollmond schickt das Geld der Kozbank in die Länder, wo die Rohware herkommt. Die dort gekauften Rohwaren werden nach China geschickt.
Sie werden in China bei der Einfuhr auf irgendeine Art und Weise an den offiziellen Stellen vorbeigeleitet, was in China schon immer möglich war, mit den entsprechenden kleinen Geschenken für die unteren und mittleren Funktionäre.
Die Schuhe werden in China produziert und in Europa an einige große Supermärkte verkauft.
Das Geld der Supermarkt-Kunden landet schließlich wieder auf dem Konto bei Vollmond.
Die Schweizer Bank von Vollmond leitet hiervor jenen Kreditbetrag zurück an die Kozbank, der vor vielen Monaten am Anfang der Transaktion von der Kozbank an die Schweizer Bank geflossen war.

Gewinn

Man hat mit dieser einen Million Kreditsumme einen Gewinn von zweihunderttausend gemacht.
Vollmond hat dabei ein gutes Geschäft gemacht und die Kozbank ist stolz und glücklich, dass sie international weitere Kunden gewonnen hat.
Nach kurzer Zeit beginnt das Spielchen von Neuem, alles in der gleichen Art und Weise.
Nur dass sich inzwischen auf dem Konto bei Vollmond nicht nur eine Kreditsumme, sondern auch schon Eigenkapital angesammelt hat.
Nach einer gewissen Zeit, die je nach Geschäftsvorfällen kürzer oder länger dauern kann, hat sich die Firma Vollmond zu einer seriösen, pünktlich zahlenden und sehr schnell im internationalen Markt reagierenden Firma entwickelt.

Privat

In einer ganz privaten Mitteilung, die nur in den Akten des Anwalts oder der Anwaltsfirma ist, die Vollmond in der Schweiz vertreten, gibt es folgenden Hinweis:
Sinn dieser „Stiftung Vollmond“ ist es, dass es einer Dame mit der Passnummer abc345 ihr Leben lang gut gehen soll.
Falls sie unter der angegebenen Passnummer aus irgendwelchen Gründen nicht mehr auffindbar sein sollte, gilt die Vollmacht auch für die Personalausweisnummer 864awd23.
Der Anwalt hat sich per Unterschrift verpflichtet, diesen einigen Punkt der Satzung der „Stiftung Vollmond“ jederzeit gewissenhaft zu erfüllen.
Sollte der Fall eintreten, dass die Inhaberin dieser Passnummer oder der Personalausweis-Nummer wirklich Hilfe benötigt, kann die Anforderung zur Hilfe auch von dritter Seite erfolgen.
Jeder, der über die beim Anwalt hinterlegte Passnummer oder Personalausweis-Nummer Kenntnis hat, ist berechtigt, solche Instruktionen zur Hilfe auszusprechen.
Bei der Passnummer handelt es sich in diesem Fall um einen gültigen chilenischen Pass, bei dem Personalausweis um die Nummer eines gültigen dominikanischen Personalausweises.
Dieser einzige private Hinweis wird nach Schweizer Recht niemandem ausgehändigt, ist aber für die Geschäftsleitung der Stiftung Vollmond und dessen amtierenden Anwälten zu 100 % bindend.
Der Name des Inhabers von Pass + Personalausweis erscheint nirgends.
Der Name irgendwelcher Familienmitglieder dieser Person erscheint nirgends.
Alles ist legal und niemand weiß gar nichts.
Das ist ungefähr das Schema einer normalen modernen internationalen Stiftung, wie sie zehntausendfach existieren und durchgeführt werden.

Verwirrung

Wenn man alles etwas schneller und einfacher machen möchte, gibt es einen kleinen Trick, der mit der Auffassungsgabe des menschlichen Gehirns zu tun hat.
Man gründet am besten gleichzeitig in Panama neben Sonnenschein noch eine Firma Vollmond und in der Schweiz neben Vollmond noch eine Firma Sonnenschein.
Beiden machen genau das gleiche – aber mit dieser Namensgebung dieser beiden Operationen, die beide gleich sind und aber in der Operation genau das Gegenteil darstellen – damit ist jeder normaler Mensch, egal ob braver Bankmitarbeiter oder Sachbearbeiter im Schweizer Stiftungsregister, schlichtweg überfordert.

Zweites Buch

Jetzt zurück zur Kozbank, zur Insolvenz und zu der Aufgabe, alles aufzuschreiben.
Mit der so durchgeführten Grundkonstruktion war Vollmond komplett anonymisiert und legalisiert. Es gab keinerlei Bezug zu irgendwelchen Aktivitäten von Thomas Deckel, und trotzdem hat alles schnell und gut funktioniert.

Bauchweh

Natürlich muss man sich vorstellen, dass so etwas gerade am Anfang nicht einfach ist.
Franziskus und Liu Bo Pin haben hier entscheidend mitgeholfen, die Ideen von Thomas umzusetzen.
Franziskus hatte sehr viele Bauchschmerzen, weil dies genau das war, was er sein Leben lang nicht machte oder nicht machen wollte.
Liu Bo Pin war da schon wesentlich offener und hatte auch mehr Möglichkeiten.
China wurde immer offener.
Mit Lius Hilfe und den ganzen Sachen, die dann passierten, konnte bald auch eine eigene Firma in China gegründet werden und alles wurde noch besser, größer und einfacher.
Wie konnte es trotz dieser ganzen im Prinzip sehr positiven Berichtsweise, in der ich bis jetzt erzählt habe, dann trotzdem zu einer so großen Insolvenz kommen?

Versionen

Ich habe an anderer Stelle und bei anderen Gelegenheiten gelegentlich folgende Version erzählt:
Ich bekam durch völlig übermäßiges Arbeiten – weil ich als einziger über alles Bescheid wusste und Tag und Nacht nur mit diesen ganzen Sachen zu tun hatte – Hautkrankheiten.
Die beeinträchtigten sehr schnell meine Schaffenskraft.
Ich musste die Firma abgeben.
Ich übergab sie den Angestellten.
Die konnten alles das, was ich vorher gemacht hatte, nicht in der richtigen Form weitermachen und nach zwei oder drei Jahren war keine Substanz mehr da und es erfolgte eine Insolvenz.
Diese Version ist nachvollziehbar, hört sich logisch an, und ich könnte sie sicherlich jedem gegenüber klar und deutlich formulieren und glaubhaft auf den Tisch legen.
Die Wahrheit ist, dass diese Version nur einer von verschiedenen Gründen war.
Nach meiner ehrlichen Meinung sogar nicht einmal der ausschlaggebende Grund.

Die Banken

Die Kozbank war ungefähr seit Anfang der Neunzigerjahre inzwischen die einzige Bank, die uns Kredite gab und mit der wir alles abwickelten.
Das war ganz im Sinne der Kozbank, sie hatte es geschafft, sich als einzige Bank in unsere Firma einzubringen, und das bedeutete, dass diese Bank dann auch – wenn es drauf ankommt – mitbestimmen kann, wie es weitergeht.
Wenn man mehrere Banken hat und eine neue Geschäftsidee, fangen die Banken an, sich zu streiten, oder jeder will seine Version durchbringen.
Die zehn Jahre von 1990 bis 2000 waren praktisch Jahre, wo ausschließlich die Kozbank mit der Firma zusammenarbeitete.
Ab zweitausend kam dann die Norspa bei dazu, die Norddeutsche Sparkasse.
Die Norspa war inzwischen die größte deutsche Sparkasse geworden und wollte sich jetzt auch im internationalen Bankgeschäft profilieren.
Mit der Norspa habe ich immer ein sehr gutes persönliches Verhältnis gehabt.
Die Norspa hat mir Kredite in Millionenhöhe angeboten.
Teilweise habe ich sie ausgenutzt, teilweise brauchte ich sie gar nicht.
Bei der späteren Insolvenz der Firma ist die Norspa ohne einen einzigen Euro Verlust herausgekommen.
Sie hatte zwar noch ungefähr 1.300.000 Euro an Krediten bei uns als Kredite laufen, aber ich habe es so hinbekommen, dass die Gelder der Kunden, die Ware erhielten, die über die Norspa finanziert waren, dass diese Gelder direkt von den Kunden an die Norspa gezahlt wurden und die Norspa somit alles zurückbekommen konnte.
Nach Abschluss der gesamten Insolvenz hatte die Norspa noch ungefähr 220.000 Euro Plus auf den Konten meiner Firma. Diese Gelder sind dann in die Insolvenzmasse eingeflossen.
Die Norspa hat mir später auch persönlich bestätigt, dass ich sie 100 % korrekt behandelt habe.

Probleme

Mit der Kozbank gab es dann im Laufe der Zeit zwei Probleme, die immer größer wurden.
Zum einen hatte die Kozbank erst ein bisschen, später immer dringender und offener den Wunsch geäußert, dass die Frage der Haftung in der Firma besser gelöst wird.
Bis dahin war es praktisch so, dass alles Nötige in meinem Kopf vorhanden war.
Aber wenn ich irgendwie gegen den Baum fahren würde oder unheilbar krank werden sollte oder sonst wie total ausfallen würde, dann würde mit Sicherheit niemand wissen, was mit der Firma zu machen wäre.
Diese Einstellung ist an sich vernünftig und von mir auch nachvollziehbar.
Hier wurde dann nach vielen Gesprächen und Diskussionsrunden eine Lösung gefunden, die es in Deutschland seinerzeit sehr selten gab.

Die Lösung

Die Firma wurde umgewandelt in eine AG.
also Henckell AG.
Eine AG oder Aktiengesellschaft ist normalerweise immer ein Riesenunternehmen, wo es Millionen von Aktien gibt, die an der Börse gehandelt werden.
Jeder kann mit hundert oder tausend Euro solche Aktien kaufen und ist dann ein ganz kleiner Mitbesitzer an der Firma.
Im Prinzip ist das gesamte Kapital der Firma bei den Aktionären.
Dabei gibt es fast immer einige riesige Großaktionäre und manchmal Millionen von Kleinaktionären.
Aber alles ist so geregelt, dass das Kapital einer AG bei den Aktionären und nicht bei der Firma selber vorhanden ist.
Die seinerzeitige Regierung in Deutschland hatte sich ein neues Mittelstandskonzept überlegt und sie propagierte plötzlich sehr stark die von ihr vorgeschlagene sogenannte Klein-AG.
Hiermit sollte es kleinen oder mittelständischen Unternehmen ermöglicht werden, sich in kleine Aktiengesellschaften umzuwandeln.
Sie würden dann die Vorteile einer AG bekommen, gleichzeitig aber auch mehr oder weniger im gleichen Stil weitermachen können.

Die Idee

Im Idealfall sollte es dann so aussehen:
Nehmen wir einmal meine Firma als Beispiel.
Wir hatten ungefähr ein Kapital von 2.000.000. Euro.
Das wird dann aufgeteilt in Aktien, die frisch gedruckt werden.
Jetzt sollen also für zwei Millionen Euro frisch gedruckte Aktien an irgendwelche Aktionäre verkauft werden.
Im Nennwert von sagen wir zehn Euro oder hundert Euro oder tausend Euro.
Bis dahin alles ganz normal.
Der Sinn einer solchen Operation war aber laut Vorstellung des Gesetzgebers ein ganz anderer.

Aufsichtsrat und Vorstand

Die Kapitalgeber – also die Aktionäre einer Aktiengesellschaft – bilden eine Art Club.
Auf einer Aktionärsversammlung wählen die Aktionäre dann wie in einem Club einen Präsidenten und einige Stellvertreter und übergeben diesem Präsidium die Aufgabe, sich mehr oder weniger hauptberuflich mit den Geschäftsführern der AG auseinanderzusetzen.
Also vereinfacht:
Auf der einen Seite –
Die Aktionäre als Kapitaleigener vertreten durch von den Aktionären eingesetzte Bevollmächtigte (der sogenannten Aufsichtsrat).
Auf der anderen Seite –

Der Vorstand.

Der Vorstand setzt sich meistens aus den leitenden Managern zusammen, die die Firma im täglichen Geschäft leiten.
Das sind hauptberuflich erfahrene Manager, die wissen, wie man eine Firma führt.
Sie sind aber reine Angestellte und bekommen ein großes Gehalt.
Im Erfolgsfall, wenn Sie die Firma gut geführt haben, bekommen Sie meistens auch noch eine gute Prämie dafür, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die Firma gut verdient hat und die Aktionäre Dividenden bekommen.
Soweit die normale Struktur einer normalen AG.
Bei der Klein-AG sollte es in der Theorie genauso sein wie bei der Großen.

Theorie

Aber Theorie ist nur einmal Theorie.
Die Firma Deckel & Co wurde von einer Privatfirma umgewandelt in eine Firma Deckel AG.
Ich selber war plötzlich nicht mehr Inhaber der Firma, dafür leitender Angestellter oder Manager.
Weil ich auch der Einzige war, der über alles in der Firma Bescheid wusste.
Ich musste aber als leitender Manager den Aktienbesitzern – also den Aktionären – gegenüber berichten und mich rechtfertigen und alles erklären.
Nur gab es bei dieser Firma überhaupt keine Aktionäre.

Hübsch bunt

Es wurden für zwei Millionen Euro Nennwert Aktien irgendwo gedruckt.
Hübsch angemalte kleine Papiere.
Damit es nicht ein Riesenhaufen buntes Papier wurde, hatte ich den Wert jeder Aktie auf zwanzigtausend Euro bestimmt.
Wer zehn Aktien hatte, hatte somit zweihunderttausend Kapital.
Wer alle hundert Aktien hatte, der hatte das gesamte Kapital von zwei Millionen Euro und war alleiniger Aktionär und damit Inhaber dieser AG-Firma.
Es gab in Deutschland niemanden, der darüber Bescheid wusste, dass eine neue Klein-AG gegründet wurde.
Es gab keine Veröffentlichungspflicht wie bei der großen, normalen AG.

Das Geschenk

Ich ließ die Aktien drucken und als sie trocken waren, erhielt mein Vater zu seinem 70. Geburtstag als besonderes Geschenk eine Aktie der Deckel-AG über zwanzigtausend Euro.
Ersah mich bei der Überreichung der Aktie und der ausschweifenden Erklärung zu seinem bunten Geburtstagsgeschenk ziemlich blöd an und verstand nur Bahnhof.
Seine Demenz war in dem Stadium erst ganz gering, aber man hätte annehmen können, in diesem Moment hätte sie ihn schon 100 % ergriffen.
Mein Vater hat sein Leben lang nicht verstanden, was ich da auf Betreiben der Kozbank gemacht hatte – und das war dann auch gut so.
Im Grunde genommen hatte sich durch diese Klein-AG überhaupt nichts geändert.

Doppelt gemoppelt

Ich selber war vom allgemeinen Chef jetzt zum allgemeinen Manager degradiert, und vom früheren Alleininhaber, der über Gewinn und Verlust der Firma verantwortlich zeichnete, war ich jetzt auf der anderen Seite auch zum allgemeinen Aktionär der Firma geworden.
Also zwei Funktionen in einem einzigen Menschen – und damit war das Ganze absolut ad absurdum geführt worden.
Mich persönlich erinnerte dies alles ein bisschen an Sonnenschein und Vollmond, aber das wusste damals niemand und daran hat sich bis heute auch nicht viel geändert.
Aber den Auflagen der Kozbank war Genüge getan, und sie konnte jetzt in ihren Bericht über die neue Firma Deckel-AG reinschreiben, dass man eine gute Verbindung sowohl zum Aufsichtsrat als auch zum Vorstand hat.
Und das wiederum war für die Kozbank und deren Regularien, wie sie mit AG-Kunden umzugehen hatte, sehr wichtig.

Die Nachfolge

Der nächste Punkt, den die Kozbank erledigt haben wollte in ihrer To-do-Liste, war die Frage der Nachfolge.
Normalerweise war die Frage schon mit der Gründung der AG erledigt – denn jetzt konnten externe Manager die Firma übernehmen und leiten – sofern sie von den Aktionären dazu eingeladen und ansprechende Verträge unterschrieben wurden.
Das war natürlich bei Thomas nicht der Fall, weil alles weiterhin in Personalunion bei Thomas Deckel lag.
Aber die Kozbank bestand weiterhin auf der Frage der Nachfolge und der Frage der Organisation, wie solche Nachfolge geregelt werden kann.

Vier

Es hat während der Zeit, in der ich die Firma geleitet hatte, vier Versuche gegeben, einen Nachfolger heranzuziehen und zu entwickeln.
Alle vier sind glanzvoll gescheitert.
Zuerst war meine Schwester Anne dran.
Sie leitete, bevor sie nach Südafrika zu ihrem Ehemann Gebhard ging, eine Abteilung in der Firma, die sich mit Dekorationsfellen beschäftigte: also den Verkauf von Fellen von Zebra, Eisbär, Tiger und Zebu – alles, was schön teuer und geschmacklos war.
Das machte sie gut und erfolgreich.
Aber sie verwaltete letzten Endes nur das, was ich irgendwie und irgendwann auf der Welt zusammengekauft hatte.
Sie kaufte niemals irgendwas selber ein, war nie in den Ursprungsgebieten in Nord- und Südamerika oder Asien und machte eine reine Schreibtischverwaltung.
Sie hat dann später in der Firma ihres Mannes Gerd in Südafrika die gesamte Buchhaltung geführt, gut und sehr erfolgreich.
Sie wusste über die Hintergründe der Firma in Südafrika jederzeit Bescheid.
Aber eine Verwaltungsaufgabe ist keine gestaltende Aufgabe.
Dann kann Theo, der Sohn von Frank Deckel.
Ein ganz netter und freundlicher Mensch.
Er kam aus dem Vertrieb, konnte lächelnd und gut verkaufen.
Aber ihm fehlten – um es mal ganz einfach zu sagen – die Härte und die Schlitzohrigkeit, um überhaupt ein bisschen mit der Firma voranzukommen.
Er hat es dann auch schnell eingesehen und sich aus der Firma wieder zurückgezogen.
Sehr zum Leidwesen seines Vaters, der sein Leben lang eine solche reine Angestellten- und Verwaltungstätigkeit in der Firma machte, wo sein Vetter der allgemeine Chef war.
Und später ich.
Dann kam Ivo.
Frisch von der Uni und mit allen möglichen theoretischen Kenntnissen.
Von den gesamten Sachen, die er in jahrelangem Studium an der Uni gelernt hatte, konnte er von Anfang an nicht eine einzige umsetzen.
Die Differenz oder besser gesagt der Unterschied zwischen Theorie und Praxis bei Führung einer Firma hat sich für mich noch nie so klar und drastisch gezeigt wie in der kurzen Zeit, als Ivo in der Firma war, um herauszufinden, ob er sie eventuell eines Tages übernehmen könnte.
Er war überzeugt, dass er alles richtig gelernt hatte.
Und er war überzeugt, dass ich bis dahin alles komplett verkehrt durchgeführt hatte.
Deswegen war er überzeugt, dass er nach irgendwelchen Universitäts-Betriebswirtschafts-Lehren diese Firma auf den richtigen und vernünftigen Weg führen könnte.
Ich habe ihn dann ein oder zweimal mit nach China genommen, um auch in der Praxis zu erleben, wie er reagiert.
Es war ein einziger Reinfall.
Ivo hat von der nötigen Fantasie, um so ein kleines und sehr individuelles Unternehmen zu führen, so viel Ahnung wie das berühmte Nilpferd vom Bergsteigen.
Nur dass es dem Nilpferd im Prinzip egal ist, ob es den Berg raufgehen muss oder nicht, es bleibt lieber gleich unten.
Bei Ivo hatte ich den Eindruck, dass er auf die ganzen Menschen um ihn herum schimpfte, weil sie ihm einen Berg vorsetzten, den er nicht besteigen konnte, weil er überhaupt nicht wusste, wie man so etwas macht.
In seiner Theorie geht man zur Talstation, kauft sich ein Ticket für die Seilbahn und fährt damit nach oben.
Oben macht man Fotos und ist dann oben angekommen.
So eine Seilbahn gab es nicht und hat es später auch nie gegeben.
Irgendwann habe ich Ivo dann klargemacht, dass hier nicht der richtige Platz für ihn sei.
Er mag ein sehr guter Theoretiker sein, aber seine Fähigkeit liegt wahrscheinlich doch eher darin, ein kleiner Abteilungsleiter in irgendeiner großen Firma zu werden.
Da hat man Leute über sich und unter sich, und das Leben ist klar, einfach und überschaubar.

Und zum Schluss kam Anke.
Sie hatte von Anfang an erklärt, dass sie nur das machen würde, was sie kann und was sie gelernt hat.
Also ein bisschen mit Speditionen zu arbeiten, ein bisschen mit Bankpapieren und Frachtbriefen usw. zu arbeiten – alle Tätigkeiten einer normalen Angestellten-Funktion.
Das machte sie gut und ordentlich.
Aber sie hat sich von sich aus sofort geweigert irgendetwas anzunehmen, was auch nur den Hauch von Kreativität gehabt hätte.
Also auch, auf Deutsch gesagt, ein Total-Flop für eine Geschäftsübernahme.
Diese vier Experimente hatte ich alle schon hinter mir.

Bemüht

Der Bankberater der Kozbank, den ich in der ganzen Zeit sehr zu schätzen lernte, hatte in Bezug auf eventuelle Nachfolger von mir dir sprechende Kommentare gehört und konnte sie alle nur bestätigen.
Es lief darauf hinaus, dass man schlussendlich in die Akten der Kozbank schrieb:
… Um die Nachfolgeregelung wird sich weiter intensiv bemüht.
Das war’s dann auch.

Erledigt

Als der Bankberater später pensioniert wurde, haben seine Nachfolger, junge Leute ohne irgendwelche Ahnung, diese Bemerkung wahrscheinlich nie in den Aufzeichnungen ihres Vorgängers gefunden und gelesen.
Zusammengefasst:
Durch die Umwandlung in eine Klein-AG und den Versuch, eine Nachfolge aus der Familie herauszuschaffen, hat sich nicht eine einzige Veränderung konkretisiert.
Der Versuch, Thomas Deckel seitens der Aktionäre durch irgendwelche Manager zu ersetzen, ist schlicht daran gescheitert, dass niemand gesucht wurde.
Und damit war auch dieses Thema erledigt.

Olympisch

In den nächsten fünf Jahren 1999 bis 2004 entwickelten sich die Geschäfte der Klein-AG ganz anders, als der Name es vermuten ließ.
Thomas nannte diese Entwicklung olympisch.
Immer höher, größer und weiter.
Sie wurden mit jedem Jahr auch komplizierter, aber trotzdem weiterhin beherrschbar.
Der Chef der Klein-AG reiste öfter um die Welt als mancher Berufspilot und entwickelte dabei auch gelegentlich seine ganz persönliche Philosophie.

Philosophisch

Beim Einstieg ins Flugzeug versuchte er immer einen kleinen Blick ins Cockpit zu erhaschen.
Die hunderte von Schaltern, Lampen und sonstigen kleinen und größeren Anzeigen und Geräte über-, vor-, neben-, hinter- und unter den beiden Piloten faszinierten ihn jedes Mal aufs Neue.

Aber wenn er gelegentlich irgendwo auf der Welt zufällig im gleichen Hotel abstieg wie die Flugzeugbesatzung, mit der er dorthin geflogen war, dann lernte er abends an der Bar die Philosophie vieler erfahrener Chefpiloten kennen.
Die fühlten sich, je älter sie waren, fast alle als Busfahrer, die einfach eine Gruppe Menschen von A nach B brachten.
Und sie beneideten gelegentlich sogar den wirklichen Busfahrer, der jeden Abend zu Hause am Abendbrotstisch sitzen konnte, um sich mit ihrer Familie ein bisschen zu unterhalten.
So reduzierte diese hoch spezialisierte Berufsgruppe ihr Wissen auf das Wesentliche – wie man nach oben fliegt und wieder unten ankommt – und das war’s dann.
Wenn Thomas dann gelegentlich nach seiner Tätigkeit gefragt wurde und auch ab und zu etwas aus dem Nähkästchen plauderte, fanden es die Piloten oftmals wesentlich interessanter als die Startpisten, Reisehöhen und Landepisten, mit denen sie jeden Tag zu tun hatten.

Hell und dunkel

Irgendwann fing der Chef der Klein-AG an, seine abendlichen Geschichten mit Sonnenschein anzufangen und mit Vollmond zu beenden.
Die Kapitel dazwischen waren mal kürzer und mal länger, meistens einigermaßen interessant und irgendwann begriff er, dass es irgendwo auf der Welt immer etwas Sonnenschein gab – und gleichzeitig war auf der anderen Hälfte der Welt dann Vollmond.
Mit diesen beiden Begriffen hatte er weltumspannend etwas aufgebaut, auf das die erfahrenen Flugkapitäne mit Kopfnicken und Anerkennung reagierten.
Es gab manchmal noch einen anderen Vergleich, den er gerne hervorbrachte, wenn er meinte, es sei Zeit auch darüber einmal etwas zu reden –
Die Passagiere im Flugzeug hatten meistens schon länger oder teilweise sogar sehr lange im Voraus ihre Flüge gebucht und waren jetzt dabei, diese Buchungen zu realisieren.
Die Kapitäne halfen dabei.
Aber sie wussten letztendlich nicht, warum ihre Passagiere zu mal günstigen und mal sehr teuren Preisen mit ihnen um die Welt flogen.
Im System der Klein-AG war es ähnlich, wenn auch in der Durchführung ganz anders.

Termin-Geschäfte

Es gab in der Landwirtschaft weltweit die Möglichkeit, dass große landwirtschaftliche Betriebe ihre Erzeugnisse – sei es Getreide, Gemüse, Fleisch und Wolle – schon im Voraus zu einem ganz bestimmten Preis an den Terminbörsen verkaufen konnten.
Oftmals waren die Kälber oder Lämmer noch gar nicht geboren, deren Wolle und Leder schon auf den internationalen Handelsmärkten verkauft wurden.
Bei den Produkten der Klein-AG war es im Grunde genommen ähnlich.
Der Farmer in Patagonien im Süden Argentiniens oder in Australien oder in den Weiten der südafrikanischen Provinzen verkauft ihre Produkte, bevor sie überhaupt erzeugt wurden.
So hatten sie eine Sicherheit, was sie dafür eines Tages bekommen würden.
Die Klein-AG kaufte über Sonnenschein und Vollmond ebenfalls einen – wenn auch sehr kleinen Teil – dieser zukünftigen Ernten.
Die Ware selber wurde irgendwann – meist viele Monate später – nach China oder Nordkorea verschifft.
Dort wurde aus der Wolle eine angenehme und günstige Bekleidung hergestellt, aus dem Leder später die Schuhe oder Handschuhe oder die Lammfell-Autositzbezüge für hunderttausende von Autos in Deutschland und dem restlichen Europa und Amerika.
Alles geschah mit Hilfe von Sonnenschein und Vollmond.
Nur der Chef dieser Klein-AG wusste – genauso wie seine Piloten-Kollegen, wie das Ganze zu machen war, ohne dass man abstürzte.
Aber das reichte.

Risiko

Nach diesem kleinen Querschnitt durch die letzten fünf Jahre wieder zurück in die deutsche Provinz.
In den Anfängen des weltumspannenden Handels von Sonnenschein und Vollmond herrschte eine nachvollziehbare Unsicherheit über die verschiedensten Faktoren.
Schafften es die verschiedenen chinesischen Fabriken irgendwo im Norden an der russischen Grenze oder in Zentralchina in der Nähe der Mongolei, ihre Produkte rechtzeitig anzufertigen und so zurückzuschicken, dass sie 6–8 Monate später als wöchentlicher Knaller in den großen Sonderangeboten bei Aldi auf der Donnerstagsseite standen?

Knaller

Damals war jeder Donnerstag Aldi-Tag, und in jeder Woche musste ein absoluter Knaller dafür sorgen, dass an diesem Tag die Hausfrauen, Rentner und alle sonstigen Familien möglichst geschlossen ihren Weg fanden in die über dreitausend Läden dieser größten europäischen Supermarktkette.
Jedes Jahr war dann auch Ende Oktober der Klein-AG-Tag.
Der Artikel – es handele sich um einen typisch deutschen Artikel, man nannte ihn Lammfell-Autositzbezüge – war ein absolutes Muss für Taxifahrer und Rentner im gepflegten Gebrauchtwagen.
Und davon gab es mehr als genug.

Vorsicht

Als vorsichtiger Unternehmer kannte der Chef der Klein-AG die Risiken zu Genüge.
Er war inzwischen über zwanzig Jahre in China tätig und hatte so ziemlich alle Katastrophen miterlebt.
Er hatte aber auch gleichzeitig miterlebt, wie die Chinesen selber es immer wieder verstanden, auch die kleinsten Unwägbarkeiten so zu meistern, dass sie zum Schluss ein korrektes Produkt in der korrekten Zeit abliefern konnten.
Gleichzeitig gab es auch immer wieder Situationen, wo zum Beispiel im Winter in China die LKWs mit ihren Containern die Berge in den Provinzen nicht mehr rauf und runter fahren konnten, um zum nächsten Hafen zu kommen.
Oder die Kapitäne der chinesischen Schiffe taten das, was die chinesischen Kapitäne seit über tausend Jahren tun, wenn das Meer etwas unruhig ist – sie suchen Schutz im nächsten Hafen.
Und zwar solange und gründlich, bis das Meer möglichst wieder so glatt war wie ein Kinderpopo.
All dies bewog den Chef unserer Firma dazu, jedes Jahr ungefähr 10–15 % mehr produzieren zu lassen, als er vertraglich verpflichtet war abzuliefern.

Diese Reserve war gut und beruhigend und auch nicht allzu sehr Kosten treibend, denn der menschliche Rücken, der menschliche Po und die Sitze der Autos verändern sich in hundert Jahren so gut wie gar nicht.
Was vor vier oder fünf Jahren verkauft wurde, konnte in den nächsten vier oder fünf Jahren immer noch verkauft werden.
Die Ware wurde nicht schlecht, sie war keinerlei Mode unterworfen, sie war gut eingepackt, und im Grunde genommen lag sie da wie eine Gruppe von Marmorblöcken, die beim Steinmetz in der Garage aufgestapelt wurden.
Diese Marmorblöcke wurden dann, je nach Bedarf und Wunsch der Familie, irgendwann mit einem Namen, einem Geburts- und Todestag und einem kleinen Engel oder Lorbeerzweig versehen, auf irgendwelchen Friedhöfen hingestellt.
Wobei die Operation des Steinmetz mit Sicherheit noch komplizierter und individueller war als das, was die Klein-AG in großen Mengen jedes Jahr im Herbst aufs Neue machte – Sonnenschein und Vollmond sei Dank.

Das Lager

Die Firma Deckel hatte sich aus Hamburg zurückgezogen.
Die Lagerflächen im Hamburger Hafen oder bei den großen Speditionen wurden immer teurer, es wurde das ganze Jahr über produziert und somit kam das ganze Jahr über jeden Monat weitere Ware an – bloß um an einem Tag im Herbst alles zusammen auszuliefern.
Dazu brauchte man sehr große Lagerkapazitäten und einen relativ kleinen Mitarbeiterstab.
Das fand man in einer Kleinstadt in der Nähe von Hamburg.
Dort wurde gebaut, und dort stapelte sich jedes Jahr auch die gewollte Überproduktion in einer immer größeren Menge.
Da die Geschäfte gut liefen, die Preise akzeptiert wurden – die Klein-AG hatte mit einigen Patenten sich eine Art Monopol auf ihren Spezialartikel erworben – störte es niemanden, dass in einer sehr großen Halle jedes Jahr einige tausend Kartons fein säuberlich aufgestapelt in den Regalen lagen, die als eiserne Reserve für einen unvorhersehbaren mittleren Katastrophenfall gedacht waren.
Die Katastrophe trat dann auch ein, aber völlig anders als geplant und erwartet.

Die Kassen

In den letzten Jahren vor der Insolvenz stellten die großen Kunden ihre Produkte komplett auf EAN- und Kassen-Scanner um.
Früher wurden diese Sonderangebote bei Aldi einfach nur mit einer Nummer versehen.

Die Kassiererin kannte diese Sonderangebotsnummer und alles war erledigt.
Jetzt war zwar die Verpackung noch ungefähr gleich mit der Verpackung des letzten Jahres, aber es gab in jedem Jahr einen neuen Barcode, und entsprechend verweigerte die Kasse im Supermarkt den Kassiervorgang, wenn der Artikel einen Barcode des vergangenen Jahres hatte.
Die Absicht, im Falle einer Lieferschwierigkeit auf diese im Lager vorhandenen großen Reservemengen zurückzugreifen, funktionierte also so nicht mehr – einfach weil dreizehn kleine Ziffern und Buchstaben nicht mehr den richtigen Barcode ergaben.

Günstig

Nach gründlicher Recherche stellte sich Folgendes heraus:
Es war günstiger, diese Reserve-Ware geschlossen nach China zurückzuliefern, dort die gesamte Verpackung aufreißen zu lassen, sie mit dem neuen und aktuellen diesjährigen Barcode-Versehen wieder einzupacken und zurück nach Hamburg zu verschiffen.
Ein konkretes Beispiel: Die ganze Operation von Hamburg zurück nach China, neu einpacken und wieder zurück nach Hamburg hätte pro Stück ungefähr zwei Euro gekostet.
Die gleiche Ware, einige Kilometer von Hamburg entfernt in einer deutschen Sortieranstalt, um zu etikettieren, hätte mit Transport, Auspacken, Neuetikettieren, Einpacken und Rücktransport das Doppelte gekostet.
Das hört sich unwahrscheinlich an, stimmt aber bei vielen Artikeln.

Weinfässer

Die Frau des Chefs der Klein-AG kommt aus Chile.
Dadurch hatte man gelegentlich Besuch aus diesem schönen südamerikanischen Land.
Ein bekannter Weinhersteller aus Chile erzählte irgendwann, dass die Verladung von fünfhundert Fässern seines Rotweins von Chile nach Hamburg genauso teuer ist wie die Verladung dieser fünfhundert Fässer danach von Hamburg in ein Zwischenlager in der Lüneburger Heide, von wo aus der Wein dann in ganz Deutschland verteilt wurde.

Der Test

Der Chef der Klein AG wollte konkrete Zahlen über sein neues Problem.
Es wurde ein Test gemacht, um die Angaben zu prüfen.
Nachdem er im Januar einen neuen Großauftrag von seinem Großkunden erhielt und dabei die EAN- und Barcode-Nummer für das Sonderangebot im Herbst dieses Jahres bekannt gegeben wurde, schickte man zur Probe einige Container zurück nach China, ließ sie auspacken und umpacken und mit dem diesjährigen richtigen Code wieder zurück nach Hamburg bringen.
Die Test-Container waren knapp, aber noch rechtzeitig vor der Auslieferung im Herbst wieder im Lager der Klein-AG in der Nähe von Hamburg.
Und alles zum halben Preis – im Vergleich, wenn man in Hamburg umgepackt hätte.

Rituale

Rituale gehören zum Leben wie die Luft und das Wasser.
Im Geschäftsleben haben Rituale oft etwas mit einem Datum zu tun.
Wenn eine große Firma zu ihrem Bilanzstichtag Daten veröffentlicht, die auf ein positives vergangenes Jahr hinweisen, steigt normalerweise der Wert dieses Unternehmens.
Wenn es sich um eine große Aktiengesellschaft handelt, steigt der Kurs der Aktien dieser Firma an der Börse.
Handelte sich um eine sehr große Aktiengesellschaft, so war sie verpflichtet, nicht nur einmal im Jahr, sondern alle drei Monate eine Information über ihren Geschäftsverlauf zu veröffentlichen.
Diese Quartals-Angaben werden von den Banken sehr gerne und sehr genau verfolgt und durchgelesen.
Wenn daraufhin eine Bank der Meinung ist, dass diese Zwischenberichte ein weiteres Ansteigen der Kurse mit sich bringen könnten, können die Banken ihren Kunden diese Aktien zum Kauf anbieten.
Und dabei verdienen die Banken dann kräftig mit.
Es ist also eines der wichtigsten und am häufigsten durchgeführten Rituale, dass jede Bank die Veröffentlichungen einer Aktiengesellschaft genau verfolgt.

Die Mauer

Und hier begann der erste Stein im Mauerwerk der Klein-AG zu bröckeln.

Das Bröckeln wiederum wurde von den Banken zum Anlass genommen, das Mauerwerk ein bisschen mit der Spitzhacke zu bearbeiten.
Und dies wiederum führte am Schluss dazu, dass die Mauer in sich zusammenbrach.
Solche von irgendwelchen Bank-Experten zerrütteten Mauern haben ungefähr die gleiche Halbwertzeit wie das Fünf-Gänge-Menü im kleinen Luxusrestaurant.
Beides verschwindet nach kurzer Zeit auf Nimmerwiedersehen.

Drittes Buch

Die neuen

Bei der Geschäftsleitung der Klein-AG meldeten sich im Spätherbst des Jahres zwei junge Männer.
Sie seien „Executive Member Research Department“ der Kozbank.
So stand es in dem Brief, der bei der Klein-AG einige Tage vor dem Besuch einging, und auch auf den Visitenkarten, die bei ihrem ersten Besuch von den beiden ziemlich lässig überreicht wurden.
Beide waren Mitte zwanzig und hatten wohl noch die Monatskarte des öffentlichen Nahverkehrs im Portmonee, mit der sie bis dahin an der mittelmäßigen Universität ihrer Heimatstadt die Fächer Betriebswirtschaft oder Volkswirtschaft belegt hatten.
Jetzt waren sie das, was der Chef der Klein-AG vor gut fünfzig Jahren ganz einfach als „Lehrling im ersten Lehrjahr“ bezeichnet hätte.

Büttenpapier

Heute war daraus eine pseudoenglische Bezeichnung geworden, die so weltfremd und abgehoben war, dass deren Bedeutung im Grunde genommen niemand mehr interessierte.
Irgendwo auf diesen exklusiven und wohl auf Büttenpapier gestochenen Visitenkarten waren als einzige erkennbare Wörter die Nachnamen dieser zukünftigen Vorstandsvorsitzenden ganz klein eingedruckt.
Es handelte sich demnach um die Herren Ketscher und Maier.

Haarschnitte

Der eine mit dem typischen, extrem kurz geschorenen Bürstenhaarschnitt, unter dem seine ziemlich rötliche Kopfhaut glänzte.
Der andere im gut gefärbten schneeweißen Prolly – Look.
Einer Frisurform, die man zuletzt Mitte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in den seinerzeitigen Diskotheken hatte und die oftmals mit dem Zusatz „exi“-Schnitt verbunden war.
Damals war unter diesen mittellangen, strähnig-weißen Haaren aber oftmals noch der Geist und das Gehirn von angehenden Existenzialisten, die ihren Sartre und Camus gelesen hatten.

Erwartungen

Der erste Eindruck, den man bekam, wenn einem diese beiden Prototypen des Deutschen Bank-Nachwuchses gegenüber saßen, war der, dass es Situationen gibt, in denen auch die schlimmsten Erwartungen von der Wirklichkeit übertroffen werden können.
Sie hatten wahrscheinlich auf der Uni gelernt, dass man bei wichtigen geschäftlichen Anlässen so viel wie möglich lächeln und zuhören soll.
Nur hatten sie irgendwie vergessen, dass sich dieses höfliche Benehmen auf sie selbst und nicht auf die Gesprächspartner beziehen sollte.
Sie fing also mit einer Welle selbstgefälliger Erklärungen an, die nur noch durch das permanente Grinsen in ihrem Gesicht gesteigert wurde, wenn sie zwischendurch mal Luft schnappen mussten.

Ketchup + Mayo

Teilnehmer dieser ersten kleinen Geschäftsbesprechung mit diesen Herrn Ketscher und Maier verwandten kurz nach Ende der Besprechung im internen Kreis für diese beiden Exemplare menschlich gewordener Arroganz die hausinterne Bezeichnung als die „Herrn Ketschup und Mayo“.
In der Sache ging es um ein ganz einfaches Thema.
Die beiden Aspiranten für vergangene und zukünftige Bilanzen verlangten die Quartalsberichte des zurzeit laufenden Jahres und eine Vorabkopie des Abschlussberichtes, der in wenigen Wochen fällig war.
 So würde es ihrer Aussage nach im Aktiengesetz und deren Handhabung stehen, und auf Basis dieser Information würden sie dann in Zukunft ihre Kreditentscheidungen ausrichten und begründen.
Der alte Kreditsachbearbeiter der Kozbank war vor einigen Monaten in den wohlverdienten Ruhestand gegangen.
Die beiden waren seine Nachfolger – und es passierte das, was in fast regelmäßiger Konsequenz mit Nachfolgern passiert – der Anfang vom Ende.

Selbstgespräche

Eine Klein-AG war durch keinerlei gesetzliche Vorgaben an Quartalsberichte gebunden.
Den Jahresabschluss machte man ganz normal wie jede andere Firma.
Mangels irgendwelcher weiteren Aktionäre schrieb der Chef der Firma sich selber einen kleinen Bericht, und damit war dieser Formalie genüge getan.
Er hatte aber nicht die Absicht, diese kleinen mehr oder weniger privaten Mitteilungen an sich selber diesen beiden Lackaffen in irgendeiner Form mitzuteilen oder in Papier zu übergeben.
Es wurden kurzfristig weitere Treffen anberaumt.
Das Ergebnis blieb das gleiche.
Die beiden stießen beim Chef der Klein-AG auf Granit – härter als der, der im Vorratslager des Steinmetzes zu finden war.
Nach dieser für die beiden Jung-Banker überraschenden Wendung der Gespräche fingen sie an, das zu tun, was man ebenfalls wohl in der Uni, aber spätestens in der eigenen Bank gelernt hatte – die eigene Macht abzuwägen und auszuspielen.

Unterlagen

Das gipfelte Ende November in folgender Situation:
Der Chef erklärte den beiden, dass der nächste große und alles entscheidende Jahresauftrag von Aldi wie immer in der zweiten Januarhälfte kommen würde.
Dass aber alle Vorgespräche darauf hindeuteten, dass er dieses Jahr genauso kommen wird wie in all den letzten Jahren.
Nicht eher und nicht später.
Aldi benötigte genauso wie jeder andere große Discounter immer 6–8 Wochen, um das Ergebnis der letzten großen Sonderaktion auszuwerten, die Zahlen zusammenzustellen und danach zu errechnen, welche Mengen für welche Bezirke und Filialen im nächsten Jahr geordert werden würden.
Niemand würde einen Einwand verstehen, dass die Bank plötzlich einen solchen Auftrag vier Wochen vorher braucht, weil diese Werte mit in die Jahresabschlussbeurteilung der Kozbank einfließen sollten.
Nicht als ist Bestand, sondern als Prognose und feste Komponente für das kommende Jahr.

Aktien

Das hatten die beiden so gelernt, und darauf hin würden ja auch die Aktienkurse der Klein-AG sich entwickeln und widerspiegeln.
Nur dass die Bank zu keinem Zeitpunkt auch nur eine einzige Aktie der Klein-AG in ihrem Besitz hatte und sie entsprechend auch nicht ihren Kunden anbieten oder verkaufen konnte.
Die Stimmung zwischen dem Chef der Klein-AG und den beiden Herrn Ketschup und Mayo war inzwischen von so einer Eiseskälte, wie sie sonst wohl nur im Januar im Eispalast in Harbin in Nordchina erreicht wurde.
Übertroffen wurde diese Kälte nur noch von der gegenseitigen Verachtung, die diese beiden Gesprächsgruppen der jeweils anderen Seite gegenüber klar zum Ausdruck brachten.

Drohung

Auf die Drohung eines der beiden Ketschup- und Mayo-Vertreter, dass man ohne Zahlen für das nächste Jahr wohl nicht in der Lage sei, eine Kreditzusage für das nächste Jahr zu geben, flippte der Chef der Klein-AG richtig aus.
Er ratterte die ihm bekannten Namen der Bankvorgesetzten dieser beiden Sprösslinge herunter und sagte: Innerhalb einer halben Stunde nach Gesprächsende würden die beiden in ihrer Bank zum Rapport beordert werden.
Dafür würde er sich hier jetzt an Ort und Stelle verbürgen.
Diese offene Drohung war zu viel für die beiden.
Sie wechselten das Thema und zum Schluss kam Anfang Dezember eine Kreditzusage für das kommende Jahr für die angenommene Höhe eines neuen Aldi-Geschäfts zustande.

Statik

Auch ohne Vorlage des sprechenden Vertrages von Aldi – was die beiden Jungbanker innerlich so in Rage brachte, dass sie sogar ihre angelernten schlechten Manieren vergaßen und beim Abschied höflich grüßten.
Jetzt war, um mit dem Bild der einstürzenden Wände zu sprechen, ein weiterer und bereits entscheidender Stein der Schutzwand ins Vibrieren gekommen.
Man brauchte kein studierter Statiker zu sein, um sagen zu können, dass diese Wand bei einer nächsten oder übernächsten Belastung einstürzen wird.
 Der Konkurrent
Die Discounter-Gruppe Aldi war immer noch die größte Discounter-Gruppe, aber sie war nicht alleine auf dem Markt.
Ihr größter Konkurrent in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern Europas war der Discounter Lidl geworden
Im Prinzip machten beide das Gleiche.
Mal lag die eine Gruppe in Werbung und Verkauf etwas vorn, mal die andere Gruppe.
Beide hatten hervorragende Qualitäten zu hervorragend günstigen Preisen und damit beste Voraussetzungen für den immer stärker werdenden Konkurrenzkampf.
Beide Firmenleitungen waren so professionell mit Spitzenleuten besetzt, dass es niemals zu einem öffentlichen Skandal oder auch nur einer öffentlich ausgetragenen Diskussion über irgendwelche Vor- oder Nachteile irgendwelcher Produkte gab.
Man stand im permanenten Wettbewerb.
Aber jeder wusste, dass Bemühungen, den andern irgendwie öffentlich zu verunglimpfen, oder der Versuch, den andern darzustellen als jemand, der nicht so kompetent ist wie man selber, ein Rohrkrepieren werden würden.
Beide Konkurrenten lehnten deshalb solche Geschäftsgebaren entschieden ab.
So blieb der gute Ruf beider Firmen unangetastet.

Geheimnisvoll

Und es gab darüber hinaus irgendwo in Deutschland auch noch eine Institution, die so geheimnisvoll und legendenumwittert war wie kaum eine andere.
Jeder, der in irgendeiner Form mit einem dieser beiden Konzerne zusammenarbeitete, hatte mal irgendetwas darüber gehört.
Aber nie etwas Konkretes.
Es gab auch in der Presse und in den Medien nichts Konkretes.
Um was es dabei ging, war Folgendes:
Wie in einem gut geführten Krieg gab es das Militär, das aufeinander schießt und versucht den anderen irgendwie physisch zu vernichten.
Dahinter gab es aber die Diplomatie.
Und ohne diese diplomatischen Verbindungen würde nie ein Krieg irgendwie beendet werden, es sei denn mit einer allgemeinen Katastrophe.
Diese Diplomatie im Hintergrund war ein geheimes Kartell, in dem Spitzenvertreter aller nationalen und internationalen Supermärkte und Discounter vertreten waren.
Sinn war es, sich gemeinsam gegen überzogene Lieferantenforderungen zu wehren.
Und auch, sich gegenseitig vor schlechten und gefährlichen Lieferanten zu warnen.
Im äußersten Fall auch gemeinsam auf problematische Artikel zu verzichten.
Und ansonsten dafür zu sorgen, dass die Warenströme und alles, was damit in Zusammenhang steht, gleichmäßig, gut und geräuschlos das ganze Jahr funktionieren.

Rosinentorte

Der Chef der Klein-AG hatte in den vielen Jahren seiner persönlichen Beziehung mit den Einkäufern bei Aldi hierüber das eine oder andere gehört.
Es war wie in den allermeisten Fällen ein diskreter Hinweis darauf, dass man entweder bei Aldi oder bei Lidl Lieferant sein konnte.
Aber niemals bei beiden.
Wer seine Gartenstühle oder Unterwäsche oder Rosinentorte bei Aldi lieferte, war automatisch gut beraten, diese Produkte nicht bei Lidl zu liefern, und umgekehrt.
 Wer sich daran nicht hielt wurde auf die schwarze Liste gesetzt – offiziell hieß sie rote Liste – und bei nächster Gelegenheit ausgemustert wegen Untreue dem Vertragspartner gegenüber.
Seltene Ausnahmen waren internationale Großkonzerne wie Coca-Cola oder amerikanische Waschmittelhersteller, die eine so große Marktmacht besaßen, dass man ihnen nicht verbieten konnte, in diesem Fall beide zu beliefern.

Dr. Freudenberg

Der Verkaufsleiter der Firma DECKEL AG war Herr Dr. Freudenberg.
Als sehr ruhiger, besonnener und allseits respektierter Chefverkäufer der Klein-AG war er auch jedes Jahr einmal bei Lidl.
Zum einen, um überhaupt einen Kontakt herzustellen und zu pflegen, was immer gut ist.
Zum andern aber auch, um in einem Extremfall einen Plan B zu haben, falls der Hauptartikel der Klein-AG bei Aldi plötzlich nicht mehr gelistet und damit gekauft wurde.
Das war alles legitim und wurde von vielen Produzenten in Deutschland so gepflegt.
Der letzte Besuch des Verkaufsleiters Dr. Freundenberg bei Lidl war ein Monat, bevor der neue Auftrag von Aldi kam.

Exklusiv

Und bei diesem Routine-Lidl-Besuch erfuhr der erstaunte Doktor Freudenberg zu seiner großen Überraschung Folgendes:
Die Einkäufer von Lidl erklärten ihm ganz unverblümt, dass sie sich entschlossen hatten, das ungeschriebene Gesetz der Alleinbelieferung im Fall der Klein-AG zu übergehen.
Es war nicht gut für das Renommee von Lidl, wenn es auch nur einen Artikel gab, den es nur bei Aldi gab – aber nicht bei Lidl.
Und das war mit diesen Lammfell-Autositzbezügen schon seit Jahren der Fall.
Die Klein-AG hatte es mit verschiedenen kleineren Patenten geschafft, dass es weltweit niemand anderes gab, der diese Ware so herstellen konnte, dass sie nach Vorschriften des TÜV und der Verkehrssicherheit überall verkauft werden konnte.
Das hatte jetzt nach vielen Jahren dazu geführt, dass man sich bei Lidl entschloss, auch bei der Klein-AG eine Ausnahme zu machen.
 Man erklärte, dass man prüft, eventuell der Klein-AG fürs nächste Jahr einen ersten größeren Auftrag zu geben.
Nicht weil man den Umsatz braucht, sondern weil man nicht möchte, dass der Konkurrent etwas anbietet, was man selber nicht hat.
Damit war dieses Gespräch beendet.

Der Auftrag

Anfang Januar war plötzlich der große Tag.
Der erste Lidl-Auftrag flatterte als ganz normaler Post auf den Tisch des Chefs.
Die bestellte Menge entsprach in etwas der Hälfte des Jahresauftrags Aldi.
Der Preis war o. k.
Die anderen Lieferkonditionen ebenso.
Der Chef begann das große Rechnen.

Die Mengen

Die Kapazitäten der sechs Fabriken, die inzwischen das ganze Jahr über in China seine Produkte von morgens bis abends produzierten, waren durch die normalen Aldi-Aufträge ungefähr 80 % ausgelastet.
Hier würde man eventuell noch 20 oder 30 % des Lidl-Auftrags produzieren können, aber mehr auch nicht.
Und das würde in keinem Fall reichen.
 Gott sei Dank war aber das Lager bei Hamburg richtig voll mit genau der Ware, die man für Lidl benötigte.
Man braucht jetzt nur noch eine neue Lidl-Verpackung und eine Beschriftung mit dem aktuellen Lidl-EAN und Barcode.
Das Hauptproblem – die Produktion neuer Ware – hatte sich erledigt, die Ware war ja schon vorhanden.
 Er informierte die Herren Ketschup und Mayo und sagte, dass er für das Projekt Lidl jetzt eine Teilfinanzierung braucht. Ungefähr 40 % des Auftragvolumens wollte er sicherheitshalber noch neu in China produzieren:
Der Rest würde dann von Hamburg zurück nach China verladen werden, dort umgepackt und auch wieder rechtzeitig in Hamburg eintreffen.
Die beiden Jünglinge aus der Kundenbetreuung sahen sich an.
Dem Chef schwante dabei nichts Gutes.

Die Rache

Ketchup und Mayo hatten jetzt die einmalige Situation, sich am Chef dieser aufmüpfigen Klein-AG zu rächen.
Und zwar so, wie es sich nur kleine Bankangestellte die Rache für eine persönliche Kränkung vorstellen können.
Sie sagte, sie würden das Ganze prüfen und gingen.
 Drei Tage später erhielten sie ein Fernschreiben von der Bank.
Diese alten Telexverbindungen gab es immer noch, und sie wurden als eine der wenigen elektronischen Übermittlungen von den Gerichten als absolut wahrheitsgemäß, korrekt und fälschungssicher eingestuft.
In diesem kurzen Telex teilte die Bank der Klein-AG mit, dass sie mit sofortiger Wirkung die Geschäftsbeziehungen beendet.
Man hätte festgestellt, dass die Klein-AG als Kunde wesentliche Teile des Kreditvertrages nicht erfüllt, sondern im Gegenteil offensichtlich absichtlich dagegen verstoßen hat.
Und dass sie sogar zugab, auch in Zukunft dagegen verstoßen zu wollen.
Das Ganze war so juristisch-bankmäßig formuliert, dass selbst der Chef den Text mehrmals durchlesen musste, bis ihm klar war, auf was das Ganze hinauslief.

Die Besprechung

Und dann wurde ihm klar, dass hier offensichtlich jetzt der letzte Stein der Stützmauer kräftig wackelt und die gesamte Mauer in Kürze einstürzen wird.
Am nächsten Tag gab es eine große Besprechung in der Firma.
Alle leitenden Mitarbeiter saßen mit am Tisch, ebenso der Anwalt der Firma und ein Notar, der sich in Bankverträgen gut auskannte.
Am Ende dieser Besprechung fasste der Notar die Ergebnisse wie folgt zusammen:
Die Bank hatte der Firma einen Warenkredit in Millionenhöhe gegeben.
Dieser Kredit wird, wie alle bisherigen Kredite, von der Klein-AG mit Sicherheit korrekt an die Bank zurückgezahlt werden können.

Entscheidungen

In diesem Kreditvertrag sind zwei Situationen klar formuliert.
– der Kreditnehmer, also die Firma, ist berechtigt, alle kaufmännischen Entscheidungen selbstständig und nach besten Wissen und Gewissen durchzuführen.
Das bedeutet im Klartext: Die Firma kann sich aussuchen, an wen und zu welchem Preis sie verkauft.
– die Bank hingegen hat praktisch das gesamte Warenlager finanziert.
Das schließt sämtliche Waren ein, die zurzeit noch in Hamburg im Lager sind.
Das schließt aber auch ein, dass die Bank laut Vertrag informiert und um Bewilligung gefragt werden muss, wenn irgendwelche Waren ausgelagert und woanders eingelagert werden.

Altdeutsch

Es dient zur Sicherheit der Bank, dass die sogenannte „Nämlichkeit“ immer gegeben ist.
Dieser altdeutsche Begriff, der heutzutage wohl nur noch beim deutschen Zoll verwendet wird, bedeutet, dass der Kreditnehmer anhand von verschiedenen Kriterien jederzeit nachweisen kann, dass ein ganz bestimmter Artikel ausschließlich von der Kredit gebenden Bank finanziert wird und kein anderer Kreditgeber hierauf Anspruch erheben darf.
Zu diesem Zweck sind sämtliche Waren im Lager in speziellen Kartons gepackt.
Die Lagerunterlagen sind klar und eindeutig, und es ist bei jedem einzelnen Karton feststellbar, wann er wo in welcher Fabrik in China und mit welchem Kredit der Bank geschaffen wurde und wie sein Weg bis jetzt bis hin zum Lager verlaufen ist.
Dann machte der Notar eine kleine Pause und erklärte weiter:
Nur zur allgemeinen Kenntnisnahme – das Gegenteil einer solchen Nämlichkeitsfeststellung wäre zum Beispiel, wenn eine größere Autolackiererei jeden Tag eine bestimmte Menge von PKW lackiert.
Sagen wir mal als Beispiel, nur in drei Farben: schwarz, weiß und rot.
Die Farbstoffe – also die Lacke – werden von vier verschiedenen Herstellern gekauft, je nachdem wer gerade etwas günstiger ist.
Jetzt geht die Autolackiererei aus irgendwelchen Gründen pleite.
Keine der Lacklieferanten ist in der Lage, bei bestimmten Autos zu sagen, dass ein bestimmtes Auto mit ihrem Lack lackiert wurde und dass deswegen dieser Lack auf dem Metall jetzt diesen Lieferanten gehört.
Dies nur als Beispiel, wo eine Nämlichkeit nicht mehr feststellbar ist.
Jetzt zurück zu unserem Fall:

Der Test

Die Klein-AG hatte ohne die Bank zu informieren einige Tests gemacht und zehn Container Lammfell-Autositzbezüge im letzten Jahr nach China zurückverladen, um sie testweise umpacken zu lassen.
Egal ob dies kaufmännisch gerechtfertigt, sinnvoll und angemessen war – es war auf keinen Fall ein kommerzieller Verkauf.
Dazu hätte sie diese 10 Container an die Chinesen verkaufen müssen.
So aber wurden diese 10 Container aus dem Lager in Hamburg in ein neues Lager in China gebracht, umgearbeitet und danach wieder ins Hamburger Lager zurückgeführt.
Hierzu hätte nach den Bedingungen des Kreditvertrages in jedem Fall das Einverständnis der Bank gehört.
Jetzt beabsichtigt die Firma, aufgrund des neuen Lidl-Auftrages ein weiteres Mal eine größere Menge Ware nach China zurückzuverladen und diese umpacken zu lassen und wieder nach Deutschland zu verbringen.
Im Prinzip ein einfacher und nachvollziehbarer Vorgang.
Aber auch dieser bedarf des Einverständnisses der kreditgebenden Bank.
Und wie wir heute in dem Fernschreiben erfahren haben, hat die Bank sich entschlossen, aufgrund dieser nicht genehmigten Umlagerung vom Hamburger Lager in ein Lager irgendwo
 in China und den damit verbundenen Risiken den Kreditvertrag als nichtig zu erklären – mit der Wirkung einer sofortigen Kündigung der Kreditverträge.
Ich sehe nicht – fuhr der Notar fort – wie man in diesem Fall jetzt mit einfachen Mitteln diese Entscheidung der Bank anfechten kann.

Andererseits

Von Seiten der Firma stellt sich die Sache einfach dar:
Wenn der Vertrag mit Lidl nicht erfüllt wird, wird Lidl bei der Organisation der Einkaufsverbände die Klein-AG auf die schwarze respektive rote Liste setzen lassen.
Als Vertragspartner, der seine Verträge nicht eingehalten hat.
Daraus wiederum resultiert mit Sicherheit, dass Aldi im nächsten Jahr nicht mehr von der Klein-AG-Ware kaufen darf, denn ein wichtiger Teil in den Übereinkünften dieser Einkaufsverbände besagt auch, dass kein Mitglied des Verbandes Ware von einem gesperrten Lieferanten bezeihen darf.
Damit fallen Aldi und Lidl im nächsten Jahr mit Sicherheit als Kunden aus.
 Gleichzeitig wird mit Sicherheit das gesamte in den letzten fünfzehn Jahren aufgebaute Produktionskettensystem China zusammenbrechen.
Und damit ist das Ende der Klein-AG besiegelt.
Der Notar war für seine klare Sprache und offene Meinung bekannt und niemand fing danach eine weitere Diskussion an.
Im Klartext bedeutete dies, dass der diesjährige Auftrag von Aldi noch wie geplant produziert, abgewickelt und ausgeliefert wird.
Gleichzeitig aber auch damit die Geschäftsbeziehung mit der Klein-AG beendet wird.

Das Urteil

Es war keine gewaltige Detonation und auch kein großer Knall, als die Mauer jetzt innerhalb der 10 Minuten, in denen der Notar sprach, in sich zusammenfiel.
Aber die Tatsache, dass sie nicht mehr da war und damit die Firma schutzlos jedem anderen gegenüber da stand, war offensichtlich und für den Chef nicht weg zu diskutieren.
 Die Mitarbeiter der Firma inklusive ihres Chefs fühlten sich wie Schwerverbrecher, die soeben vom Gericht zum Tode verurteilt wurden.
Nur dass das Gericht die Justizbehörde angewiesen hatte, mit der Erschießung genau noch zehn Monate zu warten.
Dann sollte aber schnell und zügig exekutiert werden.

Übersicht

Der Chef saß von da ab viel mit seinem Buchhalter und seinem Verkaufsleiter zusammen.
Man prüfte sämtliche Verträge, Außenstände, Verbindlichkeiten, Einkünfte – alles, was es zu prüfen gab.
Das Ergebnis war ziemlich klar:
 Die Firma schuldete niemandem auch nur einen einzigen Euro.
Sie war finanziell gesund, hatte genügend Aufträge und mit dem Auftrag wurde Geld verdient.
Die einzigen Außenstände oder Verbindlichkeiten, die man hatte, waren bei der Kozbank.
Diese betrugen ca. anderthalb bis zwei Millionen Euro, je nachdem, wie man es rechnete.
Als Sicherheit war das Warenlager in Hamburg vorhanden,
Wertmäßig in mindest gleicher Höhe.
Andere Verbindlichkeiten oder Schulden gegenüber ausländischen Lieferanten in Australien, Südamerika, Südafrika oder China hatte man nicht.
Die Waren, die man von dort bezog und nach China zur Produktion schickte, waren alle über das System Sonnenschein und Vollmond finanziert und stellten keine Belastung in der Bilanz dar.
Die Bilanz war korrekt, es gab neben dem Warenlager noch Eigenkapital.

Keine Haftung

Es gab dann durch die Umwandlung in eine Klein-AG die Situation, dass wahrscheinlich nur die Aktionäre von dieser ganzen Situation betroffen sein würden.
Der Chef war alleiniger Aktionär.
Davor war er alleiniger Inhaber der Firma.
Durch die Umwandlung in die AG hatte er keine persönlichen Gelder mehr in der Firma, sondern war einfach ein leitender Angestellter.
Dieser Umstand sollte später noch wichtig werden, denn anders als bei einem haftenden Geschäftsinhaber hatte die Bank in so einer Situation keine direkten Zugriffe auf die Führungsmannschaft einer Aktiengesellschaft.
Die leitenden Angestellten konnten entlassen werden – aber sie haften nicht für ihre Firma und ihre Tätigkeiten, die sie in der Firma durchführten.

Erfahrung

10 Jahre Abenteuerleben im Urwald Südamerikas, 25 Jahre Erfahrung in Zentralchina und Nord-Korea – diese Erfahrungen hatte niemand.
Und so hatten der Chef der Klein-AG zusammen mit  seinem Buchhalter und dem Verkaufsleiter am Ende der Woche einen Plan ausgearbeitet, den es bisher in keiner deutschen Firma gegeben hatte.

Viertes Buch

Feuchtigkeit

Das Schlimmste, was einem Container passieren konnte, der irgendwo in Zentralchina mit Ware bepackt und dann auf eine monatelange Reise geschickt wird, war Feuchtigkeit.
Die Container durchfuhren oftmals mehrere extrem unterschiedliche Klimazonen.
Gestartet im eiskalten Winter im Inland, irgendwo in Zentralchina.
Dann in Äquatornähe durch das schwüle, heiße Gebiet zwischen Indonesien und Singapur. Dann in die knochentrockenen und oft auch extrem heißen Gebiete rund um den Suezkanal.
Schließlich das angenehme Mittelmeer und zum Schluss oftmals die schweren und sehr starken Stürme zwischen der Biskaya in Westfrankreich, dem Ärmelkanal und dem Bestimmungshafen Hamburg.

Kostengründe

Aus Kostengründen wurden die Container mit der Ware für die Klein-AG immer über Deck der riesigen Containerschiffe verstaut.
Ein Platz unten im Schiffsrumpf hätte wesentlich mehr gekostet, war aber der meist wertvolleren Ladung vorbehalten.
So passierte es immer wieder, dass Feuchtigkeit durch die Ritzen der Container-Türen und auch durch einige der vielen winzig kleinen Löcher und Ritzen in der Container-Metall-Haut drang.
Die Container waren oftmals sehr alt, etwas angerostet und dienten nur zum billigstmöglichen Transport.
Versicherung
Wenn am Ende einer so langen Reise beim Öffnen der Containertür auf dem Hof des großen Lagers in der Nähe von Hamburg festgestellt wurde, dass die erste Reihe der dort sichtbar werdenden Kartons dunkle und vielleicht sogar noch leicht feuchte Verpackungen hatten, war es sofort ein Fall für die Versicherung.
Aldi und alle anderen Kunden verweigerten rigoros die Annahme auch nur eines einzigen vielleicht feucht gewordenen Kartons.
Sie hatten laut ihren Einkaufsbedingungen das Recht, in so einem Fall die gesamte angelieferte Ware zu verweigern und zurück zu schicken.
Die Klein-AG selber hatte ebenfalls keinerlei Möglichkeiten, solche Kartons an irgendwelche anderen Kunden zu verkaufen.
Aus diesem Grund hatte man seitens der Klein-AG mit der Versicherung ausgemacht, dass im Fall eines feucht gewordenen Containers umgehend ein Versicherungsexperte kommt, um den Schaden festzustellen.
Der kam dann auch immer schnell, meist schon in Begleitung des Chefs einer der vielen kleinen und größeren Firmen, die sich auf den Aufkauf solcher Versicherungsschäden spezialisiert hatten.
Es wurde festgestellt, dass der Containerinhalt teilweise nass war.
Die Klein-AG hatte daraufhin das Recht, für diesen Container die Annahme zu verweigern.
Der Chef der Schadens-Aufkauf-Firma gab sein Gebot für den Container ab – so wie der Container dort stand, ohne irgendwelche weiteren Garantien.
Sein Gebot war wie üblich ungefähr 20 % des regulären Wertes.
Der Vertreter der Versicherung segnete seitens seiner Versicherung das Geschäft ab.
Die Klein-AG bekam ihr Geld für die Ware von der Versicherung.
Die Ware selbst ging auf irgendwelche Lager dieser Schadensspezialfirmen.

Sammelsurium

Bei den Millionen von Containern, die jedes Jahr alleine in Hamburg umgeschlagen wurden, gab es bei diesen Spezial-Schadens-Aufkauf-Firmen ein extremes Sammelsurium von Versicherungsschäden.
Zwanzig Millionen Streichhölzer lagen gut verpackt neben teilweise ausgelaufenen Kartons mit Fertiggerichten.
Darüber Hunderte von Kartons mit inzwischen schon leicht blühenden Grassamen, und das Ganze umgeben von einigen tausend Aquarien, von denen eine kleine Anzahl durch den Transport keine Scheiben mehr hatte.
Das Prinzip war immer das Gleiche.
Wenn man sehr billig einkaufte, konnte man einen großen Teil der Ware wegschmeißen und hatte mit dem Verkauf der restlichen Ware immer noch einen guten Schnitt gemacht.
Bei der Klein-AG lag der letzte Versicherungsschaden durch Feuchtigkeit nur fünf oder sechs Wochen zurück.

Verwertung

Die Herren Ketschup und Mayonnaise waren wieder mal zu Besuch bei ihrem neuen Freund, dem Chef der Klein-AG.
Sie konnten vor Kraft nicht laufen, so stolz und aufgeregt waren sie über ihren Coup, diese verhasste Firma in den wohlverdienten Konkurs getrieben zu haben.
Das letzte Thema in dieser Geschichte war jetzt die Verwertung des großen Lagers.
Waren von fast zwei Millionen Euro lagen jetzt in Form von Lammfell-Autositzbezügen aus verschiedenen Jahren in den beiden großen Hallen und harrten der Dinge, die jetzt geschehen würden.
„Wissen Sie“ – begann der Chef – „ich habe das Gefühl, dass der Verkauf an die Fachkunden für Sie als Bank vielleicht etwas schwierig werden könnte.“
Ich hingegen mit meiner jahrzehntelangen Erfahrung weiß natürlich besser, welche Firmen man jetzt mit diesen großen Warenposten ansprechen könnte.
Und da ich laut des ursprünglichen Kreditvertrages immer noch die freie Entscheidung habe, die von Ihnen finanzierte Ware auf dem Markt anzubieten und zu verkaufen, glaube ich, dass ich Ihnen beiden einen Gefallen machen könnte, wenn ich mich jetzt auch in dieser Situation darum kümmere.
Es fiel dem Chef sichtlich schwer, dies Ganze in der gepflegten und verschrobenen Banksprache seiner Besucher zu artikulieren und gleichzeitig einen Hauch von Interesse und etwas Demut vor diesen beiden Besuchern zum Ausdruck zu bringen.
Ob die beiden dies merkten oder nicht, war unerheblich.
Ihre Aufgabe war es ihrer Meinung nach, jetzt, nachdem die Firma mithilfe ihres großen Einsatzes in den Konkurs getrieben werden konnte, sich abschließend mit der Verwertung der Restbestände zu beschäftigen.
Dass dies normalerweise Aufgabe eines Konkursverwalters ist, kann den beiden nicht in den Sinn.
Sie waren von ihrem eigenen Erfolg und ihrer Handlungsweise so besoffen und begeistert, dass sie diesen Moment nur noch genossen, statt sich darüber irgendwelche Gedanken zu machen.
„Sie wissen natürlich auch“, fuhr der Chef fort, „dass diese spezielle Ware nicht in den regulären Vertrieb gehen kann.“ Dazu ist sie zu sehr kundenspezifisch produziert.
Diese Aussage des Chefs war im Grunde genommen völliger Blödsinn.
Der menschliche Rücken, der Po und die Vordersitze aller Autos waren heute genauso wie vor zehn oder zwanzig Jahren – der Artikel passte problemlos in jedes europäische Auto.
Dann beendete der Chef seine kleine Ansprache mit folgendem Vorschlag:
Ich habe einige Kunden bereits kontaktiert und es scheint ein gewisses Interesse zu geben, größere Teile des Lagers in den nächsten Wochen und Monaten an diese Kunden auszuliefern.
Wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen einige Rechnungen geben, aus denen Sie die Konditionen solcher Warenflüsse ersehen können.
Offen gestanden halte ich dies aber für Zeitverschwendung. Sie beide haben sicherlich Wichtigeres zu tun …
Ketschup und Mayonnaise waren voll auf seiner Seite.
„O. k. – Sie haben recht, wir haben in den nächsten Tagen anderweitig noch einige wichtige Termine, die uns voll in Anspruch nehmen werden.“
Machen Sie nur das, was Sie als Fachmann für richtig halten, wir sind damit einverstanden.
Der Chef musste sich zusammenreißen, um sich bei dieser Antwort von Ketchup und Majo nicht vor Freude in die Hose zu pinkeln

Fünftes Buch

Der Ausflug

Am Wochenende unternahm der Chef einen kleinen Ausflug in die Tschechei.
Südwestlich von Prag, mitten in einer wunderschönen, ruhigen und sehr ländlich geprägten Landschaft lebte in einer Kleinstadt sein alter Freund Jurek
Sie hatten zusammen sehr viel erlebt.
Sie waren jahrelang zusammen in China, vor allem aber auch in Nordkorea gewesen.
Jurek war absoluter Fachmann auf seinem Gebiet. Er konnte die schönsten, geschmeidigsten und farblich interessantesten Leder herstellen.
Wahrscheinlich war er in diesem Spezialgebiet der größte Fachmann Europas.
Durch die vielen gemeinsamen Reisen und Besuche auf der anderen Seite der Erde waren die beiden im Laufe der Jahre wirkliche Freunde geworden.
Freunde, die sich verstanden, gegenseitig respektierten und die gemeinsam lachen und bei irgendwelchen Problemen auch gemeinsam stöhnen konnten.
Der Besuch bei seinem alten Freund Jurek dauerte nur zwei Tage, dann war alles besprochen.
Der Chef verabschiedete sich von Jurek mit den Worten „Es war schön, dich mal wieder zu sehen, und besonders schön ist es, dass wir uns hier in wenigen Tagen sicherlich noch einmal sehen werden.“

Schlenker

Im Anschluss an diesen Besuch machte der Chef auf dem Rückweg nach Hamburg einen kleinen Schlenker.
Er saß am nächsten Nachmittag im Büro des Stiftungsvorsitzenden von Vollmond.
Ein wunderschönes Eckbüro mit herrlicher Sicht auf den Zürichsee.
Man hatte Verschiedenes besprochen, unterschrieben und in die Wege geleitet.
Der Chef der Anwaltskanzlei sagte, dass er noch zwei oder drei Tage brauchen würde, bis er auch die Zustimmung seiner Kollegen im Stiftungsrat haben würde, die diese Ausnahmesituation bestätigen würden.
Und dann kann die Stiftung Vollmond sicherlich so agieren, wie man es heute besprochen und verabschiedet hatte.
Einige Tage später flog der Chef noch einmal nach Zürich, machte einen kurzen Besuch bei der Anwaltskanzlei und erhielt die Bestätigung, dass alles so vorbereitet sei, wie man es vor einigen Tagen besprochen hatte.
Dann ging sie zur Bank und ihm wurde ein kleiner Koffer mit 300.000 Euro überreicht.
Diese Menge war nicht sehr voluminös, wenn man sie in einem Sicherheitsportmonee direkt auf dem Körper mit sich trägt.

Gemütlich

Der Chef hatte ein Auto gemietet, weil er mit diesem Betrag in Bar nicht durch Deutschland fahren wollte.
Von der Schweiz ausfuhr er gemütlich einen Tag durch Österreich, um am späten Abend im Haus seines Freundes Jurek in der südwestlichen Tschechei wohlbehalten anzukommen.
Am nächsten Vormittag gingen die beiden Freunde zu einer kleinen Bank in dieser Kleinstadt.
Von dem, was dort auf Tschechisch besprochen wurde, verstand er nicht ein einziges Wort.
Auch das war so vorbereitet worden, damit man sich nicht über irgendwelche Einzelheiten dieser Transaktion auslassen könnte.

Papiere

Insgeheim nahm der Chef an, dass der Bankdirektor genauso gut Deutsch sprach wie Jurek – aber das hat er bis heute nicht herausgefunden.
Es wurden wie in einer Bank üblich diverse Papiere unterschrieben,
Dann bekam der Chef einen kleinen Zettel mit dem Namen irgendeiner Firma, die gerade ein Konto dort eröffnet hatte und in die er jetzt 300.000 Euro als Startkapital einzahlte.
 Jurek und die Bank hatten alles sehr genau geprüft und so vorbereitet, dass weder der Name von Jurek noch der seiner Firma – der Gerberei – noch der Name oder die Firma des Besuchers aus Deutschland auf diesen Firmengründungspapieren in irgendeiner Form erwähnt wurden.
Der Abschied in der Bank war freundlich, das Ganze hatte nur gut eine Stunde gedauert.
Bevor man zum wohlverdienten kleinen Mittagessen ging, machte man noch einen Abstecher in einer kleinen Seitenstraße, wo offensichtlich ein Buchladen mit angeschlossener Kleindruckerei ihren Sitz hatte.
Jurek gab dem freundlichen alten Herrn dort den Zettel, den er in der Bank erhalten hatte.
Nachmittags waren die ersten hundert Visitenkarten dieser neuen Firma mit allen relevanten Details gedruckt.
Zwei kleine Plastikpäckchen mit jeweils fünfzig Visitenkarten wurden Jurek und dem Chef übergeben, und damit war auch dieser Punkt erledigt.
Abends füllte man im Büro von Jurek noch einige Vollmachten und sonstige Papiere aus, in denen diese neu gegründete Firma als europaweite Vertretung der Hamburger Klein AG ernannt und bestätigt wurde.
Sie konnte sowohl in eigenem Namen und in eigener Rechnung Ware der Klein-AG beziehen als auch als Vertreter und Kommissionär der Hamburger Firma arbeiten, in der sie deren Produkte an Dritte vertrieb, mit einer entsprechenden guten Provision, die umsatzmäßig gestaffelt war.

Hamburg

In den nächsten Wochen kam Jurek mehrmals nach Hamburg.
Er kaufte Stück für Stück erst kleinere, dann größere und zum Schluss sehr große Teile des gesamten Warenlagers der Klein-AG.
Als Preis wurde der Wert festgelegt, zu dem die Klein-AG vor einigen Wochen mehrere Container an die Hamburger Firma verkauft hatte, die leichte Wasserschäden aufwiesen.
Jurek respektive seine neue Firma zahlten wie ein Uhrwerk.
Die Abwicklung war wie in einem ganz normalen Milchladen oder dem türkischen Gemüsestand gegenüber auf der anderen Straßenseite.
Jurek kam, suchte aus, was er haben wollte und zahlte den geforderten Betrag.
Dann wurde die Ware auf Lager in der Nähe von Hamburg gebracht.
 Dieses ehemalige Speditionslager war von Jurek angemietet und im Namen seiner neuen Firma auch gleich für die nächsten drei Monate bezahlt worden.
Was jetzt passierte, war nur noch Routine.
Innerhalb von wenigen Wochen zerschmolz das Warenlager der Klein AG wie Milchschokolade in karibischer Sonne.
Jurek kaufte alles, bezahlte alles und war somit stolzer Besitzer einer recht beträchtlichen Menge von über hunderttausend Lammfell-Autositzbezügen.

Unklar

Die Tschechei war zwar bereits 2004 Mitglied der EU geworden, aber zu dem Zeitpunkt, als Jurek als Aufkäufer bei der Klein-AG auftrat – es war zwischen 2006 und 2007 – gab es noch Unklarheiten, wie zollmäßig und einfuhrumsatzsteuermäßig eine Ware zu betrachten ist, die aus Deutschland in die Tschechei geht und dann eine kurze später wieder den Weg zurück nach Deutschland nimmt.
Niemand beim Zoll und bei den sonstigen Behörden war bereit, die Hand dafür ins Feuer zu legen, dass diese Transaktion komplett frei von allen Zoll- und Einfuhrumsatzvorschriften sein würde.
Aus diesem Grund beschloss Jurek nach Rücksprache mit seinem Freund aus der Klein-AG, seine Waren erst einmal in Hamburg zu lassen.
Aber Lagerplatz in Hamburg ist teuer. Große Lagerhallen sind sogar sehr teuer.
Dieses Problem war vorher zwar nicht besprochen worden, wurde aber elegant gelöst.

Der Wandel

Nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands begann in der ehemaligen DDR das große landwirtschaftliche Sterben.
Die allermeisten Höfe waren zu klein, zu unwirtschaftlich und sowohl finanziell als auch technisch so rückständig, dass sie nicht überleben konnten.
Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwar im Norden der Ex-DDR neue große Betriebe, die auch überleben konnten.
Aber gerade im Grenzgebiet zur Bundesrepublik Deutschland gab es Hunderte von Höfen, die von ihren Bewohnern fallen lassen wurden.
Diese Höfe verkamen und verfielen.
Einige wurden von größeren landwirtschaftlichen Betrieben, besonders aus dem Großraum Hamburg, als Lager aufgekauft und umfunktioniert.

Heimat

Ein Lagerarbeiter der Klein-AG kam aus einem dieser Gebiete, direkt hinter der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.
Er kannte sich in seinem Heimatdorf und den umliegenden Ortschaften gut aus.
Nach kurzer Zeit hatte er einen großen ehemaligen Tiermastbetrieb gefunden, der leer stand, dessen Dach aber noch in Ordnung war, und für sehr wenig Geld war man bereit, zwei große Gebäude langfristig zu vermieten.
Der neue Mieter kam aus der Tschechei.
Die Miete wurde im Voraus bezahlt.

Transport

Dann begann ein tagelanger Transport von morgens bis abends von einem Hamburger Speditionslager hin zur Pampa gleich hinter der ehemaligen Grenze.
Es wurden keine großen Stellplätze für Paletten oder sonstige Lagerorganisation angeschafft.
Die Ware bestand ja zu 98 % aus immer den gleichen Kartons.
In jedem Karton sechzehn Autositze in Anthrazit und vier Autositze in Beige.
Da war es völlig egal, was man auf dem Lager raus suchte und was auf die LKWs gebracht wurde, die von da aus ihren Weg zu den großen deutschen Autozubehörhändlern fanden.
Das Ganze war so unaufdringlich, nebensächlich und ohne das Interesse der wenigen örtlichen Dorfbewohner organisiert, dass man zum großen Teil nicht einmal wusste, was in diesen Tausenden von gleichförmigen Kartons enthalten war.
So wurde auch nichts geklaut. Was nicht bekannt war, hatte für die umherziehenden Banden keinen Wert.

Verkauf

Jurek verkaufte seine gewaltigen Mengen an Lammfell-Autositzbezügen erst langsam, dann immer schneller und erfolgreicher.
Er hatte eine Liste aller potentiellen Kunden dieser Artikel von seinem Freund, dem Chef der Klein-AG, erhalten und brauchte nur noch, in seiner freundlichen und humorvollen Art diese Firmen zu besuchen.
Dann die Aufträge einsammeln, abliefern, die Zahlung entgegennehmen und auf zum nächsten Kunden.
Innerhalb der ersten Monate hatte er so viel verkauft, dass er die dreihunderttausend, die er von seinem Freund bei dessen Besuch in der Tschechei als Startkapital geliehen bekam, schnell komplett zurückzahlen konnte.

Kreislauf

In Zürich wurde bei Vollmond kurze Zeit später der Eingang und die Rücküberweisung des seinerzeitigen Stiftungsdarlehens bestätigt.
Damit war eine weitere Episode im Bereich der Firmen Sonnenschein und Vollmond erfolgreich durchgeführt und erledigt.
Die Kozbank erhielt von jedem verkauften Lammfell-Autositzbezug den vereinbarten Preis von drei Euro.
Der Rest wurde freundlich und korrekt aufgeteilt zwischen all den Menschen, die an diesem Stiftungskredit von Sonnenschein und Vollmond irgendwie beteiligt waren.

Schluss

Im Herbst wurde der letzte große Auftrag an Aldi ausgeliefert.
Kurz danach stellte die Kozbank, wie lange vorher angekündigt, den Insolvenzantrag.
Dem wurde stattgegeben.
Insolvenzmasse war so gut wie keine mehr vorhanden.
Aber die eigentliche Insolvenzliste, die bei Insolvenzen dieser Größenordnung normalerweise viele Seiten oder manchmal mehrere prall gefüllte Ordner ausmachte, war an diesem Fall ein Kuriosum.
Alle Kunden der Klein-AG waren bis zuletzt beliefert worden.
Alle Verträge waren erfüllt.
Alle Verbindlichkeiten im Ausland bezahlt.
Das Herzstück jeder Insolvenz ist die Gläubigerliste oder Insolvenzliste.
Sie bestand in diesem Fall aus einer halben Seite Text und umfasste nur drei Namen.
An erster Stelle die Kozbank mit einem fröhlichen Millionenbetrag.
Dann noch der Zoll und das Finanzamt – das war aber normal, weil in solchen Insolvenzen der Insolvenzverwalter diese beiden staatlichen Institutionen nachrangig immer erst ganz zum Schluss befriedigt, wenn alle anderen ihr Geld erhalten hatten – was praktisch nie der Fall war.
Die Herren Ketschup und Mayonnaise verschwanden aus dem Blickfeld der anderen Kozbank-Kunden.
Ihr Aufenthalt ist bis heute unbekannt.

China

Die Kozbank beauftragte noch eine internationale Detektei oder Nachforschungsfirma, weil man der Meinung war, dass hier wahrscheinlich in China noch größere Werte der Firma Klein-AG vorhanden sein könnten.
Diese Firma bekam aus den Insolvenz-Unterlagen der Klein-AG ein Verzeichnis mit allen chinesischen Firmen, die mit der Klein-AG in den letzten 10 Jahren geschäftliche Verbindungen hatten.
Man schrieb alle an und bekam eine fast gleichlautende typisch chinesische Antwort – nämlich dass man keine Ahnung habe, was diese Leute eigentlich wollen.
Nach zwei Jahren wiederholte sich das Spielchen und nach vier Jahren ebenfalls.

Betätigt

Als offensichtlich wurde, dass diese Investigativ-Firma in China immer aufs Neue ihre Rundschreiben verteilen würde, setzte der Chef der Klein-AG in das Grundstück, auf dem die Familie in der Nähe von Hamburg lebte, noch zwei seiner Kinder mit einer größeren Hypothek oder Grundschuld ein.
in der Hoffnung und Erwartung, dass man seine Familie bei den Nachforschungen der Insolvenz weiterhin verschonen würde.
Diese Hoffnung bestätigte sich.
Das Grundstück wurde nie in irgendeiner Form seitens Insolvenzverwaltung als eventuelle Insolvenzmasse herangezogen.

Versuch

Ungefähr zum Zeitpunkt der Insolvenz-Eröffnung hatte Jurek bereits viel aus seinem Bauerhof-Lager in Mecklenburg-Vorpommern verkauft.
Der Buchhalter und zwei andere Angestellte der Klein-AG gründeten eine kleine Vertriebsfirma mit Schwerpunkt Lammfell-Autositzbezug.
Mit ihren speziellen Branchenkenntnissen gelang es ihnen, die restlichen Mengen von Jureks immer noch gut verkäuflichen Lammfell-Autositzbezügen zu verkaufen.
Nach zwei Jahren war das Bauer-Lager von Jurek endgültig leer.
Jurek hatte durch die verschiedenen Transaktionen einen Betrag erwirtschaftet, der für ihn und seine Familie eine gute Rente darstellte.
Die kleine neue Firma der Angestellten musste liquidiert werden, weil sie keine neuen Waren bekamen.
Sie hatten das, was übrig geblieben war, verkauft und etwas Geld damit verdient.
Aber da sie keine Erfahrung hatten, wie man solche Artikel überhaupt irgendwo in der Welt produziert und was alles dazu gehörte, hatten sie irgendwann keine Ware mehr.

Persönlich

Der Buchhalter starb früh, die beiden anderen ehemaligen Angestellten fanden andere Beschäftigungen
Der Chef der Klein-AG zog sie mit seiner Frau aus dem gesamten Geschäft zurück.
Er fing an, sein Leben jetzt als zwangspensionierter Unternehmer am Strand der dominikanischen Republik in der Karibik zu genießen.
Er schrieb einige Episoden seines facettenreichen Lebens auf.
Seine Kinder blieben in Hamburg und entwickelten ihr eigenes Leben weiter.

Gesundheit

Wenn er im deutschen Sommer mit seiner Frau mal nach Hamburg kam, wollte er sein geliebtes und gesundes karibisches Schwimmen auch in Hamburg in seinem dortigen Haus fortsetzen.
Zwei Jahre nach Ende der Insolvenz entstand auf dem Grundstück eine wunderschöne große Schwimmhalle.
Später dann ein Wellness-Zentrum und ein schönes Gästehaus.

Wunder

Es ist nicht überliefert, ob sich die Herrn Ketschup und Mayonnaise wunderten, dass so kurz nach der von ihnen verursachten Insolvenz dort auf diesem Privatgrundstück der Familie des Chefs der ehemaligen Klein-AG solch wertvollen neuen Bauten wie aus dem Nichts entstanden.
In den nächsten Jahren wurde das Grundstück noch weiter modernisiert und den Anforderungen eines älteren, ehemaligen Unternehmerehepaars angepasst.
Die einen freuten sich darüber, die anderen – und hier besonders unser ehemaliger Chef der Klein-AG – dankten des Öfteren den verschwiegenen Mitarbeitern von Sonnenschein und Vollmond dafür, dass sie ihn nie im Stich ließen.

Erfüllt

Die Vollmacht für seine Frau benutzte er nur ganz gelegentlich und auch nur, um altersbedingt etwas bequemer zwischen den Kontinenten hin und her zu fliegen und ihr gemeinsames Leben zu genießen.
Einige Jahre später wurden Sonnenschein und Vollmond nicht mehr gebraucht.
Es gab für sie nichts mehr zu tun – Sinn und Zweck dieser Organisation hatten sich erfüllt.
Die restlichen Werte wurden zwischen den Beteiligten gerecht aufgeteilt.
Und damit war auch das letzte Kapitel von Sonnenschein und Vollmond zur Zufriedenheit aller Beteiligten ein Teil der Geschichte geworden.

Sechstes Buch

Eiswasser

Jan-Hendrik legte sorgfältig das letzte Blatt seiner Geschichte auf den vor ihm liegenden Stapel der bereits vorgelesenen Seiten.
Dann goss er aus der Karaffe mit Eiswasser sein Glas noch einmal voll und trank mit sichtlichem Vergnügen das kalte Wasser.
Er befand sich seiner Meinung nach im Dienst, und da gab es für diesen Profi-Vorleser keinen Alkohol.
Die anderen schwiegen nach dem Ende der Geschichte und Thomas wusste auch nicht so richtig, was er jetzt eigentlich sagen sollte.

Fragen

Endlich beendete Balthasar mit seiner ruhigen aber durchdringenden Stimme die Stille.
Er wandte sich an den Erzähler Jan-Hendrik und fragte ihn, was er als im Prinzip Unbeteiligter dieser Runde zu dieser Geschichte, die er gerade vorgelesen hatte, noch sagen möchte.
Jan-Hendrik war etwas überrascht über diese Aufforderung, aber auch hier Profi genug, um auf diese unerwartete Frage einzugehen.
„Wisst ihr“, antwortete er den dreien: „Für mich persönlich bleiben noch wenige Fragen offen: 
– war das Ergebnis dieser ganzen Geschichte für unseren Thomas nun gut oder schlecht?
– hat er durch das Ergebnis gewonnen oder verloren?
– Er war zwar nach allem, was ich verstanden habe, überwiegend Herr der Situation, aber er musste gleichzeitig agieren und reagieren.“

Balthasar

Balthasar dachte nach und fing an, die aufgeworfene Frage von sich aus zu beantworten.
„Wisst ihr, früher hatten wir im Varieté jede Menge Tiere.“
Nach und nach wurden es weniger.
Das Publikum kannte inzwischen die allermeisten unserer Tiere aus früheren Besuchen oder aus Film und Fernsehen.
Erst fielen die Raubtiernummern raus.
Dann die Elefanten.
Und zum Schluss die Varieté-Nummern mit Hunden, Affen, Vögeln oder sonstigen kleinen Tieren.
Meine ganz persönliche Leidenschaft sind Pferde.
Mein Traum war es, eine große Pferdenummer als Krönung in unser Programm mit aufzunehmen.
Das hat aus den verschiedenen Gründen, die jetzt keine Rolle mehr spielen, nicht geklappt.
Aber bei mir gibt es noch eine Pferdenummer, die es wohl sonst nirgends auf der Welt mehr gibt.
Wir haben zum einen das kleinste Pferd der Welt – es ist ein Falabella-Pony mit knapp 40 cm Schulterhöhe. Ganz klein, ganz hell und verspielt.
Und wir haben das größte Pferd der Welt, ein Exemplar der Shire-Horse-Rasse mit über 210 cm Schulterhöhe. Ein Pferde – Riese, ganz dunkel, gewaltig und unglaublich schön.
Diese beiden Pferde werden bei uns in der Manege gezeigt.
Erst das Kleine, ganz allein.
Dann der Riese, ebenfalls allein.
Und dann die beiden zusammen und nebeneinander.
Ich selber stehe als Leiter dieser kleinen Variete-Nummer in der Mitte der Manege mit meinem Stock und der kleinen Peitsche.
Diese beiden Pferde machen keine Kunststücke, keine Drehungen oder sonstige angelernte Bewegungen.
Alleine die Tatsache, dass diese beiden Tiere zusammen sich in ihrer natürlichen Schönheit zeigen, fasziniert alle Zuschauer bei jeder Vorstellung.
Von der Mitte der Manege aus beobachte ich, wie das Publikum reagiert.
Bewunderung, etwas Angst vor dem Großen und etwas Mitleid mit dem ganz Kleinen – all das hält sich bei unseren Besuchern ungefähr die Waage.
Es ist auch nicht so, dass man vielleicht annehmen könnte, dass bei Kindern und Frauen das kleine weiße Mini-Pony, das sehr viele kleine Trippelschritte braucht, um einmal rund um die Manege zu laufen, der Favorit ist.
Der große dunkle Riese, der neben dem kleinen und ganz hellen Pony läuft, durchquert den Umfang des gesamten Manegekreises mit nur wenigen Schritten.
Und wenn ich dann in der Mitte stehe und mir das alles bei jeder Vorstellung anschaue, dann weiß ich, dass extreme Unterschiede manchmal nicht viel bedeuten.
Die Liebe zum ganz Kleinen ist genauso vorhanden wie die Zuneigung zum Großen und Gewaltigen.
Und um dies jetzt abzuschließen – ich glaube nicht, dass wir in der Geschichte von Thomas nur die eine Seite sehen dürfen.
Die andere ist genauso wichtig.
Das eine wäre ohne das andere nicht geschehen, und deswegen ist aus meiner Sicht Lob oder die Verurteilung dessen, was wir aus der Geschichte gehört haben, nicht angemessen.

Alternativ

Jetzt hob Waldemar den Kopf, blickte Thomas kurz an und fragte ihn in seiner pragmatisch klaren Art:
„Sag mal, Thomas, was wäre deiner Meinung nach passiert, wenn die beiden unangenehmen Menschen der Kozbank dir anstandslos den zusätzlichen Kredit gegeben hätten und du somit neben deinem großen Kunden noch einen zweiten, und sicherlich ebenso großen Kunden dazu gewonnen hättest?“ „
Jetzt sahen alle auf Thomas.
Es war offensichtlich, dass Thomas mit dieser Frage nicht gerechnet hatte.
Dann antwortete er Waldemar ganz direkt.
„Kein Selbstmitleid“ – das war eine der Bedingungen beim Aufschreiben dieser Geschichte.
Und deshalb will ich euch etwas sagen, was ihr als normale Konsumenten nicht wissen könnt.
Die Nachfrage nach unserem Hauptartikel war in den letzten beiden Jahren vor der Pleite erst stagnierend, dann leicht rückläufig.
Es waren zwar immer noch gewaltige Mengen, die wir jedes Jahr abliefern sollten.
Aber es war weniger als vor fünf Jahren und sehr viel weniger als vor acht oder zehn Jahren.
Ob eine Marktsättigung eingetreten war, ob viele Taxifahrer in Ruhestand gegangen waren, und ob die Rentner nicht mehr so eine natürliche Heizung durch ein Lammfell auf ihrem Sitz haben wollten – es gibt darüber keinerlei Erhebungen.

Erinnerungen

Dann fuhr Thomas fort:
Die meisten von euch können sich erinnern, wie vor zwanzig Jahren die Menschen an bestimmten Donnerstagen morgens um 5:00 Uhr aufstanden, um sich um 7:00 Uhr in die Reihe der Schlange vor dem Eingang von Aldi zu stellen.
Laut Vorankündigung sollte an diesem Tag genau wie vor einem Jahr ein neuer kleiner und wirklich günstiger Computer verkauft werden.
Um 9:00 Uhr waren die gesamten Bestände in den tausenden von Läden ausverkauft.
Diese Entwicklung ging vielleicht über fünf Jahre, dann gab es Konkurrenz, dann hatten spezielle Elektronikmärkte gleichwertige und fast gleich günstige Angebote in ihrem Sortiment.
Und dazu noch eine Fachberatung, die bei Aldi unmöglich war.
Was ich damit sagen will, ist, dass es Entwicklungen gibt, die man vielleicht in etwa vorhersehen kann, dessen Ende aber niemand genau weiß.
Diese Insolvenz ist jetzt fast zwanzig Jahre her.
In den nächsten drei Jahren nach der Insolvenz war zuerst der Lammfellautositz bei Aldi nur noch ein kleines Produkt neben vielen anderen auf der wöchentlichen Sonderangebotsseite.
Nach drei Jahren verschwand der Artikel komplett aus dem Sortiment.
Nach fünf Jahren kannte ihn praktisch keiner mehr.

Glück

Ich glaube, ich hatte das unheimliche Glück, zur rechten Zeit mit dieser Spezialproduktion anzufangen, und wurde zu meinem Glück gezwungen, dann ungewollt damit aufzuhören.

Vergleich

Ich weiß, jeder Vergleich hinkt.
Aber jetzt sehe ich die Situation ungefähr in folgendem Vergleich –
Der vielbeschäftigte Manager geht mit einem unangenehmen, aber kleinen Wehwehchen zu seinem Facharzt.
Der verschreibt ihm nach einer kurzen intensiven Untersuchung einige Medikamente und erklärt, dass dieses schmerzhafte, zeitweilige Unwohlsein damit in ein bis zwei Wochen auskuriert sein wird.
Dann macht der Arzt eine kleine Kunstpause und sagt seinem erleichterten Patienten:
Im Übrigen haben wir bei dir ein inzwischen ein recht groß gewordenes Krebsgeschwür gefunden.
Du kannst mit einer Therapie und entsprechender Fachbehandlung wahrscheinlich noch mit dem Leben davonkommen.
Es wird sich aber dann für dich sehr viel ändern und du wirst nie wieder der sein, der du jetzt geworden bist.

Der Untertitel

Thomas schluckte ein bisschen, und die Stimme wurde unsicher.
Und so kam es dann auch.
Wenn ich mit dem neuen Kredit und allem drum und dran weitergemacht hätte wie bisher, nach kurzer Zeit wäre dies mein Ende gewesen.
Die Tatsache, dass ich durch damals für mich unvorstellbar ignorante Mitmenschen zur Aufgabe meiner Arbeits- und Lebenssituation gezwungen wurde, hat mich gerettet.
Und deswegen, liebe Freunde, habe ich jede Seite meines kleinen Insolvenzberichts auch mit einem speziellen Untertitel versehen:
Die Geschichte einer wundersamen Rettung.

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