Wenn Haie lächeln
Der Sonnenaufgang war wie immer umwerfend.
Die Touristen wie immer nicht.
25.000 von ihnen stapften jeden Morgen über den „schönsten Strand der Karibik“, ausgestattet mit Sonnenhut, Kamera, Selbstüberschätzung und dem festen Willen, heute etwas Kulturelles zu tun. Meistens endete dieses Vorhaben nach neun Minuten.
Die Engländer hatten inzwischen alle Liegen mit Handtüchern besetzt – auch die, die erst morgen angeliefert werden sollten. Die Bars waren noch geschlossen, also irrten die Besucher ziellos umher und stellten riskante Fragen wie:
„Was sind das für Häuser da drüben?“
oder
„Wohnen hier echte Menschen?“
Unsere Sicherheitsleute, deren Alphabet aus drei Silben besteht, reagierten wie trainiert: freundlich nicken – und abliefern. Und zwar uns. Jeden Tag. Seit 15 Jahren. Rituale eben.
Unser kleines weißhaariges Männchen – offiziell Rentner, inoffiziell die „Touristeninfo des Grauens“ – saß wie immer auf der Terrasse und versuchte, sich innerlich unhörbar die Siesta herbeizuwünschen.
Doch um 11 Uhr traf die heutige Delegation ein: zwei Paare aus einem Land, das offensichtlich beschlossen hatte, keine der gängigen Weltsprachen zu übernehmen. Nicht einmal Plattdeutsch.
Sie kommunizierten hauptsächlich über Augen, Arme und Hüften – eine Art ritueller Volkstanz, der vermutlich Fragen stellen sollte.
Da der weißhaarige Mann Diskretion mit Müdigkeit verwechselte, entschied er sich für das, was man unter Pädagogen „abschreckende Wissensüberflutung“ nennt.
Er wies theatralisch aufs Meer – als würde gleich Moses durchs Wasser schreiten.
„Dort draußen“, intonierte er, „liegt das Riff. Millionen Jahre alt. Wer drüber will, verliert Füße. Meistens schon, bevor er merkt, dass er überhaupt drüber wollte.“
Die Touristen erstarrten in respektvollem Unverständnis. „Vor dreißig Jahren“, erklärte er weiter, „hat man mit Dynamit zwei Durchgänge hineingesprengt. Damit Boote hinausfahren können. Wo sie sind? Das wissen nur die Kapitäne. Und nicht einmal alle.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, die leider niemand als solche erkannte.
„Sehen Sie da links“, sagte er dann, „das Hotel mit den 300 gegrillten Gästen? Da oben sitzt der Bademeister. Er rettet niemanden – er dokumentiert nur.“
Die Besucher lächelten verwirrt, vermutlich weil sie dachten, „Bademeister“ sei ein tropischer Vogel.
„Wenn jemand im Wasser rudert, spült ihn die Brandung automatisch zurück. Nature-first-Prinzip. Nur bei Russen dauert es etwas länger, weil sie oft versuchen, das Meer zu besteigen.“
Die vier Touristen begannen erste Anzeichen von Panik zu entwickeln. Ihr Fehler.
„Manchmal“, fuhr der weißhaarige Mann gut gelaunt fort, „schwimmt ein Tourist weiter raus. Die Gattung *Homo Superior Balnearius*. Er winkt seiner Familie. Der Bademeister winkt zurück. Ein globaler Dialog auf Armbewegungsbasis.“
Was der Schwimmer nicht sieht – der Bademeister aber schon – sind die kleinen schwarzen Dreiecke, die sich lässig um ihn herum bewegen. Elegant. Zielstrebig. Wie U-Boote mit Humor.
Ein argentinisches Ehepaar fragte entsetzt den Bademeister:
„Was passiert da?“
„Ach“, sagte er ungerührt, „nur ein paar Schwarzflossen-Riffhaie. 3–4 Meter lang. Sehr verspielt. Fressen selten. Und wenn, dann Touristen.“
Er lächelte beruhigend.
„Dominikaner fressen sie nie. Die kommen gar nicht erst so weit raus. Wir glauben hier fest an die natürliche Trennlinie zwischen Mensch und Meer.“
Der weißhaarige Mann beendete seine Vorlesung mit einem sanften Lächeln:
„Wir müssen jetzt abwarten. Entweder kommt der Schwimmer zurück – oder er kommt nicht zurück. Eine sehr klare, einfache Logik. Aber keine Sorge: Die Haie meinen es nicht böse. Die wollen nur spielen.“
