Der Zwischenraum

 

Herr Seemann

Der große, hagere Mann mit der dunkelblauen Schiffermütze auf dem Kopf nickte den Menschen, die ihm gegenüber saßen, kurz zu.
Er stellte sich als Herr Seemann vor und bat um einige Minuten Aufmerksamkeit.
Dann holte er einen Umschlag mit ungefähr zehn Seiten aus der Schublade des kleinen Pults, was vorhin stand.
Er setzte die Blumenvase etwas an den Rand des Pults, so dass er den Text der Notizblätter besser ablesen konnte.
Er war ein Profi.
Und so wie er den Text dann flüssig und mit einer überwiegend richtigen Betonung vorlas, merkte man, dass er diesen Text schon mindestens einmal vorher durchgelesen hatte.

Das Thema

Dann fing er an die erste Seite vorzulesen und seine ruhige, dunkle Stimme nahm die Zuhörer mit in ein Thema, das niemand erwartet hatte.

Liebe Freunde,
Man kann die Entwicklung seines eigenen Lebens sehr gut von den Ereignissen an einigen Kalendertagen ableiten und nachvollziehen.
Um zu dieser banalen Erkenntnis zu kommen, hat es bei mir fast achtzig Jahre gedauert.
Das Ergebnis hat mich erstaunt und erschüttert.
Ich war bis jetzt der festen Überzeugung, dass meine Entwicklung auf einer Abfolge von Ereignissen, Einflüssen und Ergebnissen beruht, die man aus einer Summe von positiv, negativ, trivial, außergewöhnlich, zufällig und unvermeidbar ableiten könnte.
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass eine einzige Eigenschaft mein Leben so gestaltet und geformt hat, wie ich es jetzt erkannt habe.

Die Eigenschaft

Diese Eigenschaft selbst ist mir nach meiner festen Überzeugung so wesensfremd, dass ich sie bei einer einfachen Rückschau mit Sicherheit überhaupt nicht in Betracht gezogen hätte.
Und doch hat sie mein Leben in einer Weise gestaltet, die mir erst jetzt bewusst geworden ist.
Es ist die Gewalt.

Ich habe sieben Tage aus verschiedenen Jahrzehnten auf einen Zettel geschrieben.
Der liegt vor mir.

Diese sieben Tage müssen jetzt nur noch mit Worten, Erklärungen und Gedanken verbunden werden.

Mittwoch, 17. Juni 1953

Ich war in der zweiten Klasse der Grundschule.
Nach den Sommerferien, die hoffentlich bald anfangen würden, sollte ich in die dritte Klasse kommen.
Zuhause waren meine Mutter, unser Kindermädchen Martel, die seit sechs oder sieben Jahren bei uns in der Wohnung wohnte, in einem typischen, sehr kleinen Gouvernantenzimmerchen, wie es bei uns hieß.
Sie passte auf mich, meinen drei Jahre jüngeren Bruder und meine sechs Jahre jüngere Schwester auf.
Zusammen mit meiner Mutter waren die beiden ein sehr gut eingespieltes Team für alles, was Haus, Wohnung, Essen, Waschen von Kindern und Kleidung sowie das Ertragen von regelmäßigen und oftmals völlig unberechtigten Belehrungen unseres Vaters bezüglich der gesamten Hausarbeit betraf.

Wir wohnten im ersten Stock in einer Villa an der Alster.
Im Keller gab es Räume für Vorräte, Wäsche waschen, Heizung, Werkzeuge und Gartengeräte.
Als ich von der Schule nach Hause kam, war die Wohnung seltsam ruhig und leer.
Ich hatte – so wie es damals üblich war – einen Haustürschlüssel an einem dicken Band um den Hals, um jederzeit die Hauseingangstür und die Wohnungstür zu öffnen, zu kommen.
Man nannte das Schlüsselkinder.
Es war an sich gedacht für die Millionen von Kindern, deren Väter im Krieg gefallen waren und wo die Mütter jetzt arbeiten mussten und die Kinder tagsüber nach der Schule völlig alleine waren.

Als ich weder meine Mutter noch Martel noch meine Geschwister in der Wohnung antraf, fand ich es schon recht merkwürdig.
Ich ging wieder runter auf die Straße und um das Haus rum.
Auf der Rückseite gab es einen Kellereingang und hier stand die Tür offen.
Was ich dort sah, hat sich bis heute fest in mein Gedächtnis eingeprägt.
Meine Mutter hielt sich an einem großen Waschtrog mit beiden Händen fest und weinte und schluchzte.

Martel weinte ebenfalls, nur stiller und intensiver. Sie war in einer dunklen Ecke des Kellerraums damit beschäftigt, Matratzen auszulegen, die sie aus einer alten Abstellkammer herausgezerrt hatten.

Es lagen schon drei oder vier Matratzen auf dem Fußboden.
Martel war dabei, sie mit irgendwelchen Bettlaken oder Kissen zu provisorischen Schlafgelegenheiten umzubauen.
Meine kleinen Geschwister saßen in der Ecke und spielten.

Als meine Mutter mich in der Tür stehen sah, kam sie auf mich zu, nahm mich in den Arm und schluchzte mit leiser Stimme: „Nun ist schon wieder so weit.“
Ich verstand überhaupt nichts.

Später hörte ich dann den Grund für diese ziemlich schreckliche Szene bei uns im Keller:
200 km entfernt von uns – in Berlin – hatte es an diesem Tag einen Aufstand gegeben.
Dabei waren Panzer durch die Straßen gerollt und es gab Tote.
Im Radio war dies das einzige Thema, und es wurde ununterbrochen aus Berlin berichtet.
Ich hatte keine Ahnung, was in Berlin passierte – und weil das ganze schon so lange zurückliegt, gehe ich davon aus, dass der eine oder andere auch nicht mehr weiß, wie die damalige Situation war.

Deutschland war am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört und von den vier Alliierten besetzt worden.
Im Süden die Amerikaner, im Westen die Franzosen Im Norden die Engländer und im Osten die Russen.
Jedes Land hatte seine Zone, die es praktisch so verwaltete wie ein Teil seines eigenen Landes.
In der Hauptstadt Berlin wurde das, was in Deutschland im Großen passierte, auch im Kleinen durchexerziert.
Genau wie fünfzig Jahre früher in China, wo die Großstadt Shanghai einfach in vier Besatzungszonen aufgeteilt wurde, so hat man am Ende des Krieges auch Berlin aufgeteilt.
Später sind dann die drei westlichen Teile, also die Berliner Gebiete der Amerikaner, der Franzosen und Engländer, zusammengefügt worden zum sogenannten West-Berlin.
Aber die Russen machten nicht mit und behielten Ost-Berlin als Teil ihrer Besatzung.
Und in diesem Ostberliner Bezirk unter russischer Verwaltung hatten an diesem Morgen die Arbeiter aus Wut über schlechte Bezahlung und permanente Unterdrückung durch die russischen Soldaten angefangen zu streiken.
Sie sind dann auf die Straße gegangen und binnen weniger Stunden wurde hieraus in Ost-Berlin ein Volksaufstand.

Dann kam das russische Militär und fing an, auf die Demonstranten zu schießen.
Das Ganze muss so schnell und schrecklich gewesen sein, dass der restliche Teil Deutschlands davon nur Bruchstücke erfuhr.
Als einzig aktuelle Informationsquelle gab es nur das Radio.
Und hier lösten sich die Reporter mit ihren Reportagen alle paar Minuten ab, mit immer weiteren neuen Einzelheiten.

Martel und meine Mutter hatten das Radio tagsüber normalerweise immer an.
An diesem Tag standen sie wie Millionen anderer Deutsche um jedes Radio herum, um zu erfahren, was in Berlin passierte.

Meine Mutter erinnerte sich sofort daran, dass sie bei meiner Geburt in Mölln nur wenige Kilometer von der damaligen russischen Frontlinie entfernt war.
Die Russen wollten Hamburg erreichen, das hätten sie in wenigen Tagen geschafft.
Dann wären Mölln und alles, was dazwischen war, unter russische Besatzung gefallen.
Aus irgendeinem Grund, den sie nie richtig verstanden hatte, stoppte der russische Vormarsch einen Tag, bevor sie Mölln erreicht hatten.
Durch diese wundersame Fügung wurde ich im seinerzeit englischen Teil Norddeutschland in Mölln geboren – meine Mutter hat dies nie vergessen.
Jetzt war es ganz tief in ihr drin und wieder rausgebrochen – die Angst vor einem russischen Einmarsch oder Überfall.

Sie sagte im Keller immer nur die Worte „nie wieder, bitte nie wieder“ und meinte damit ihre Vorstellung, dass sich dieser Aufstand aus Berlin jetzt auf andere Teile Deutschlands ausbreiten könnte und dann würde sie am Ende doch noch in russische Einflusszonen oder Gefangenschaft kommen.

Sie hatte – wie alle in Hamburg – gelernt, dass bei Kriegsgefahren zuerst der Keller geräumt werden musste.

Das war der Ort, wo man vor den Bomben am sichersten war.
Also war instinktiv an diesem Morgen auch ihr erster Gedanke, sofort den Keller wieder aufzuräumen und vorzubereiten, falls ein neuer Krieg beginnen sollte, mit all den Flugzeugen, die am Himmel auftauchen würden, um Hamburg zu bombardieren.
Von dieser ganzen Sache hatte ich als Achtjähriger keine Ahnung.

Aber das Gefühl einer großen Gefahr, verbunden mit einer großen Verzweiflung, konnte ich so gut spüren, wie nur Kinder in der Lage sind, so etwas aufzunehmen.
Der Aufstand in Berlin wurde durch die Russen niedergeschlagen.
Eine Erweiterung und Verlagerung auf die westlichen Gebiete von Berlin wurde verhindert und dieser Tag ging in die Geschichte Deutschlands ein als Tag des Berliner Aufstands.
Für mich ein erster, und wie ich heute erkenne, wichtiger Tag, wo man ohne irgendein eigenes Zutun ganz schnell die anderen Seiten des normalen Lebens kennen lernte.

Sonntag, 11. November 1956

In Ungarn gab es seit dem 23. Oktober einen Volksaufstand gegen die russische Besatzung.
Ich hatte als Elfjähriger davon so gut wie nichts mitbekommen.
Im Radio und in den Zeitungen war es ein Thema, aber nicht so, dass man von morgens bis abends darüber sprach.

Erst Jahre später, als ich selber gelegentlich in Ungarn war, um geschäftliche Besprechungen mit den dortigen staatlichen Import-Export-Verwaltungen zu führen, wurde mir abends privat von meinen Geschäftspartnern viel über diesen Aufstand erzählt.

Ich habe deswegen diesem Ereignis auch einen Platz in meinem Gedächtnis gegeben und Ungarn 1956 ist für mich ein Mosaikstein in meinem ganz persönlichen Kalender.
Der Aufstand selber wurde blutig niedergeschlagen. Die Parallelen zu Berlin drei Jahre vorher waren offensichtlich und fürchterlich.

Sonntag, 29. Oktober 1962

Ich war siebzehn und vor einigen Wochen elegant von der Schule geflogen.
Mein Vater und der gesamte größere Familienrat war entsetzt über die Tatsache, dass ich als erster Henckell seit Generationen ohne Abitur mich getraute weiterzuleben.
Meine Hobbys, Jazzmusik, leicht exotische Mädchen und die eigene Situation so darzustellen, dass dann zum Schluss nicht nur ich, sondern auch meine Zuhörer daran Gefallen fanden – dieses Hobby hatte ich gepflegt und dabei das Erlernen von chemischen oder physikalischen Formeln sowie der lateinischen Grammatik nebst Vokabeln so in den Hintergrund geschoben, dass auch die zuletzt recht häufigen und gelegentlich flehentlichen Besuche meiner Mutter bei meinem Klassenlehrer nichts mehr ausrichten konnten.
Der Familienrat beschloss, für mich eine irgendwie passende Lehrstelle zu finden, und bis dahin wurde ich tagsüber ziemlich geächtet.

Nachts schlich ich mich regelmäßig aus dem Fenster des Kinderzimmers über mehrere Dächer runter bis hin zur unter uns liegenden Küche.
Und von dort aus über das Treppengeländer ab in den Garten und in den nächsten Bunker, wo meine Musik gespielt wurde und ich auch sonst das fand, was mich interessierte.
Aber in den letzten Tagen war das Klima zu Hause irgendwie anders.
Es wurde nicht viel oder im Prinzip überhaupt nicht darüber in Anwesenheit von uns Kindern gesprochen.

Selbst meine kleine Schwester, die sonst in ihrer Rolle als kleines blondes Mädchen und Lieblingstochter der Familie so ziemlich alles mitbekam, merkte diesen Stimmungswandel.
Aber auch sie hatte auch keine Erklärung dafür.
Am Abend davor – es war ein Sonnabendabends – durfte ich offiziell bis zu irgendeiner späten Stunde irgendwo in unserem Stadtteil tun und lassen, was ich wollte – an diesem Abend kam ich sehr spät nach Hause.
Ich schlich mich wie üblich ins Kinderzimmer, wo die Doppelbetten standen, die ich mit meinem jüngeren Bruder teilte.
Er oben und ich unten.
Ich schlief dann bis spät in den Sonntagmorgen.

Als ich aufwachte und ins Wohnzimmer ging, war die Situation so fremd für mich, dass ich erst dachte, ich würde noch schlafen und träumen.
Mein Vater stand im Wohnzimmer, lief auf und ab und hatte dabei in der einen Hand den Telefonhörer und in der anderen Hand das eigentliche Telefon mit der sehr langen Schnur.
Er sprach sehr laut, aber ich konnte mir trotzdem aus dem, was er sagte, keinen Reim machen.
Meine Mutter hatte vom Boden einige alte braune und schwarze Lederkoffer runtergeholt und sie schon zum großen Teil mit Kleidern und vielen anderen Sachen gefüllt.
Martel saß an der Ecke, ganz stumm und man merkte, dass sie wohl sehr viel geweint hatte.
Meine Geschwister waren von den Eltern aus dem Wohnzimmer geschickt worden, ohne große weitere Erklärung.

Dann hörte ich meinen Vater, wie er in den Telefonhörer sprach:
„Gut, Arnold. Morgen, also 18:00 Uhr, ab Kopenhagen und du informierst den Kapitän, dass er die Kabine unbedingt freihält. Wenn möglich zwei.
Ich ruf dich wieder an, wenn wir auf dem Schiff sind, und danke für alles.

5000 Kilometer weiter westlich war in den letzten Tagen die Kubakrise ausgebrochen und näherte sich ihrem Höhepunkt.
Schiffe mit russischen Raketen waren über dem Atlantik kurz vor Kuba angekommen und sollten in Kuba aufgestellt werden.
Der amerikanische Präsident und sein Kabinett hatten öffentlich erklärt, dass sie das nicht akzeptieren werden und sie würden Kuba angreifen und vernichten, wenn dort Raketen aufgestellt werden, die gegen Amerika gerichtet sein würden.

Die Eskalation war mit den Händen zu greifen.
Nikita Chruschtschow, der seinerzeitige russische Parteivorsitzende und Präsident und sein amerikanischer Gegenspieler Präsident John F. Kennedy hatten ein Pokerspiel begonnen, von dem niemand wusste, wie es ausgehen würde.
Aber die nächsten 12 Stunden waren jetzt entscheidend.
Es stand der dritte Weltkrieg in Form eines Atomkriegs zwischen Amerika und Russland direkt vor der Tür.

Mein Vater hatte das Ganze mit sehr großer Sorgfalt, aber gleichzeitig mit der ihm eigenen Akribie und Nüchternheit beobachtet.
Er war zu dem Entschluss gekommen, dass wir in dem Moment, kurz bevor der große Knall kommen würde, Hamburg verlassen sollten.
Er hatte mit seinem Bruder Arnold, der schon seit zwanzig Jahren in Island lebte, vereinbart, dass sie in so einem Fall mit dem nächstmöglichen Schiff von Deutschland oder Dänemark nach Island reisen, um dort, wenn möglich, dem nächsten Krieg in irgendeiner Form zu entgehen.
Und jetzt war die Situation so, dass mein Vater – genau wie Millionen andere Menschen – der Meinung war, es würde keine Lösung geben und mit einem riesigen Knall würde alles enden.
Das Ganze wurde mir mit sehr wenigen Sätzen von meinen Eltern erklärt, als ich verstört im Wohnzimmer stand und sah, wie man die nötigsten Sachen zusammenpackte.
Am Nachmittag wollten wir dann mit dem Auto nach Dänemark, um am nächsten Nachmittag mit einem Schiff nach Island zu reisen.

Mein Onkel in Island hatte es organisiert, dass der Kapitän eines kleinen Schiffes, welches zwischen Island und Dänemark hin und her pendelte, dass dort mindestens eine Kabine freigehalten wurde.

Island hatte seinerzeit insgesamt nur 150.000 Menschen. Dort kannte jeder jeden und deswegen klappte diese Vorbestellung für die Reise von Dänemark nach Island.
Was aus dem Geschäft werden würde, was aus all dem werden würde, was er seit vielen Jahren aufgebaut hatte – all das interessierte mein Vater nicht.

Er sah seine Verantwortung in der Rettung der engen Familie, also seiner Frau und seiner drei Kinder.
Unter dieser Prämisse war jetzt alles geplant und vorbereitet.
Ich selber war enorm überrascht.
Auch darüber, dass mein Vater sich so schnell entscheiden konnte, sein Lebensziel – den Sitz am Schreibtisch in der Firma – einfach aufzugeben, um seine Familie zu retten.
In 4 oder 5 Stunden sollte es losgehen.
Fernsehen gab es zwar schon, aber wir hatten keinen Apparat.
Im Radio wurde nur noch über die Kubakrise und die kommenden Ereignisse der nächsten Stunden berichtet.

Ich selber war, wenn ich auf diese Ereignisse zurückblicke, auf der einen Seite erschrocken über alles, was sich jetzt hörte und sah.
Auf der anderen Seite empfand ich auch eine tiefe Bewunderung für meinen Vater, dass er in dieser Form alles daran setzte, um Leben und Gesundheit der Familie zu retten.
Drei oder vier Stunden später kam die Sondermeldung, die in ganz Deutschland sofort verbreitet wurde:

Die Russen hatten eingelenkt.
Ihre drei vordersten Schiffe mit den Raketen hatten im letzten Moment vor der Ankunft in Kuba ihren Kurs um 180° gedreht und waren jetzt wieder auf dem Rückweg von Kuba in Richtung Europa.

Die Kubakrise war abgewendet.
Der amerikanische Präsident hatte sich durchgesetzt und die Welt atmete auf.
Als wir diese Nachricht im Radio hörten, gab es einen Aufschrei und alle lachten und weinten zugleich.

Ich habe diesen Moment noch heute so tief in meiner Erinnerung wie kaum etwas anderes.
Mein Vater als ganz korrekter Hamburger Kaufmann zahlte einige Zeit später dem Kapitän die Gebühr für ein oder zwei Kabinen, die auf einer Reise von Kopenhagen nach Reykjavík nicht belegt wurden.

Mittwoch, 21. August 1968

Ich hatte nach drei Jahren Lehre in Hamburg und den ersten zwei Jahren im Schlachthof und in der Pampa von Argentinien einige Wochen Heimaturlaub.
Meine Hamburger Familienfirma hatte bei einigen größeren Kunden durchblicken lassen, dass man jetzt eine eigene Niederlassung in Buenos Aires hätte, und bei Interesse könnte man dadurch sicherlich das eine oder andere für eine gemeinsame Geschäftsentwicklung suchen und finden.

Es meldete sich eine der größten europäischen Schuhfabriken.
Sie kauften normalerweise sehr große Mengen Rindleder über internationale Händler in Rotterdam, London und New York.
Man fragte bei uns in Hamburg an, ab man jetzt über unsere neue Niederlassung in Buenos Aires auch direkt in Argentinien die für die Schuhproduktion nötigen Leder und Häute beschaffen könne.

Ein Vorhaben, das für die normalen Verhältnisse unserer Familie viel zu groß war.
Aber darüber wurden weder ich noch die seinerzeitigen Leiter der Schuhfabrik so richtig informiert.
Diese sehr große Schuhfabrik befand sich in der Tschechoslowakei.
Die Tschechen waren bekannt für gute Lieder und auch für sehr gute Schuhproduktion.
Und so wurde ich beauftragt, beim nächsten Heimatbesuch mich ins Auto zu setzen und die Schuhfabrik zu besuchen.
Der Besuch war aus geschäftlicher Sicht ein totaler Misserfolg.
Ich war viel zu jung, um bei den Profis der Schuhfabrik einen vernünftigen Eindruck machen zu können.

Als die Geschäftsleitung aus reiner Höflichkeit noch einen zweiten Verhandlungstag ansetzte, fiel die Entscheidung recht schnell.
Aber gleichzeitig wurde ich abends zu einem privaten Treffen in einem kleinen Restaurant eingeladen.

Dort lernte ich einen Tschechen kennen, der mich sehr beeindruckte und mit dem ich dann später eine jahrzehntelange Freundschaft aufbaute – eine der schönsten Freundschaften meines Lebens.
Einige Monate später, am Mittwoch dem einundzwanzig August, brach in der Slowakei ein Volksaufstand los.

Die Menschen wollten sich mit aller Kraft und den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln von der russischen Gewaltherrschaft befreien.
Abends fuhren Panzer durch Prag und es gab Verletzte und Tote.
Ich erfuhr am nächsten Tag aus der Presse und dem Fernsehen, welche Ausmaße dieser Volksaufstand angenommen hatte.
Ich war sehr deprimiert und dachte häufig an die Menschen, die ich bei meinem kurzen Besuch in Prag kennengelernt hatte.

Von meinem Freund Jurek hörte ich dann später das ganze Ausmaß dieses misslungenen und niedergeschlagenen Volksaufstandes.
Die Menschen hatten alles versucht, alles gewagt und am Schluss alles verloren.
Jurek, so hieß mein Freund, wohnte in einer kleinen Stadt 100 km südwestlich von Prag.
Dort besuchte ich ihn dann später mehrmals, und er erzählte bei verschiedenen Gelegenheiten und aus verschiedenen Anlässen immer wieder, was in diesen Tagen des Volksaufstandes in der Tschechei passierte.

Viele Jahrzehnte später endete diese russische Gewaltherrschaft und damit verschwand auch die Erinnerung an ein Ereignis, welches bei vielen einen sehr tiefen und nachdenklichen Eindruck hinterließ.

Dienstag, 11. September 1973

Ich hatte im Januar 1972 in Santiago de Chile meine Inkaprinzessin geheiratet.
Sie war zuvor einige Wochen in Deutschland, damit sie ihr eventuelles neues Zuhause kennenlernen konnte.
Es war dies ihre zweite Ehe. Sie hatte in sehr jungen Jahren einen Chilenen geheiratet und bekam dann kurz hintereinander zwei Kinder.
Chile war zu der Zeit in der Welt bekannt als ein Land, wo eine sozialistische Regierung versuchte, den Lebensstandard der Bevölkerung so zu gestalten, dass nicht nur die obersten fünf Prozent der Großgrundbesitzer noch vermögender wurden, sondern dass die sehr große Masse an kleinen und mittleren Landsleuten ein besseres und hoffnungsvolleres Leben erwarten konnte.

Dieser Versuch stieß in weiten Teilen Amerikas, insbesondere in den USA und einigen sehr rechtsorientierten Militärdiktaturen in Südamerika, auf erbitterten Widerstand.
Die Konsequenz für meine Frau und für mich war, dass eine Ausreise mit den Kindern unmöglich gemacht wurde.
Die Spannungen im Land stiegen praktisch jede Woche. Es gab die ersten großen Razzien und Verhaftungswellen.

Der frühere Mann meiner Frau arbeitete in einer Position, wo davon auszugehen war, dass man ihn früher oder später dort verhaften würde.
Es kamen jetzt zwei Dinge zusammen – zum einen gab es nur die Möglichkeit für meine Frau, mit den beiden Kindern nach Deutschland auszureisen, wenn der leibliche Vater der Kinder diesem zustimmen würde.
Auf der anderen Seite war der Vater jetzt definitiv untergetaucht, niemand wusste, wo er war oder wo er sich aufhielt.
Dann eskalierte die politische Situation innerhalb weniger Wochen so stark, dass es zum Schluss zu einem Militärputsch kam.

Am Dienstag dem 11. September 1973 griffen Kampfflugzeuge den Sitz der Regierung in Santiago an, zertrümmerten viele Regierungsgebäude und der seinerzeitige Präsident Allende wurde erschossen.
Ich selber konnte von Deutschland aus überhaupt nichts unternehmen, um meine Frau und ihre Kinder in irgendeiner Form nach Deutschland und damit in Sicherheit zu bringen.
Erst Jahrzehnte später erfuhr sie, dass ihrem ersten Mann die Flucht nach Schweden gelungen war und er sich dort heimlich eine neue Existenz aufbauen konnte.
Da es keinerlei Kontakt gab, konnte er der Ausreise der Kinder nicht zustimmen.
Aber meine Inkaprinzessin hatte es wie ein Löwin nach einem irren Kampf mit den Behörden geschafft, trotzdem mit einem Urteil des höchsten chinesischen Gerichts zwei Jahre später mit den Kindern nach Deutschland zu reisen.

Die Umstände dieser Ausreise waren das Ergebnis einer chilenischen Mentalität, die sich nicht unterkriegen lassen lässt.

Eine Ausreise mit zwei Kindern aus einem Land, wo es erst einen Volksaufstand gab, dann wurde alles von ultrarechten amerikanischen und südamerikanischen Kreisen zerstört, dann begann das Chaos und endete unter Pinochet mit hunderttausendfacher Verfolgung, Internierung und Tod – all das hat sich ganz tief bei mir eingegraben.
Gleichzeitig auch die Bewunderung für meine Frau, dass sie in dieser Situation so für ihre Kinder und letztendlich auch für sich selber und ihre neue Ehe kämpfen konnte, wie es wahrscheinlich nur jemand konnte, der die brutale Gewalt erlebte und verachtete.

Sonntag, der 4. Juni 1989

Als ich die Firma übernahm, krempelte ich sie gleichzeitig auch ziemlich radikal um.
Zehn Jahre Abenteuer in Südamerika waren genug.
Zwischen Feuerland, den mittleren und oberen Amazonas bis hin nach Mexiko und den karibischen Inseln gab es kaum ein Dorf, in dem ich nicht irgendwann als komischer Käufer für komische Artikel auftauchte, Waren gegen Geld eintauschte und wieder weiter zog.
Ich gab Südamerika auf und fing in China neu an.
Jetzt war ich schon über zehn Jahre in China und hatte erfolgreich Fabriken aufgebaut, in denen Produkte hergestellt wurden, die zwar genauso sinnfrei waren wie vorher die Pelzmäntel aus Südamerika, aber das Ganze spielte sich zumindest in einigermaßen geregelten Zeitläufen und Bahnen ab.

Ich war jedes Jahr ungefähr die Hälfte der Monate in China.
Begleitet wurde ich bei meinen unzähligen Reisen durch Nord- und Zentralchina, der Mandschurei und vielen seinerzeit noch für Ausländer verbotenen Provinzen von einer kleinen Gruppe von Chinesen, die zum Teil als Dolmetscherinnen und zum Teil als Fachleute der Artikel, die ich produzierte, immer mit dabei waren.

Bei wochenlangen, manchmal monatelangen Eisenbahnfahrten quer durch ein Riesenreich und den immer gleichen Empfängen in den Fabriken und Verwaltungen kannte ich meine chinesischen Begleiterinnen irgendwann besser als die Mitarbeiter meiner Firma in Hamburg.
Dachte ich jedenfalls

Das chinesische System der Kontrolle war perfekt.
Als wir irgendwann mal in einem Hotel viele tausend km von Peking entfernt meinen Pass nicht finden konnten, genügte mitten in der Nacht ein Anruf bei irgendeiner geheimen Ausländerstelle in Peking, und am nächsten Morgen hatte ich eine Kopie meines Passes per Fax im Hotel.
Aufgenommen bei meiner Einreise in Peking und bestätigt bei der ersten Kontrolle in irgendeinem Hotel.

Die ersten Jahre über wurden die Reisen unserer kleinen Delegation noch zusätzlich begleitet von der lokalen Geheimpolizei und manchmal auch irgendwelchen höheren Mitarbeitern irgendeiner Militärstelle der Provinz, in der wir gerade waren.
Da niemand dieser Begleitung irgendeine Sprache außer Chinesisch sprach, hatte ich mit dieser Sonderbegleitung nie wirklichen Kontakt.
Man reiste zusammen, speiste zusammen, und sie begleiteten uns auf Schritt und Tritt bei jedem Gespräch in jeder Fabrik.

Der Kern meiner wahren Reisebegleitung bestand aus Mitarbeitern einer chinesischen Im- und Exportbehörde, mit denen ich sehr viel geschäftlich zu tun hatte.
Eine ältere Dame, eine Dame in mittleren Jahren und eine noch relativ junge Frau waren das Trio, was immer mit mir zusammen war.
Alle Sprachen sehr gut Englisch und im Laufe der Jahre wechselte der anfängliche Respekt in eine gewisse Freundschaft.
Und jetzt die komplette Überraschung.
Die komplette Bestürzung.
Die komplette Bewunderung.

Ich war zusammen mit meinem älteren Sohn auf einer ganz normalen Geschäftsreise in China, und auf dem Weg von Nordchina nach Zentralchina verbrachten wir einige Tage in Peking, um unsere Angelegenheiten zu sortieren und für die nächsten Etappen vorzubereiten.
Wir waren im gleichen Hotel wie immer in Peking, einem kleinen und recht luxuriösen Hotel direkt an der Hauptstraße, die zum großen Platz des Volkes führte.
Die Chinesen hatten ihr Büro ebenfalls an dieser Straße, einige Blocks entfernt im dritten und vierten Stock.

Und dann ging alles ganz schnell.
Über Nacht wurden von einer kleinen Gruppe von Studenten an die große Wand vor der verbotenen Stadt hunderte von Wandzeitungen geklebt.
Mit völlig neuen Texten und Forderungen.
Ich selber hatte davon überhaupt nichts mitbekommen, obwohl wir nur einige 100 m entfernt davon übernachteten.

Die Forderungen auf diese Wandzeitungen waren so rigoros und neu, dass sich alles wie ein Lauffeuer in der Riesenstadt verbreitete:
Dann kamen die ersten Studenten und versammelten sich auf dem Tianmen-Platz, dem zentralen Platz des Volkes.

Und als ich an diesem Morgen vom Hotel zu Fuß zur Bürozentrale unserer Pekinger Geschäftsfreunde ging, sah ich aus vielen Fenstern plötzlich weiße Bettlaken mit irgendwelchen Schriftzeichen.

Vor dem Haus der großen chinesischen Import- und Exportverwaltung, wo auch meine drei Begleiterinnen arbeiteten, war eine große Gruppe aufgeregter Menschen.
Ich sah nach oben, ich wusste, in welchem Stockwerk meine chinesischen Freunde arbeiteten, und jetzt sah ich, dass auch dort aus zwei Fenstern große weiße Bettlaken mit irgendwelchen Parolen in chinesischen Schriftzeichen aus dem Fenster hängen.
Ich war total perplex.

Irgendwann später an diesem Vormittag traf ich dann zwei der Damen und sie erklärten mir total erregt und erfreut, dass jetzt eine andere Zeit anbrechen würde.
Die Zeit der permanenten Kontrolle, der permanenten Unterdrückung und der absoluten Allmacht der Partei würde jetzt aufhören.
Man überschlug sich mit Sätzen, die alle das Negative der bisherigen Regierung und Verwaltung hervorhoben.

Es gab noch keinen einzigen Satz über irgendwelche Zukunftspläne. Dazu war die ganze Situation noch viel zu aufgewühlt.
Ich hatte mir im Leben nicht vorstellen können, dass meine drei ruhigen Damen plötzlich dermaßen vom Gefühl einer kommenden Freiheit überwältigt waren.
und dass sie insgeheim wohl schon seit sehr langer Zeit darauf hofften, genau wie Millionen anderer Chinesen.

Und jetzt war durch irgendjemand, der die Wandzeitungen geschrieben und an die Mauer geklebt hatte, diese Revolution losgebrochen.
Wir fuhren dann mit einem Taxi zusammen zum großen Platz und sahen, dass dort inzwischen schon viele Zelte aufgebaut waren.

Alle Chinesen, und die allermeisten davon jünger als vielleicht 40, diskutierten miteinander.
Da ich kein Wort dieser Diskussion verstand, und weil bei diesen ganzen Diskussionen ein bisher völlig unbekanntes Temperament der Chinesen an den Tag gelegt wurde, war es mir nicht klar, ob es sich um eine Diskussion mit für und wider handelte oder um einen gemeinsamen Freudenausbruch, der entsprechend beredet und gefeiert wurde.

In dem Hotel gab es einen abgetrennten und streng bewachten Raum für Ausländer, wo Telefon, Telex, Fax und TV für Ausländer installiert waren.
Dort konnte man Fernsehsender aus Hongkong empfangen und mit etwas Glück sogar CNN aus irgendwelchen Metropolen Asiens.
Die Weltöffentlichkeit war verblüfft.

Niemand hatte damit gerechnet und es gab keine wirkliche Erklärung für all das, was in den letzten zwei Tagen hier in Peking passierte.
Es gab aber jede Menge warnende Stimmen, die Bezug nahmen auf frühere Ereignisse der gleichen Art.

Angefangen vom Volksaufstand in Berlin über die Volksaufstände in Ungarn und der Tschechei bis hin nach Chile – alles wurde als Beispiel herangezogen.
Und da in jedem dieser geschichtlichen Ereignisse die Regierung und damit praktisch entweder die Kommunisten oder die Ultrarechten gewonnen hatten, war die Befürchtung groß, dass es hier in Peking irgendwann – und wahrscheinlich sogar sehr bald – ähnlich enden würde.
Meine drei Damen sagten, sie würden jetzt nicht mehr zur Arbeit gehen, sondern nur noch demonstrieren und mit ihren Familien, Freunden und Bekannten diese Situation feiern und für diesen Sieg kämpfen.
Am nächsten Tag flog man Sohn zurück nach Deutschland.
Das war schon lange vorher gebucht und hatte mit den aktuellen Zuständen in Peking nichts zu tun.

Ich bin danach alleine auf den Tianmenplatz gegangen.
Auch ein bisschen aus der Furcht heraus, dass meine chinesischen Begleiterinnen eventuell Unannehmlichkeiten haben könnten, wenn sie von der Geheimpolizei zusammen mit einem Europäer auf diesem Demonstrationsplatz gesehen werden sollten.
Ich schätzte, über die Hälfte der jungen Chinesen, die in den verschiedenen Zelten saßen und auf Pritschen oder provisorischen Betten lagen, waren Studenten.
Viele sprachen gut Englisch, und ich konnte an diesem Nachmittag endlich herausfinden, warum der Protest der Studenten so erfolgreich auf diesem Platz war.
Es gab eine Erklärung dafür, die so typisch chinesisch war, dass sie wohl keinem ausländischen Streikplaner eingefallen wäre.

Der Mittelpunkt des normalen chinesischen Lebens ist das Essen.
Es wird, wenn irgend möglich, dreimal am Tag gegessen.
Jedes Mal mit einfachen und sehr einfachen Mitteln.
Aber jedes Mal auch mit zwei oder drei verschiedenen Gerichten, die mit wenigen Handgriffen zubereitet werden konnten.

Ich weiß nicht, woher die Tradition dieses bewussten Essens in China kommt.
Aber ich habe in all den Jahren gesehen, dass das tägliche gemeinsame Essen wirklich der Mittelpunkt jeder Familie ist.
Und weil jedem Chinesen dieses Essen so wirklich wichtig ist, war die Grundidee der Studenten auf dem Platz ganz einfach:
Sie legten sich in ihren kleinen weißen Zelten auf eine Pritsche oder ein provisorisches kleines Bett und begannen einen Hungerstreik.
Ich weiß nicht mal, ob es im Chinesischen eine Übersetzung des Wortes Hungerstreik gibt.
Ich könnte mir vorstellen, dass so ein Hungerstreck erst mit vielen Worten umschrieben werden müsste.

Das Wort Demokratie gab es mit Sicherheit in China.
Es wurde aber jahrzehntelang genauso von den Machthabern missbraucht wie von allen Machthabern, die ihr Land in irgendeiner Form demokratisch nannten.
Angefangen von der Demokratischen Republik Kongo über die Deutsche Demokratische Republik, demokratisches Nordkorea und viele andere Länder, die dieses Wort in ihrer Landesbezeichnung hatten – es waren und sind die undemokratischen Länder der Welt.
Und die offizielle Bezeichnung für China war und ist ebenfalls mit dem Wort demokratisch in der Landesbezeichnung.

Genauso wenig, wie irgendeines dieser Länder wirklich nach westlichen Vorstellungen in irgendeiner Form demokratisch ist, so hat auch der Bewohner eines Landes, welches das Wort demokratisch in seiner Landesbezeichnung hat, mit Sicherheit noch nie eine einigermaßen korrekte Definition des Wortes Demokratie gehört oder gelesen.
Die Studenten auf dem Firmenplatz aber wussten, was eine Demokratie ist oder in Ihrem Fall sein würde.

Ihre Forderung war deswegen reduziert auf das eine Wort: Demokratie.
Und jetzt schloss sich der Kreis:
Die normalen Chinesen, die gerade zum ersten Mal in den Wandzeichnungen dieses Wort gelesen hatten, konnten mit dem Begriff einer Demokratie überhaupt nichts anfangen.
Aber sie sahen, dass andere Menschen – und hier besonders viele junge Chinesen – plötzlich etwas taten, was so radikal war, dass sie es kaum glauben konnten.
Sie verzichteten auf jede Nahrungsaufnahme, auf jedes Essen.
Ein Hungerstreik für Demokratie, das war der geniale Zusammenschluss zweier Begriffe, mit denen die jungen Leute sofort die Aufmerksamkeit und auch die positive Zustimmung erreichen konnten.

Ich hatte an dem Nachmittag so oft immer wieder das Gleiche gehört:
– Wir haben zwar keine Ahnung, um was es hier eigentlich geht.
Aber wenn jemand auf sein Essen verzichtet, dann muss es wirklich etwas ganz Besonderes sein.
Und das möchte ich unterstützen.
Ich habe diesen Zusammenhang später an verschiedener Stelle in Deutschland und Europa erklärt und gemerkt, dass bei all den Journalisten und den ganzen Teams, die über China berichteten, dieser Zusammenhang überhaupt nicht bekannt oder erkannt war.

Später am Abend kamen die Panzer.
Sie ratterten die breite Allee runter, direkt vorbei an unserem Hotel.
Aus einem dieser Hotelzimmer ist dann das weltberühmte Foto gemacht worden, wo ein einzelner junger Chinese sich vor einen riesigen Panzer stellt, um ihn am Weiterfahren zu hindern.

Ich selber habe diese Situation nicht erlebt, aber mit angesehen, wie eine nicht enden wollende Anzahl von Panzern an diesem Nachmittag über diese Hauptstraße fuhren und von dort aus dann nach ganz Peking hinein.

Zwei Tage später war der Aufstand zusammengebrochen.
Es gab Massenverhaftungen, Todesurteile und genau wie bei allen früheren Aufständen all das Schlimme und Entsetzliche, was bei jedem misslungenen Aufstand passiert.
Die Unbarmherzigkeit der Machthaber war hier an diesem Datum genauso brutal wie an den früheren Aufständen, die ich im Laufe meines Lebens miterlebt habe und die meinen Zorn gegen jede Art von Gewalt jedes Mal etwas größer werden ließen.

Montag, 10. Mai 2022

Vor gut zwei Monaten, 24. Februar 2022, war die russische Armee auf das Staatsgebiet der Ukraine einmarschiert.
Es bestand die Gefahr, dass die Hauptstadt Kiew innerhalb weniger Tage erobert werden würde, was wohl das Ende der Ukraine als souveräner Staat bedeutet hätte.
Die Ukraine erlaubte daraufhin ihren Frauen zusammen mit ihren Kindern die Flucht aus der Ukraine hin in westliche Staaten, hauptsächlich nach Polen, Rumänien, Österreich und Deutschland.

Die Männer wurden verpflichtet, gegen die Russen zu kämpfen und es begann ein Krieg, der bis heute andauert.
Gleichzeitig ergoss sich ein Strom von Millionen von Frauen, die entweder alleine oder mit ihren Müttern oder den Kindern nach Westen flohen.

Die Solidarität in ganz Westeuropa mit diesen Frauen war überwältigend.
Es wurde geholfen, wo immer man konnte, und auch in Deutschland fanden mehr als eine Millionen Ukrainerinnen eine temporäre neue Heimat.
Sie erklärten praktisch übereinstimmend, dass sie nach Ende des Krieges wieder in die Ukraine in ihre Städte, Dörfer und Wohnungen zurückkehren wollten.
Ich selber war zu diesem Zeitpunkt in unserer Wohnung in Punta Cana in der Dom Rap.
Zuhause in Witzhave hatte unser jüngster Sohn Jan inzwischen eine Art Hausmeisterfunktion übernommen. Er kümmerte sich um alles, was mit Haus, Garten, Reparaturen und sonstigen Sachen zu tun hatte, die auf einem großen Grundstück von über 5000 m2 täglich anfielen.
Ich hatte den Wunsch, auch von meiner Seite den ukrainischen Flüchtlingen im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen.

Da dies aber von der technischen Durchführung her nur in Deutschland möglich war, fragte ich Jan, ob er bereit wäre, sich um die Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie oder eines einzelnen Flüchtlings zu kümmern.

Er sagte zu.
Es gab danach verschiedene Gespräche mit den zuständigen Behörden in dem für uns maßgebenden Ortsamt in Trittau.
Es wurde von dort jemand geschickt, um sich anzusehen, wie die Unterkunftsmöglichkeiten bei uns waren.
Da alles von unserer Seite problemlos war, erhielten wir kurze Zeit später die Mitteilung, dass man uns eine alleinstehende ältere Frau zuteilen würde.
Sie kam aus einem Gebiet, das zurzeit sehr stark umkämpft war, und sie hoffte genau wie alle anderen schnellstmöglich wieder in ihre Heimat zurückgehen zu können.
Und was danach geschah, hat mich so empört, frustriert und wütend gemacht wie kaum eine andere Sache in meinem sehr facettenreichen Leben.
Diese alte Ukrainerin wurde wenige Tage nach ihrer Ankunft von meiner eigenen Tochter von unserem Grundstück wieder rausgeschmissen.
Mit Begründungen, die so absurd waren, dass ich sie hier nicht wiedergeben möchte.
Es lief darauf hinaus, so ein Flüchtling würde das Leben auf dem Grundstück nur verkomplizieren, beeinträchtigen und schwierig machen – das waren noch die höflichen Formulierungen.

Der Flüchtling wurde dann von ihr schriftlich aufgefordert, innerhalb von zwei Tagen das Grundstück zu verlassen.
Es gab daraufhin Telefonate und Besprechungen, über die ich unterrichtet wurde, aber im Endeffekt war es wie bei all den anderen politischen Entscheidungen, die ich in meinem Leben erlebt hatte – die Macht und die Gewalt siegten.
Hier nicht in einem anonymen Staatsapart, sondern in der eigenen Familie.
Die Menschlichkeit, die Toleranz und das Mitgefühl spielten keine Rolle mehr.
Es waren Momente, die ich mir nie hätte träumen lassen.
Der ältere Bruder meiner Tochter stellte sich spontan auf ihre Seite.
Er unternahm kein einziges Gespräch oder Telefonat, um sich von der Wirklichkeit zu überzeugen.
Er sagte einfach, er hätte mit seiner Schwester gesprochen und das würde ihm reichen.
Mir reichte es dann auch.

Ich habe von diesem Moment an innerlich meine Verbindung zu diesen beiden Menschen, die inzwischen auch weit über fünfzig Jahre alt waren, abgebrochen und mich im Grunde genommen nur noch geschämt.
Wenn zwei Menschen in jungen Jahren aus einer chilenischen Diktatur entkommen konnten, dann sollten sie sich dessen bewusst sein.
Wenn Sie in Deutschland eine neue Heimat in Wohlstand und Sicherheit fanden, so sollten Sie dieses nicht vergessen.
Wenn Sie Ihre Position aber dazu ausnutzen, um anderen Menschen, denen es aufgrund Flucht und Vertreibung sehr schlecht geht – wenn Sie diesen Menschen dann noch bewusst spüren lassen, dass sie die Herrscher und die Mächtigen sind und die andern diejenigen, die sehen sollen, wie sie zurechtkommen – dann ist all das, was ich in meinem Leben an politischer und persönlicher Unterdrückung gesehen und erlebt habe, nur noch ein Grund mehr, hier die Reißleine zu ziehen.

Der Kapitän

Herr Seemann nahm das letzte Blatt seines Vortrags in die Hand, drehte es um und legte es auf den kleinen Haufen der anderen Blätter, die er der kleinen Gesellschaft in den letzten 15 Minuten vorgelesen hatte.
Dann wandte er sich an die kleine Gruppe von Menschen, die in der Mitte seines Kutters auf zwei Bänken und einigen Stühlen saßen.
Und die ihm zuerst etwas fragend, dann interessiert und zum Schluss ziemlich betroffen zugehört hatten.
Herr Seemann sah die kleine Gruppe an und schloss seine Rede mit zwei Sätzen:
Als Kapitän dieses Schiffes werde ich jetzt die Asche des Verstorbenen dorthin verbringen, wo eines seiner Lieblingssorte war – ins Meer.
Ihr habt gesehen, dass es hier an Bord in der Mitte der ersten Reihe dieser kleinen Trauergesellschaft einen Zwischenraum gibt, der weder durch Stühle noch durch Personen geschlossen wurde.
Die beiden Personen, die hier normalerweise ihren Platz gehabt hätten, sind auf Wunsch desjenigen, der all das aufgeschrieben hat, was ich euch vorgelesen habe, nicht anwesend.
Der Zwischenraum ist leer geblieben.
Es sagte mir, als er mir die Zettel gab:
Vielleicht sieht man sich irgendwann irgendwo einmal wieder.
Wahrscheinlich aber nicht.
Und damit kann ich leben, und jetzt auch sterben.

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